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- Category: Stadt & Leute
- Published: 08 March 2011
Die Neuner-Verfassung, ein nachgeborenes Kind der Revolutionsjahre, den Konservativen zu revolutionär und den Revolutionären zu konservativ, ist mit Majorität von den Kirchspielen der Bürgerschaft angenommen worden, und da sich die Hamburger Souveränität, die bei dem Senat und der Bürgerschaft zusammen ist, für dieselbe ausgesprochen, so ist sie gerade nach der alten Hamburger Verfassung und ihren Recessen akzeptiert. Das wäre nun ein ruhiger Entwicklungsgang, der mit einer Krisis nichts gemein hätte. Um ihn dazu zu machen, ist eine neue dramatis persona nötig. Als solche introducirt sich der Bundestag, welcher, die Wiener Schlussakte in der Hand, den Hamburgern beweist, dass sie gar nicht das Recht haben, so ohne Weiteres ihre alte Verfassung umzuändern, welche der Bund garantiert hat; dass jede derartige Neuerung in Widerspruch tritt mit dem Geist, den der Bundestag wie einen heiligen Gral zu behüten hat, mit dem unbedingten Respekt vor dem ehrwürdig Hergebrachten; dass endlich Hamburg seine partikularen Interessen dem allgemeinen Wohl unterordnen muss, das natürlich mit dem Bundestag identisch ist. So fliegt ein Rescript nach dem andern wie eine Friedenstaube aus dieser deutschen Arche, die sich nach so vielen Stürmen ruhig auf dem Ararat in Frankfurt niedergelassen hat. Sie behauptet sich nach der Sündflut, und dreht das alte Sprichwort après nous le déluge gänzlich um. Es handelt sich hier um eins der wichtigsten Probleme des Bundesstaatsrechts, um die Frage, inwieweit der Bund in die Verfassungsfragen der Einzelnstaaten eingreifen darf, noch mehr aber, inwieweit die durchaus eigentümliche Verfassung der Republik Hamburg unter eine allgemeine bundestägliche Norm passt. Die Gegner aller zentralisierenden Hebelgriffe, d. h. eben die Kreuzzeitungspartei, müssten ohne Frage hier auf Seiten Hamburgs stehen. Oder ist das organische Wachstum des Staats, die Theorie der Staats-Botaniker und -Physiologen, ihnen nichts als eine Phrase? Hier ist doch in der Tat die friedlichste organische Entwicklung von der Welt; die Staatsgewalt entscheidet sich mit großer Übereinstimmung für die Reform. Oder weiß man in Frankfurt besser, was den Hamburgern Not tut als hier? Das steht zwar fest, dass der Bundestagsbeschluss vom 25. Juni 1852 in seinem dritten Artikel die Einschränkung enthält, dass die innere Gesetzgebung eines Bundesstaates nicht mit dem Zweck des Bundes oder den bundesverfassungsmäßigen Verpflichtungen der Regierung im Widerspruche stehen darf. Das nachzuweisen, dürfte indes dem Bundestag in der Hamburger Verfassungs-Angelegenheit auch schwer fallen, um so mehr, als sich dieser Artikel vorzüglich auf die landständischen Rechte bezieht, deren Begrenzung auch im 57. Artikel der Wiener Schlussakte normiert ist.
Trotz dieser Verfassungs- Krisis befindet man sich in Hamburg komfortabel und genießt das Leben nach echt Horazischen Grundsätzen. Der Materialismus hat hier einen großartigen Zuschnitt. Es ist nicht das ordinäre „Kneipen“ und „Commerschiren“; es sind nicht die „stöhnenden“ Tafeln der Provinzial-Vielfraße: es sind lukullische Gastmähler mit den Leckereien aller Zonen, Gastmähler mit einem kosmopolitischen Horizont. Dabei ist die Hamburger Verdauung vortrefflich. Man verdaut hier Alles, Magnetismus und Mesmerismus, den Anti-Schnaps-Fanatismus, den Dr. Dow und den Baron von Seld, nebst einem Dutzend erster Liebhaberinnen und Tenore; man hat auch die preußische und die österreichische Einquartierung verdaut, und selbst ein bundestägliches Ungewitter stört die Verdauung nicht. Es herrscht hier eine so süße Gewohnheit des Daseins und Wirkens, eine so harmlose Freude an der eigenen Existenz, dass schon ein gewaltiges Schicksals-Ungetüm, wie etwa vor Zeiten der große Brand [1842], dazu gehört, um einen Schatten in die klare Flut zu werfen. Das Phlegma nimmt in der ganzen Welt überhand, und das Temperament Hamburgs ist von Hause aus das phlegmatische. Das ist bezeichnend, dass sich hier die Passion des Angelns von Tag zu Tag weiter verbreitet. Überall unter den stillen Schatten am Ufer der Außenalster, in dieser verschwiegenen Sommeridylle, durch welche nur die Schwäne und die Segel schimmernd ziehen, sitzen die Hohenpriester dieses friedlichen Naturgenusses, mit der Starrheit der Pagoden, mit der Unbeweglichkeit des Derwisches, der Monatelang den Finger in die Luft hält, in der Hand die verhängnisvolle Angelrute und üben in dieser harmlosen Stille tückischen Mord. Dass man auch mit Grazie angeln kann, hat Fanny Cerito bewiesen, die nach den enthusiastischen Wirbeln ihres Göttertanzes ebenfalls stundenlang diesem schattigen dolce far-niente hingab. Sie schien selbst, als lockende Nymphe, der Flut entstiegen, so verführerisch hinabgeneigt, dass mancher arme Fisch an ihrer Angel anbiss. Die angelnden Ceritos sind indes in Hamburg selten, wenngleich das Angelfieber unter den Hamburger Künstlern besonders grassiert. Der Hamburger angelt nicht bloß in der Alster, er angelt im Weltmeer und an überseeischen Küsten; das Angeln ist das echte Symbol des Hamburger Wirkens. Mit der Ruhe des Anglers wird ein Glück nach dem andern eingefangen, bis sich der schimmernde Schatz im Hause häuft. Du friedliches Alster-Venedig ohne Bleikammern und Seufzerbrücken — segne der Himmel deine Zwei- und Dreimaster, so zu Rio de Janeiro wie zu Kanton, im atlantischen und stillen Ozean, und deine Robbenflotte kehre nie wieder so leer zurück wie das letzte Mal!
Die Elbe und die Alster sind von charakteristischer Bedeutung für Hamburg; sie spiegeln und repräsentieren die beiden Hauptseiten des Hamburger Lebens. Die Elbe spiegelt das Werktags-, die Alster das Sonntags-Hamburg; die Elbe die Arbeit, die Alster den Genuss; die Elbe die nach fernen Weltteilen tastenden Fühlhörner, die Alster das komfortable Schneckenhaus. Die Elbe ist kosmopolitisch, die Alster idyllisch; die Elbe fleißig, die Alster träge. Der Blick auf Hamburg von der Lombardsbrücke wie der vom Stintfang fassen nach diesen beiden Seiten hin die Quintessenz des Hamburger Lebens zusammen und gehören außerdem zu den schönsten Städte-Ansichten, welche in Deutschland, vielleicht in Europa zu finden sind. Von der Lombardsbrücke aus sieht man hinter dem blitzenden Spiegel der Binnenalster die drei Häuserfronten der Jungfernstiege und des Alsterdammes, imposant und majestätisch, in allem Reiz einer wechselnden Architektonik. Dies ist das Hamburg des Genusses und des Luxus. Die Massen, die allabendlich bei der feenhaften Beleuchtung des Mondscheins, der sich behaglich breit auf dem Flutenbette dehnt, auf den Jungfernstiegen wallfahrten, sind nur Genießende, die Hamburger Corsoläufer, die eleganten, komfortabeln Lebemänner oder die Arbeiter, die nach vollbrachtem Tagewerk hier „flanieren.“ Da tönt Ruderschlag und lustiger Gesang von dem abendlichen Wassercorso der Alster herauf; der Schein der Schwäne mischt sich über die Flut hinschwebend mit dem breit hingegossenen Streifen des Mondlichts; aus dem Alsterpavillon und der Walhalla erschallt die sich durchkreuzende Musik, während der Mühlenpavillon, über dem die Windmühle die Flügel schlägt, mit dem bunten Lichterspiel seiner Illuminationen die südlich berauschte Nacht erhellt und fern vom Uhlenhorst, über die dunkel trauernde Außenalster hin ein einsames Feuerwerk Raketen sprüht. Hier ist Alles Genuss, Lebenspoesie, frisches Behagen, hanseatischer Glanz; hier ist das imponierende, gastfreie, luxuriöse Hamburg; hier ist der Sonntagsrock, die weiße Weste, die lackierten Stiefel. Ganz anders nach der Elbe hin! Dort ist das Hamburg mit den aufgestreiften Hemdsärmeln, das Hamburg mit der Feder hinter dem Ohr. Auf den Stintfang muss man an einem frischen, ruhigen Morgen gehen, wenn ein günstiger Fahrwind die Segel schwellt, wenn die Arbeit ihr lustiges Morgenlied singt und die Elbe, gleichsam froh das schmucke, aber kleinbürgerliche Sachsen und die preußischen Festungen zu verlassen, blitzend dem freien Meer entgegenrauscht. Hier ist der Revers der Münze, in seiner Art nicht weniger interessant. Dicht gedrängt, mit übereinander getürmten Giebeln, dampfenden Schornsteinen, liegt hier die Hafenstadt, aus deren engen Gassen der Lärm der Arbeit hervorbraust. Hier ächzen die Kräne, hier tönt befeuernder Zuruf ziehender, schleppender, hebender Arbeiter; hier in die Luken der grauen Speicher wird die angekommene Ware emporgewunden. Unheimlich steht diese Speicherphalanx die Kanäle und Fleete entlang, eine Reihe einäugiger Zyklopen, düstere Wächter der Handelsschätze. Über die Quais am Hafen selbst drängt sich ein polterndes Leben; der vornehme Müßiggänger wird bei Seite geschoben; hier gilt nur Fleiß, Arbeit, Erwerb. Die Schiffe mit den Flaggen und Fahnen aller Nationen weisen nach fernen Weltteilen hinaus — hier ist, allen idealistischen Schwärmereien gegenüber, die Realität des Kosmopolitismus, zunächst eine Verbrüderung der Völker zum Zweck des Praktischen Nutzens, deren notwendige Konsequenz der geistige Weltverkehr ist. Neben den lustigen Dampfern stehen die melancholischen Auswanderungsschiffe, an deren Nord so manche tüchtige Kraft, so mancher lebendige Geist und braver Sinn dem Vaterlande entführt wird — eine trostlose Kritik unserer Zustände!
Der Magnetiseur Dr. Dow, ein Nordamerikaner, der seine Wissenschaft theoretisch und praktisch unter dem Namen der Electro-Biology vortrug, hatte hier wenig Glück mit seinen Experimenten, vermutlich weil in dem festen Naturell der Hamburger und ihrer auf tüchtiger materieller Basis ruhenden Willenskraft zu wenig Handhaben für einen fremden übergreifenden Willen zu finden sind. Dennoch haben die Leistungen des Dr. Dow hier in weitesten Kreisen das Interesse am animalischen Magnetismus wachgerufen, und wenn es sich auch meistens in oppositioneller Weise ausspricht, so dürfte die eingehende wissenschaftliche Beschäftigung damit doch zu unverhofften Resultaten führen. Die medizinische Orthodoxie, welche die Existenz des animalischen Magnetismus als einer eigentümlichen Naturkraft durchaus in Abrede stellt, würde durch selbständige und unparteiische Studien gewiss zu der entgegengesetzten Überzeugung kommen. Ein größeres Publikum, als Dr. Dow, versammelt jetzt der Mäßigkeilsapostel Baron von Seld, da die Wirkungen des Branntweins populärer und handgreiflicher sind als die des Magnetismus, und keine skeptischen Fragezeichen erlauben. Diese Art der inneren Mission, die einst Witt von Dürring als letzten Niederschlag aus seinen burschenschaftlichen Gährungen und Schäumungen übrig behalten und mit der er vergeblich, gegen die oberschlesischen Branntweinbrennereien ankämpfte, hat etwas Menschenfreundliches, was man sich gefallen lassen kann, wenn sie auch im Grunde unpraktisch ist und dem Proletariat den letzten Nektar fortnimmt, der bei mäßigem Genuss nur zu seiner Stärkung gereicht. Unser Anti-Schnapsmann entwickelt indes große weltmännische Gewandtheit, die sich im Interesse der Sache jedem Publikum anschmiegt, hier in Hamburg also namentlich einen seemännisch-derben Humor, der sich jeder pietistischen Zugluft aus dem „Rauhen Hause“ fernhält. Der Pietismus findet auch in Hamburg, wenngleich karg zugemessenen Boden; sein Regenwasser sickert zum Teil durch die oberen Schichten unserer Gesellschaft. Aber der Kern aller Stände hält sich hier durch gesunde praktische Tüchtigkeit frei von kranker Gefühlsschwelgerei. Die himmelnde Menschheitsbeglückung ist hier nicht wie in andern Städten, z. B. in Berlin Mode, wo sie nur eine neue Metamorphose des proteusartigen Salongeistes ist, der bald in ästhetischen Tees, bald in pietistischen Conventikeln Befriedigung seiner überreizten Gelüste sucht. Noch weniger Anklang findet der Katholizismus, der uns hier einen Bischofssitz zugedacht hat. Hamburg ist eine stocklutherische Stadt, selbst die städtischen Institutionen, wie z. B. die Oberalten, in unserer Verfassung und Verwaltung ein so wichtiges Moment, sind nur eine Fortbildung der ersten protestantischen Einrichtungen und kirchlichen Ämter. Die jesuitischen Glaubenspriester, die in dem protestantischen Preußen einen so heftigen Angriff auf die Grundpfeiler des Luthertums machten, dass zuerst die Generalsuperintendenten und zuletzt die Regierung selbst eine Abwehr für nötig hielten, würden hier für ihre dick aufgepinselten Höllenfabeln wenig gläubige Ohren finden; der Horizont und die Perspektiven des Handels sind hier viel zu weit, als dass man uns die Welt mit jenen Brettern vernageln könnte, hinter denen der binnenländische Aberglaube behaglich wiederkäuend auf der Mast liegt.