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- Category: Stadt & Leute
- Published: 24 February 2011
Mit einer solchen Vergangenheit, gut theologisch gebildet, aber arm und voll Schulden kam Rüsau nach Hamburg und wurde Kandidat des Ministeriums. Auch jetzt war das Glück ihm noch nicht hold. Er nährte sich durch Unterrichtgeben, verdiente aber wenig damit. Seine anhaltende Armut lehrte ihn den eigentlichen Wert des Geldes kennen, und seine gewohnte Häuslichkeit und Sparsamkeit gingen nach und nach in Geiz über, doch artete dieser nicht so weit aus, dass ihm darüber die allgemeine Achtung entzogen wurde. Unter den Häusern, in denen Rüsau Unterricht gab, befand sich auch die Schule der Madame Zier. Hier lernte er die Unterlehrerin Elisabeth Pätau kennen, welche im Jahre 1785 die Schule übernahm. Rüsau war nicht ganz jung mehr, im Jahre 1751 geboren, sehnte er sich schon nach einem festeren, bestimmteren Lebensverhältnis, deshalb trug er diesem Mädchen, das ihn wirklich liebte, seine Hand an, während er sich durch diese Heirat vor allen Dingen eine sorgenfreie Lage zu sichern suchte. Beide arbeiteten und wirkten nun gemeinschaftlich für ihr Institut und Rüsau sah, wie auch ihm, dem Familienvater, das Glück endlich zu lächeln anfing. Von seinen früheren Zuständen und Verhältnissen war ihm jedoch ein Hang zur Melancholie übrig geblieben, der von Zeit zu Zeit wieder hervortrat, oft gerade und plötzlich, wenn er die größte Ursache hatte, recht heiter zu sein. Diese melancholischen Qualen vermehrten sich, als die Schule zu sinken anfing, teils durch die ungünstigen Zeitverhältnisse, teils aber auch durch die eigene Schuld. Rüsaus Geiz nahm dermaßen Überhand, dass er krank wurde, sobald eine Rechnung zur Bezahlung eingereicht wurde.
Bei der Schule konnte Rüsau nicht mehr bestehen, er gab sie deshalb auf, und etablierte Johannis 1802 mit dem Kaufmann Kunst eine Manufakturwaren-Handlung. Auch dieses Geschäft widerte ihn bald an, da es nicht den erwünschten Vorteil brachte; Rüsau wurde immer ernster, zurückgezogener in seinem Gemüt, er erwog unaufhörlich die Zeitumstände und seine Lage und erblickte in Allem nur die schwärzeste Zukunft. Man hat diese seine Sorge für die Zukunft sinnlos, ja geradezu schon wahnsinnig genannt, man hat seinem strengen und schweigsamen Charakter besonders vorgeworfen, dass er allen Lebensfreuden gram und feind gewesen sei, allein gewiss mit Unrecht. Die Grundlage von Rüsaus Melancholie war gewiss ein tiefes religiöses Gefühl, welches dem Knaben eingepflanzt, worin der Jüngling durch seine Studien in der Armut bestärkt worden war. Übertriebene Melancholie kann ich Rüsau’n nicht Schuld geben; seine Gesinnung stach gar zu grell ab mit der jener frivolen Revolutionszeit.
Man sagt, er betrachtete den jugendlichen Frohsinn seiner Tochter als den Anfang der Schande und des Lasters; wer sagt uns, dass dieser unter einer anderen Beschaffenheit der öffentlichen Meinung nicht offenbarer Leichtsinn würde genannt worden sein? Es soll nicht zu glauben sein, dass die Mutter der Tochter ein Übermaß des Vergnügens gestattet habe, und wundert sich, dass Rüsau es scharf gerügt habe, als seine Tochter, freilich mit Bewilligung der Mutter, eine Nacht außer dem Hause, auf einem Garten zubrachte? Rüsau und sein Verbrechen klagen die Zeit und ihre Ansichten an, sie beschwüren den Dämon der Vergeltung über ihn selbst herauf. Rüsaus Charakter erhält erst durch den Geist der Zeit sein volles Licht, und, weil das Geschlecht so viel von dem allgemeinen Leichtsinn zu tragen, weil die Grundsätze der Encyclopädisten jeden christlichen Sinn, und besonders in dem zuerst und am meisten angesteckten Hamburg aus dem Leben verbannt hatten, deshalb klang die Tat Rüsaus so lange, wie ein Echo der Gewissensbisse in den Herzen wieder und die Mütter segneten sich im stillen Schauder vor der Tat, wie vor der Zeit!
All' das Angedeutete muss man zusammennehmen, um zu begreifen, was in Rüsaus Seele vorging, seine Tat kann nicht nach dem Recht, oder dem religiösen Glauben, sondern nur nach dem Charakter der Zeit beurteilt und gerichtet werden, und wer sich dann aus jener Periode ohne Schuld fühlt, wer sich rein weiß von allen gallischen Einflüssen, der werfe, den ersten Stein auf ihn! Rüsau war kein gewöhnlicher Mörder, der mit der Sitte und dem Gesetz zerfallen ist, es herrschte in seinem Gemüte ein Kampf zwischen Ansichten und Ansichten, zwischen Zeit und Zeit, und — er erlag.
Rüsau war am 14. August 1803 mit seiner ganzen Familie bei seiner Schwiegermutter; er war, mehr noch wie gewöhnlich, einsilbig, still und verschlossen. Bei Tische entschlüpften ihm die Worte: „Nun sollt ,ihr bald Alle glücklich sein,“ auf welche seine Frau ihm zur Antwort gab: „Was sollte ich noch glücklicher werden können, ich liebe Dich und unsere Kinder, wir sind gesund und haben keine Nahrungssorgen (?). Also war es dies doch wohl nicht, warum Rüsau so mit der Welt in Disharmonie geraten war, so gab es doch wohl eine tiefere Ursache, die man, von dem Zeitgeist dahingezogen, nur nicht bemerken konnte und wollte? Ich wiederhole dies, weil ich über Rüsau von jeher mir eine andere Ansicht gebildet habe, weil ich ihn immer als einen Märtyrer sittlicher Wahrheit betrachtet habe. Ich will damit keine Ehrenrettung geben, sondern nur eine praktische Schilderung der Verhältnisse.
Gegen Abend kehrte die Rüsausche Familie nach Hause zurück. Alle begaben sich zur Ruhe, nur — Er nicht. Die aufgehende Sonne fand ihn noch wachend. Schnell erhob er sich Morgens vier Uhr, opferte zuerst seine Gattin und dann seinen liebsten Sohn. Kein Laut entschlüpfte den sterbenden Lippen. Ruhig konnte Rüsau zu seiner Tochter hinaufgehen, und an ihr ebenfalls das schauderhafte Werk vollenden. Dann folgten die beiden jüngsten Töchter von drei und sieben Jahren. Die zweite Tochter schlief noch wieder in einem höheren Zimmer unter mehreren Kostgängerinnen, sie allein musste auch unter diesen fallen!
Rüsau hatte noch so viel Besinnung, dass er mit schwacher Stimme das Dienstmädchen weckte, ihr zu sagen, dass er ausginge. Er eilte zum Deichtore hinaus, sich zu ertrinken, aber die Straße war schon belebt. Er eilte nach der Alster, aber ihr Stand war so niedrig, dass er, nunmehr auch wohl ohne gehörige Besinnungskraft, seine Absicht nicht erreichte. Er raffte sich wieder auf, suchte in seinen Taschen nach einem kleinen Messer, aber keine Wunde wurde tödlich. So blieb er erschöpft liegen, bis ihn am Nachmittage zwei Bürgermeisterdiener fanden, denen er sogleich Alles gestand.
Der sechsfache Mörder wurde von seinem Defensor Dr. Schleiden unter die Kategorie der partiell Wahnsinnigen gebracht, nur der eigentliche Grund blieb unerwähnt. Das Gericht tat nach dem Gesetz, was seine Pflicht war.
Auffallend und ganz im Sinne der obigen Darstellung sind die Worte, welche Rüsau zu einem Bekannten sprach, der ihm bemerkte, Niemand könne seine Tat und deren Ursache ergründen: „Das glaube ich, doch weiß ich Einen, der kennt sie, Gott!“ Gegen einen Andern äußerte Rüsau: „Ich möchte gerne in dem Gedächtnis meiner Mitbürger eine mildere, bessere Meinung zurücklassen.“ Dieser antwortete: „Sorgen Sie nicht, Ihr Name soll noch mit — Ehrfurcht genannt werden.“ Diese Worte wirkten gewaltig auf Rüsau, seine matten Augen strahlten auf und sein ganzes Wesen schien sich zu erheben, heißt es. Seltsam aber tiefsinnig waren auch jene Worte. Ob man sie begreift! — Merkwürdig ist es ebenfalls, dass der Staat, wie ihm zustand, Rüsaus Vermögen nicht einziehen wollte. Der Unglückliche machte mit Ruhe und Besonnenheit sein Testament über ungefähr 12.000 Mark, und mit einem Anflug von Schwärmerei, doch zugleich auch wieder mit einer leisen Andeutung zur Lösung des schauerlichen Rätsels verteilte er unter den Gefangenen etwas — Backwerk, mit den Worten: „Dies ist auf der Welt das Letzte, was ich habe und verschenken darf. Erinnern Sie sich meines Unglücks und sie werden redliche Menschen werden und bleiben!“ —