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Nicht einmal die endlich aus England erfolgten starken Silbersendungen, in Barren und Münzen, haben eine merkliche Veränderung an unserm gedrückten Geldmarkt hervorbringen können. Von den mannigfachen Vorschlägen zur Abhilfe, wie sie in den öffentlichen Blättern aufgetischt, sind noch keine befolgt, auch waren die wenigsten hierzu praktisch genug. Die Maßregeln der Bank sind als ungenügend befunden worden und so ist denn der hohe Diskontostand — er war bereits 8 Prozent — und der Mangel an Barem noch ziemlich unverändert geblieben. — Überall muss doch Jokus sein schelmisches Spiel haben, selbst bei der Hamburger Geldkrise. Hören Sie nur. Ein Landmann aus dem Hannoverschen kommt vorige Woche nach Hamburg, vernimmt von der argen Ebbe an Barem, die hier wie anderswo herrscht, und fragt treuherzig einen Städter, ob er ihm rate, ein Kapital hierher zu bringen, welches er sich zu Hause für schlechte Zeiten aufbewahrt habe. „Allerdings könnt Ihr jetzt mit barem Gelde in Hamburg hübsche Prozente machen, lautet der Bescheid. Wie stark ist denn Euer Kapital?“ — „Fünfzig Thaler“ sagt der Bauer und wirft sich in die Brust. — O, du liebe Einfalt vom Lande! — Leider sind die Anekdoten nicht alle heiterer Gattung, welche die Geldkrise in Umlauf gebracht hat. Man erzählt sich seit Wochen — sogar in öffentlichen Blättern, ohne Widerspruch zu finden — dass mehrere unserer reichsten Kapitalisten, zugleich Mitglieder der höchsten Staatsbehörden, die Ersten waren, welche ihren Häusergästen kündigten, um einen höhern Zinsfuß als bisher zu erlangen. Wenn ein solches Beispiel von oben herab kommt, so ist's erklärlich, dass der Zinswucher sich überall bemerkbar macht. Es herrscht hier jetzt die gefährlichste Unsicherheit in allem Grundbesitz; wir stehen wie auf unterhöhltem Boden, und dass mit den Folgen der Brandkatastrophe der leidige Schwindelgeist eng verbunden war, davon liefert die jetzige Krise, welche viele Schäden und faule Stellen nicht mehr zu verhüllen gestattet, die deutlichsten Beweise. — Ich gehöre jedoch nicht zu den Unglücksraben, die überall nur Tod und Verwesung prophezeien, weil sie den Leichengeruch am wohltätigsten für ihre Sinne finden. Unser altes Hamburg hat zu viel gesunde Säfte, um nicht dem neuen mit der Zeit — diese brauchen wir allerdings — über alle Krisen und Neugestaltungsprozesse hinweghelfen zu können. Dieser Hoffnung wollen wir uns überlassen und auch dem Glauben, dass einst die alte Solidität, die hansestädtische Ehrenfestigkeit — welche jetzt stark erschüttert scheint — wieder im Allgemeinen bei uns anzutreffen sein wird. Im Einzelnen hat sie sich Gottlob noch nicht verloren. — Schon vor Jahr und Tag schrieb ich in den Grenzboten, dass Hamburgs Blüte und merkantilische Größe wesentlich durch die geringen Schwierigkeiten mit herbeigeführt worden sei, welche hier dem Fremden, der Niederlassung wünscht, zu überwinden bleiben. Diese Ansicht hat jetzt sogar in den jüngsten Propositionen des Senates an die erbgesessene Bürgerschaft, worin einige neue Bestimmungen wegen des Bürgerwerdens getroffen wurden, eine Bestätigung gefunden. Es heißt dort:

„Nichts würde leichter sein als die Erwerbung des Bürgerrechts durch Fremde so zu erschweren, dass das bisherige Verhältnis sich bedeutend veränderte; allein die Leichtigkeit der Erlangung desselben besteht seit Jahrhunderten und Hamburg verdankt unter Anderm sehr wahrscheinlich auch dieser Einrichtung einen Teil seiner Blüte; wollte man hier jetzt hemmend eingreifen, so ließen sich die Folgen schwer vorher sehen. Nur dringende Gründe würden eine solche Maßregel rechtfertigen und diese sind nicht vorhanden.“

Die Sturmflut vom 21. Oktober ist als eine ganz unerwartete Kalamität in die Reihe der schon vorhandenen getreten und wird für Viele von den nachteiligsten Folgen sein. Assekuranzen wider den von Wassersnot angerichteten Schaden gibt es hier nicht, aus dem Grunde, weil ein solches Unglück nie Einzelne trifft und keine Assekuranzgesellschaft bei der Schadloshaltung vieler Hunderte Vorteil haben könnte. Die nasse Überraschung war für viele Bewohner von Kellern und niedrig gelegenen Lokalitäten eine furchtbare. Nicht nur der sehr beträchtliche Verlust an Gütern, Waren, Mobilien, Hausgerät usw. ist zu tragen, auch die Gesundheit Derer, welche in den Monate lang feucht bleibenden Wohnungen hausen müssen, ist beim Rückblick auf das Ereignis nicht zu vergessen. Diese Sturmflut hatte eine Höhe von beinahe 20 Fuß und war jener verhängnisvollen Februarflut des Jahres 1825 gleich, welche wohl nie aus dem Gedächtnisse der Hamburger schwinden wird. Nach der Meinung Vieler haben die Siele, die mit so schweren Kosten hergestellt sind und welche so viele widerstreitende Debatten veranlassten, das Unglück nur vergrößert, anstatt dagegen zu schützen. Das Wasser drang, mittelst der Sielkanäle, nach Stadtteilen, welche bei allen frühern Überflutungen verschont geblieben waren. Die Aufregung wider den Schöpfer unseres Sielsystems, Herrn Lindley aus London, war am Tage des Ereignisses sehr groß. Freilich durfte weder hierüber noch über die Rolle, welche die Siele bei der Sturmflut überhaupt gespielt, ein unzufriedenes Wort in unsern Blättern laut werden. Hingegen hat man Äußerungen der Sielbauverteidiger, welche die Wahrheit geradezu auf den Kopf stellten und sich sogar nicht entblödeten, eine Überflutung dieser Akt als eine ganz gewöhnliche, durchschnittlich jedes Jahr wiederkehrende, zu bezeichnen, — — mit großem Vergnügen das Imprimatur erteilt. An demselben Orte, in einem unserer verbreitetsten Volksblätter, wurde von den „grausenhaften“ Szenen gesprochen, welche die Sturmflut veranlasst und gleich darauf von der eignen Schuld der Betroffenen, weil sie nicht früh genug Ihr Eigentum zu retten versucht. Das Wasser kam aber

mitten in der Nacht und stieg mit entsetzlicher Schnelle. Übrigens werden hier bei jedem Fuß, den die Flut steigt, Kanonenschüsse abgefeuert. — Die anfangs verbreitete Nachricht vom Verlust mehrerer Menschenleben hat sich nicht bestätigt; hingegen ist viel Vieh in der Umgegend ertrunken, in einer unserer Straßen sogar ein Pferd, welches mit der Droschke umschlug und sich nicht mehr aufrichten konnte. Die Blätter erzählen viele spaßhafte und ergötzliche Vorfälle neben den sehr ernsten Szenen, die sich überall ereigneten. Die Verwirrung spielte ihre tausend Instrumente, die Habsucht machte sich breit, der rohe Egoismus erschien in seiner widerlichsten Nacktheit, der freche Übermut, welcher keinen Richter zu finden glaubte, wurde mitunter von einer plötzlichen Volksjustiz bestraft, und was denn mehr derartiges in Begleitung eines solchen Naturereignisses vorfallen kann.

Wenn man aus dem Wasser schnell auf das Trockene kommen will, braucht man sich nur zum Theater zu wenden. — Dort hat die Veteranin Sophie Schröder als Declamatrice jede Erwartung übertroffen und selbst unsern besten Redner, namentlich durch den wunderbar-charakteristischen Vortrag der Schillerschen „Glocke,“ in dunkeln Schatten gestellt. In der Durchführung einer so anstrengenden Rolle wie die Isabella in der „Braut von Messina,“ wurden die Schwächen des vorgerückten Alters (die Schröder ist bald 65 Jahre) bedeutend merklicher; dennoch war sie auch an diesem Abend, bei billiger Berücksichtigung der Umstände, vortrefflich, und neben den genialen Blitzmomenten, welche nicht fehlten, war auch das Ganze der Leistung in hohem Grade interessant. Der Beifall war groß, ob aber die Hamburger der alten Frau ein gleiches Maß von Anerkennung geschenkt hätten, wäre sie nicht als Sophie Schröder gekommen, ist eine Frage, die ich nicht bejahen kann. — Ein berühmter künstlerischer Gast, der jedoch nicht Spielens halber kam, auch einer Aufforderung dazu nicht entsprechen konnte, war Döring von Berlin, der jetzt in Hannover zwei Monate hindurch wirken muss. Döring scheint die zahlreichen und teilweise ziemlich hämischen Anfechtungen, welche er in Berlin von einer gewissen Sorte Kritik erfährt, mit großer Gelassenheit und sehr würdig zu ertragen. Er hat freilich zwei mächtige Verehrer und Freunde — das Publikum und den König. Im Übrigen wird er doch auch von manchem gewichtigen Beurteiler noch immer auf das Wärmste anerkannt. Bei dem Hohngeschrei wegen der Äußerungen des verstorbenen Seydelmann über Döring hätten die Aufspürer und Verbreiter zur Wahrung der Ehre ihres eignen Verstandes doch bedenken sollen, dass der Reflexionsschauspielkunst Seydelmanns in dem unbestreitbaren Naturgenie Dörings eine Rivalität erwachsen war, welche Jener mit Grund fürchtete. Mit Grund, sag' ich, denn es ist z. B. in Hamburg Anno 1835 vorgekommen, dass der berühmte Seydelmann das Publikum durchaus nicht mit sich fortzureißen vermochte, während der gleich darauf als obskurer Schauspieler hier anlangende Döring es an jedem Spielabend in Enthusiasmus versetzte. Damit will ich Seydelmanns Ruhm nicht im Mindesten angetastet, sondern nur seine wahre Stellung zu dem jüngern Nebenbuhler in eine vielleicht für Manchen neue Beleuchtung gebracht haben. Wo aber Rivalität ist, da kann schwerlich völlige Unbefangenheit und Gerechtigkeit des Urteils sein - am wenigsten zwischen Schauspielern. Seydelmann ist tot; Niemand kann seinen Schatten zur Verantwortung ziehen für das, was der Mensch in der Gährung verletzten Selbstgefühles und in den gewiss verzeihlichen Stimmungen der Gereiztheit niederschrieb. Diejenigen aber, die derartige briefliche Äußerungen aus der Privatchatoulle, wohin sie gehören, an das Licht der Öffentlichkeit brachten und damit aus Unbesonnenheit oder Gehässigkeit wider die bedeutendsten Talente des jetzigen Theaters zu Felde ziehen, erscheinen mir in ihrem Thun sehr unwürdig. Unter Seydelmanns Briefen, namentlich soweit sie seine Urteile über Künstler und Kollegen enthalten, mußte eine viel strengere Auswahl getroffen werden. Was Döring speziell betrifft, so ist nicht in dem Rötscherschen Buche, wo er namhaft nur Lobeszoll erhält, sondern aus dem Kosmarschen Nachlasse in einem Berliner Blatte ein Brief Seydelmanns über ihn veröffentlicht.

Aus: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur, redigiert von J. Kuranda. Vierter Jahrgang. II. Semester. IV. Band. 1845.