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Das kleine unansehnliche Haus am Gänsemarkt, das ärmlichste Schauspielhaus in Deutschland sah jene Kunst zu der höchsten Blüte emporreifen. Die Zuschauer waren damals bescheiden und genügsam; sie beschwerten sich darüber, dass der Baumeister jenes Hauses, David Fischer, den Bau zu prächtig hingestellt habe; die Freunde der Kunst klagten, dass über die Augenweide das Wesentliche verloren gehe. Wie ganz anders ist das im Laufe der Zeit geworden. Auch Hamburg hat das Vermächtnis Schröders längst aufgegeben; man fühlt sich in dem neuen Schauspielhause am Dammtore kaum an jene Schule erinnert, die lá vérité, toute la vérité, rien que la vérité zum Motto erwählte, die das kleine, enge Theater zur Welt ausdehnte. Die Jünger Schröders sind längst dahin, und wo sie noch wirksam sind, da sind es ohnmächtige Kräfte, oder solche, die der Zeit haben nachgeben müssen, den Dichtern, dem Publikum, den Rezensenten, dem Applaus, den Abgangen. Selbst Friedrich Ludwig Schmidt, der Nachfolger Schröders, der Verfasser der dramaturgischen Aphorismen ist, als Direktor, allen jenen Einflüssen unterlegen. Er hat ausziehen müssen mit den Schröderschen Fragmenten aus dem kleinen, wohnlichen Hause am Gänsemarkte; unter dem 88 Fuß breiten und 71 Fuß tiefen Theater des neuen gigantischen Kunsttempels, dessen Fronte - Eingang übrigens keineswegs in Verhältnis zu dem stolzen Bau steht, liegt das Konversationsstück und mit ihm die letzten Überreste der Schule Schröders begraben. Die Hamburger Direktion ist genötigt worden, dieselben Kunstgriffe in Anwendung zu bringen, wie die übrigen deutschen Bühnen. Die Porte St. Martin ist so wenig von dort abgewiesen worden, wie der Hund des Aubry vom Theater in Weimar; Pfefferrösel hat in Hamburg ihr Jubiläum gefeiert; die Stumme von Portici hat das letzte Andenken an die Einfachheit verwischt. Die Direktion der Hamburger Bühne muss Tag und Nacht, zu ihrer Selbsterhaltung, darauf sinnen, dem hundertköpfigen Ungeheuer neuen Köder vorzuhalten, die erhöheten Tageskosten und die noch höheren Gagen zu erschwingen; Lebrün aber, der Mitdirektor der Hamburger Bühne, lächelt, wenn man ihm von einer deutschen Kunst spricht. Wann wird der Tag der Bühnen-Umwälzung kommen? Ich meine nicht für Hamburg, sondern für Deutschland. Ich glaube, er kann nur mit einer Umwälzung, des sozialen Zustandes eintreten. Wir fühlen uns nicht mehr geneigt, jenes bürgerliche Leben, in dessen Veranschaulichung die deutsche Bühne eigentlich allein nur Meisterhaftes bot, zu goutiren; wir sind dieses häuslichen Jammers, dieses ungestörten Glückes zwischen vier Mauern überdrüssig, jene kleinen pikanten Ingredienzien von spitzbubischen Kammerdienern und schnippischen Zofen sagen uns nicht mehr zu; wir wollen großartigere Interessen auf der Bühne behandelt sehen. Wir befinden uns in der Übergangsperiode, und da man uns nicht bieten darf, wonach wir begierig sind, ein Stück mit dem Sieg der Freiheit, einen Absolutismus im entehrenden Gewande, eine Nationalität, ohne die Achtung der bestehenden Gesetze, so bietet man uns kleine gutgewürzte Surrogate, eine zahme Revolution mit Freiheitsgeschrei, einen Rossini'schen Tell, einen alten Feldherrn, satyrische Allegorien von Raimund, mit Theater-Effekt und Koulissen-Pomp, und wir lassen uns abspeisen und warten auf zukünftige Tage.

Die Hamburger Bühne verdient wegen ihres guten Ensemble Anerkennung. Es sind nicht einzelne vorzügliche Talente, sondern ein lebendiges Zusammenspiel, welches uns überrascht. Direktor Schmidt bemühet sich, wenigstens in dieser Hinsicht dem Hamburger Theater eine Auszeichnung zu verleihen. Rastlos beschäftigt er sich mit den Proben und zwar ganz mit jener Lebendigkeit des Geistes, die ihn zur Seele der Bühne macht. Was auch gegeben wird, es wird als harmonisches Ganze gegeben, und da das Repertoire nun einmal jenes buntscheckige Ansehen der Mode bewahren muss, so ist es zu loben, dass auf Pfefferrösel nicht weniger Fleiß und Mühe verwendet wird, als auf Natan den Weisen. In der Tat, der Ernst, mit welchem in Hamburg die Sache betrieben wird, ist das Lobenswerteste der dortigen Bühne; diesen Ernst findet man — mit Ausnahme Stuttgarts, wo Seydelmann dirigiert, und Düsseldorffs, wo Immermann einen dramatischen Kunst-Hof hält — schwerlich bei irgend einer Bühne Deutschlands angewendet.

F. L. Schmidt und C. Lebrun, die beiden Direktoren der Hamburger Bühne, sind selbst dramatische Schriftsteller. Der Erstere hat das deutsche Theater mit manchen trefflichen Originalien beschenkt; der Zweite hat ihm größtenteils Übersetzungen aus dem Französischen geboten. Schmidts „dramaturgischeAphorismen“ sind ein Leitfaden dem angehenden Schauspieler sowohl, wie dem routinierten. Sie enthalten wertvolle praktische Bemerkungen. Bedenkt man, dass sich Schmidt aus der Trivialität des Lebens, aus niederen Verhältnissen zu seinem jetzigen höheren Standpunkte, ohne fremde Hilfe, auf sich selbst beschränkt, emporgeschwungen hat, so muss man ihm alle Achtung zollen. Als Darsteller ist er in chargierten Rollen, in allen jenen Charakteren, die eine gewisse Manier und den Ministerpli erfordern, wohl zu Hause. Schröders Entusiasmus für die Kunst, der denselben 30.000 Mark bei seiner ersten Direktionsführung zusetzen ließ, scheint freilich Schmidt nicht eigen zu sein; man kann nicht sagen, er habe es sich angelegen sein lassen, die Kunst, auf Kosten seines Geldbeutels, in Schutz zu nehmen, dafür aber hat er es auch zum Schwiegervater eines Hamburger Senators und zu nicht unbedeutender Wohlhabenheit gebracht.

Lebrun ist der erste deutsche Till der Naupachiaden. Ich habe keinen Darsteller dieser Rolle den Grundton des Charakters so fest halten sehen, diesen humoristischen Pedantismus, der sich über sich selbst lustig zu machen scheint, diese lebendige Satyre, die sich selbst über dem Gemälde hält, die causa movens des ganzen Lustspiels. Alles ist scharf und kaustisch an diesem Till; er ist der Schalk, aber nie der Schalksnarr. Nicht weniger Treffliches leistet Lebrun als Bonvivant und in jenen Rollen, die einen natürlichen treuherzigen Humor erfordern. Lebrun müsste nicht Direktor sein, um als Schauspieler die Stufe der Vollendung erreichen zu können. Es ist wirklich zu viel künstlerisches Blut in ihm, als dass er den okonomischen Teil des Theaters begreifen könnte.