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Im Herbst 1886 war Lichtwark als Direktor der Kunsthalle nach seiner Vaterstadt zurückgekehrt, die er als einfacher Volksschullehrer verlassen hatte. Nach drangvollen Jahren ernster Arbeit hatte er auf dem Wege über Leipzig in Berlin seinen Doktor phil. gemacht. Als Assistent am Kunstgewerbe-Museum in Berlin nahm er erste Fühlung mit offizieller Kunstpflege. „Aus dem bescheidenen Leipziger Studenten war ein eleganter Weltmann geworden, der mit beiden Füßen in der Berliner Gesellschaft stand und bei einem englischen Schneider arbeiten ließ. Seine Wohnung am Magdeburger Platz füllte sich mit erlesenen Stücken Möbeln in jenem gediegenen, bürgerlichen Rokokostil, der so „modern“ war und an den — vielleicht deshalb — unser hilfloses Kunstgewerbe noch nicht anknüpfte. An den Wänden hingen Radierungen von Schongauer, Dürer und Rembrandt in jenen fein profilierten schmalen schwarzen Rahmen, die man aus Whistlers Bildnissen kennt. Während der Kunstgelehrte gemeinhin sich nur amtlich mit Kunst beschäftigt und außerhalb des Kollegs oder Museums ungern an diese amtliche Beschäftigung erinnert sein will, steckte in Lichtwark ein bisschen von jenen vornehmen Amateurs à la Goncourt, die, da sie nicht durch die Philologie, sondern durch die sinnliche Freude am Schönen zu ihrem „Fach“ geführt wurden, auch das Bedürfnis fühlen, ihre eigene Umgebung zum Kunstwerk zu gestalten."

So berichtet Lichtwarks Leipziger Studiengenosse Richard Muther über die ersten Ansätze in dem Lebensgange des jungen Kunstgelehrten, in der unschwer die Vorzeichen seines späteren Lebensganges als Hamburger Kunstregent wahrzunehmen sind. Es ist bezeichnend, und soll darum auch hier nicht übersehen werden, dass Carl Mönckeberg, der Sohn eines der großen, noch in die neue Zeit hereinragenden Bürgermeister Hamburgs, in einem tiefempfundenen, „Hamburg ohne Lichtwark“ überschriebenen Nachruf dem Entschlafenen die Eigenschaften eines solchen selbstherrlichen Regenten im Reiche der Kunst zuspricht, ohne auch schon in diesem ersten, am Sarge niedergelegten Gedenkblatt, sich das folgende Bekenntnis erlassen zu können:

„Wir feiern in Lichtwark keinen Mann, der niemals geirrt hätte. Die Probleme der Kunst- und der Kulturpolitik, die er zuerst aufgezeigt und an deren Lösung er sich versucht, zwangen ihn zeitweise zu Experimenten und führten zu Fehlschlägen, unter denen die am meisten gelitten haben, denen geholfen werden sollte und die sich seiner Führung anvertraut hatten. Das Verhältnis Lichtwarks zu den einheimischen Künstlern ist um so tragischer, je genauer wir fühlen, daß Lichtwarks Ernst und Eigenschaft eben auf die intensive Pflege des Heimischen gerichtet waren. Dass Lichtwark hier ein Vierteljahrhundert gewirkt hat, mag für dieses oder jenes edle Talent ein vernichtendes Schicksal geworden sein; für das neue Hamburg als eine blühende Großstadt bedeutet es alles in allem eine Fülle von Segen.“

Wüssten wir es nicht aus der unübersehbaren Fülle von Anknüpfungen, die Lichtwark mit der gesamten neuen deutschen Kunst verbunden, daß der Heimgegangene nicht zu jenen Männern gehört, über deren Erdenwallen in einem, unter der Einwirkung der eben erst bekannt gewordenen Nachricht von seinem Tode hingeworfenen Nachruf abschließend gesprochen werden kann, so wäre es in den oben zitierten Sätzen angedeutet. Dem Sämann gleich, der die Saat nur streut, ohne die Ernte zu erleben, ist das Beste vom Werke Lichtwarks erst in der Zukunft zu erwarten. — Das legt die Verpflichtung auf, den einzelnen Stufengängen dieses Werkes in ernster und sichtender Weise nachzugehen, was in gewinnbringender Weise begreiflicherweise nur in ruhigerer Stunde geschehen kann. Hier möge nur noch eine kurze Skizze über die Tätigkeit Lichtwarks als Direktor der Hamburger Kunsthalle folgen. Bis zu seiner Berufung lag die Führung der Geschäfte der Kunsthalle in den Händen einer Kommission und eines Inspektors. Vom ersten Augenblicke seines Amtsantrittes war Lichtwarks Bestreben auf eine Betonung des lokal-hamburgischen und des modernen Standpunktes gerichtet, welchem Ziele er in zahllosen Veröffentlichungen und Vorträgen den Boden zu bereiten suchte. Die in der Zeit ihres Entstehens am weitesten reichenden Altersbesitze der Kunsthalle gehen auf 1400 (Meister Bertram) und Meister Franke (1435) zurück, während von den Modernen alles vertreten ist, was einen Namen besitzt oder Aussicht hat, einen solchen zu erwerben. Persönliche Neigung und gute Kaufgelegenheit ließen Lichtwark sich der Erwerbung von Werken Max Liebermanns und des Grafen L. v. Kalckreuth besonders zuwenden, die denn auch in annähernd gleicher Zahl wie hier in keinem zweiten deutschen Museum anzutreffen sind. Ein hervorragendes Verdienst hat Lichtwark auch um die Wiedererweckung des Interesses an der künstlerischen Plakette erworben. Die meisten Zuwendungen, die der Kunsthalle im Laufe der Lichtwarkschen Amtstätigkeit zugeflossen sind, waren ein sichtbarer Ausdruck des tiefgreifenden geistigen Zusammenhanges, in dem die führenden Kreise Hamburgs sich eins mit dem Leiter ihres vornehmsten Kunstinstituts wussten und der seinen beredtesten Ausdruck in den großen Stiftungen zu künstlerischen Zwecken gefunden hat, die anlässlich des sechzigsten Geburtstages Lichtwarks — im November 1911 — ins Leben gerufen worden sind. Lichtwark hat das einundsechzigste Lebensjahr erst vor kurzem überschritten.