- Details
- Category: Geschichte
- Published: 15 November 2011
50 Jahre ist es in diesem Spätherbst her, dass die ersten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland und so auch in die Hansestadt Hamburg kamen. Für viele war es seinerzeit ein öffentlich unterstützter Plan, nur 2 Jahre zu bleiben. Wie schwer jedoch gut eingearbeitete Kräfte sich nach 2 Jahren ersetzen lassen und wie hilfreich ihr Bleiben und Weiterarbeiten war, sehen wir heute noch.
Selbst in diesen Tagen des 50. Jahrestages der Ankunft von angeworbenen Gastarbeitern tut sich ein Teil der deutschen Presse und Öffentlichkeit immer noch schwer, eine neutrale oder positive Position zu beziehen.
Jedoch: entgegen den polemischen Schwarzmalern, Spaltern und ewigen Schreihälsen, die an jeder schlechten TV-Serie den Untergang des Abendlandes definieren, gibt es etliche Beispiele gelungener Integration und funktionierender Zwischenmenschlichkeit.
Der Hamburger Autor Jürgen Bertram wohnt in Eimsbüttel. Bisher berichtete der NDR-Journalist viele Jahre aus Krisengebieten, von Hungersnöten und aus äußerst problematischen Ecken des Erdballs wie China und Südostasien. Nun hat er vor der eigenen Tür gekehrt – nämlich in „seiner“ Gustav-Falke Straße. Sein Ansatz: Man muss nicht mal 5 Minuten gehen und hat eine Menge bunter Geschichten, die zeigen, wie selbstverständlich Migranten und Deutsche zusammenleben.
Und so beschreibt Bertram im neuen Werk „Onkel Ali & Co.“ tatsächlich ausschließlich seine allernächste Umgebung der Gustav-Falke Straße nahe der Sternschanze. Das reale Leben vor der Haustür ist bewegend genug, so erfährt man. Die Leser lernen etliche Bewohner kennen:
Man hört die freundlichen Worte vom Gemüsehändler, der seit Jahren um 6 Uhr öffnet, die Zukunftsträume vom KFZ-Mechaniker, der jedes Wochenende mitarbeitet, für jede Mark extra. Man liest von zitternden Händen bei den ersten verdienten 50 Pfennigen vom Türken Arif und vom aufgeregten Durchatmen vom Usbeken Bahtiyar bei der wahnsinnigen Leistung, das Mittelstufen-Zertifikat Deutscher Sprache nach 2 Monaten im Land geschafft zu haben.
Wir erfahren, was es für einen Menschen mit unsicheren Verhältnissen bedeutet, ein unbefristetes Bleiberecht zu erhalten – wie gern er in Deutschland bleibt – und wie der vietnamesische Fischhändler Ngyen Ngoc Chau nicht nur sich selbst durch den Behörden-Dschungel quält, um arbeiten zu können. Sogar seine Frau macht einen LKW-Führerschein (!), um ihm zu helfen und bei ihm zu sein.
Moslemische Jugendliche kehrten nach Silvester die Nachbar-Straßen, um zu betonen, dass sie nicht alle kriminell sind. Trotz Bemühen hatte kein Fernsehteam an dieser friedlichen Story Interesse.
Bertram fasst für sich zusammen:
„Die von progressiven Stadtplanern angestrebte Renaissance der sozialen Mischung fördert – wie das Beispiel der Gustav-Falke Straße dokumentiert – alle Varianten der Integration.“
Das Buch strahlt etwas aus, was viele in Ost und West, die schon im Weihnachtskatalog den neuesten, überlebenswichtigen Flachbildfernseher an-lechzen, verloren haben – Bescheidenheit.
Hier hört man aus dutzenden Mündern, dass jeder, der seiner Arbeit fleißig nachgeht, Respekt verdient. Für viele Migranten eine Selbstverständlichkeit. Und für uns?
Die englische Sprache hat ein treffendes Wort für das Gefühl, das einem nach der Lektüre dieses Buchs nicht nur beschleicht sondern hart trifft – „humbling“.
Die Wörterbücher bieten als nächst liegendes deutsches Wort „demütigend“ an, aber es gibt ein schöneres: „erdend“.
Nur bei einer Sache hat Jürgen Bertram sich stark geirrt.
Er schreibt, das Buch sei „nicht für die Stammtische bestimmt.“
Doch – genau da gehört es hin! Erst an und dann in die Köpfe der Stammtischbewohner!
Fotos: Kenneth L. Kvitek (Istanbul) / H. J. Herbst (Hamburg)