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Bis 1886 war dieses, für die Entwicklung unseres künstlerischen Kulturlebens so überaus wichtige Institut, einem von der Kunsthallen-Kommission eingesetzten, und dieser verantwortlichen Inspektor unterstellt gewesen. Wenn dieser Vorgänger Lichtwarks innerhalb der ihm gezogenen Grenzen und namentlich im Ausbau des Kupferstich-Kabinetts auch viel Ersprießliches leistete, so fehlte es ihm doch an der erforderlichen Autorität, um den Geist des Zufalls zu disziplinieren, der bis dahin die Kunsthalle dirigierte. Diese Autorität kam mit Alfred Lichtwark ins Amt.

Im November 1853 in Hamburg geboren, und von Hause aus zum Lehrer bestimmt, hatte Lichtwark in bereits reiferen Jahren zum Kunstgeschichtsfach umgesattelt. In Berlin, wo er zunächst im Kgl. Kupferstich-Kabinett Stellung fand, nahm er in kritischen Aufsätzen, die er in Berliner Tagesblättern veröffentlichte, teil an den künstlerischen Streit- und Zeitfragen, wobei er als einer der ersten für die bedingungslose Anerkennung der Bedeutung Arnold Böcklins eintrat. Es ist von Interesse, zu erfahren, welches Gewicht Alfred Lichtwark auf die journalistische Tätigkeit als Einführerin in seinen, wie in jeden geistigen Lebensberuf überhaupt, legt. Der betreffende Passus, anlässlich der Feier der 25 jährigen Tätigkeit seines Kollegen Justus Brinckmann, des Direktors des Kunst- und Gewerbemuseums in Hamburg, in einem, dessen Lebenslauf behandelnden Aufsatz niedergeschrieben, lautet: „Wer im modernen Leben eine führende und anregende Tätigkeit auszuüben berufen ist, kann die journalistische Schulung schwer entbehren. Sie ist eine der nützlichsten Ergänzungen jeder Fachbildung, namentlich der juristischen (Brinckmann war früher Jurist), mit der sie im letzten Grunde wesensverwandt ist. Sie erzieht zu einer schnellen und ruhigen Prüfung der Dinge und Verhältnisse und zwingt zur entschiedenen Stellungnahme und zur raschen Abfassung der gewonnenen Anschauungen und Urteile. Vor der juristischen Übung aber hat sie den Vorzug, dass sie eine literarische Ausbildung verleiht. Denn die Presse muss eine Sprache reden, die keine Umschweife macht und das Wesentliche rasch, deutlich und unter keinen Umständen langweilig und schwerfällig mitteilt.“

Die Begrenztheit der Mittel, mit denen Alfred Lichtwark in den Anfangsjahren seiner Tätigkeit in Hamburg haushalten musste, hätte ihn vor der herkömmlichen Versuchung neu ins Amt getretener Museumsleiter, ihren jungen Ruhm auf den Erwerb alter Meisterwerke zu stützen, selbst in dem Falle bewahrt, wenn er für derlei Werke eine besondere Vorliebe gehabt hätte. Diese Liebe ging indes über das für einen Museumsdirektor gebotene Anstandsmaß nicht hinaus. Mit vornehmlich an den Holländern und den Meistern der französischen Moderne entwickeltem Empfinden wurzelte Lichtwark auch als Persönlichkeit völlig im Modernen. So war denn auch sein Streben von Anbeginn dahin gerichtet, dem seiner Leitung unterstellten Institut zugleich mit einer ausgeprägt hamburgischen Note auch den Stempel eines völlig modernen Kunstmuseums aufzudrücken.

Im Verfolg dieses Zieles fand Lichtwark im eigenen Hause einen wertvollen Stützpunkt in der jungen Künstler-Generation, die er unschwer zum Eingehen auf seine Ideen zu bestimmen vermochte. Dass er dabei zu seiner eigenen Lehre, es müsse der Künstler in seinem Schaffen frei von aller Beeinflussung sein, gelegentlich in einigen empfindlichen Gegensatz geriet, mochten die anderen fühlen, ihn selbst genierte es nicht. So erst einmal der Mitarbeit der im Leben stehenden und schaffenden jungen Kräfte sicher, wandte sich Lichtwark der Kunst der Vergangenheit zu, d. h. der hamburgischen Kunstvergangenheit. Was bis dahin begrifflich unter dem Namen „Hamburger Kunst“ existierte, war begrenzt. Es ging der Zeit nach über das 17. Jahrhundert, als dessen markanteste Erscheinung der übrigens in Altona geborene Balthasar Denner galt, nicht hinaus. Hier gab es also noch viel jungfräulichen Boden zum Bebauen. Und an dieses Werk machte sich Lichtwark denn auch mit einer Energie, die lebhaft an das von ihm selbst geprägte Wort erinnerte: „es stecke in den Gründern der Sammlungen und Museen des 19. Jahrhunderts von der Energie der Condottieri, Conquistadoren und Sektenstifter aus vergangenen Zeiten“.

Lichtwark entwickelte ein richtiges Janusgesicht. Während er auf der einen Seite im Suchen nach Altem gar nicht weit genug zurückgehen konnte, vermochte im Ausbauen des modernen Teils der Kunsthalle ihm wieder die Jugend nicht jung genug zu sein. Die auf diese Weise gewonnenen, in der Zeit ihres Entstehens weitest zurückreichenden Altersbesitze der Kunsthalle bestehen in einem geschnitzten figurenreichen Altar von Meister Bertram (1400) und in einer Reihe gemalter Altarbilder von Meister Francke (1435). Die in der Zeit uns am nächsten stehenden Gemälde zeigen die Namen der Begabtesten der Hamburger und der deutschen jungen Kunst: Eitner, J. v. Ehren, Schaper, Illies, Kayser, Graf Leopold Kalckreuth, Wohlers, Max Liebermann, L. v. Hofmann, Uhde, u. a. m. Was zwischen dieser Jugend und jenem Alter stand, das fand, wofern es nicht — wie z. B. Hans Makarts Riesentafel „Einzug Karls V. in Antwerpen“ oder die geschenkweise (durch den in England lebenden Hamburger Bürger Schwabe) überwiesene Sammlung englischer lebender Meister — schon früher dem Bestände der Kunsthalle angehört, nur im Falle seiner unzweifelhaft kunstgeschichtlichen Bedeutung Aufnahme. Diese Kunstpolitik blieb seitens des konservativen Teils der Bevölkerung nicht ohne energische Anfechtung.

Unter den Vorwürfen, die auf Grund dieses Verhaltens wider Lichtwark erhoben wurden, obenan, stand und steht noch der einer einseitigen Bevorzugung Max Liebermanns und des Grafen Leopold v. Kalckreuth. Nun gibt es allerdings keine zweite deutsche Galerie, die im Besitz von Gemälden dieser beiden Künstler mit der Hamburger Kunsthalle konkurrieren könnte. Doch ist schließlich zu erwägen, dass, nachdem für den inneren Ausbau der Kunsthalle die moderne Linie einmal gegeben und von der vorgesetzten Behörde angenommen war, Lichtwark aus seiner einseitigen Bevorzugung dieser beiden Künstler, und namentlich Liebermanns, um so weniger ein Vorwurf gemacht werden durfte, als der weitere Ausbau des Kunstbesitzes der Kunsthalle dadurch keineswegs zu kurz gekommen ist. So gewann die Kunsthalle unter Lichtwark eine wertvolle Sammlung älterer holländischer Meisterwerke, die, auf Antrag Lichtwarks, vom Staate von ihrem bisherigen Eigner, einem Hamburger Kaufmann, Wesselhoeft, übernommen wurde. Der Sammlung alter Hamburger Meister gesellte Lichtwark Werke von Math. Scheits, Ph. Runge, Oldach, Speckter, Wassmann, Herrn. Kauffmann u. a. m. In einer Anzahl besonders abgeteilter Kabinette wurden von Hamburger und von außen berufenen Künstlern die großen Reize der Hamburger Landschaft in einer Reihe von Gemälden vorgeführt, was selbst für viele Eingeborene gleichbedeutend war mit einer völligen Neuerschließung der in ihrer schönheitlichen Eigenart ihnen bis dahin so gut wie noch völlig unbekannt gewesenen Heimat. Wilh. Trübner, Slevogt, L. v. Hofmann, Hugo Vogel u. a. wurden zum Malen von Bildnissen angesehener Hamburgischer Persönlichkeiten verpflichtet. Leibl trat in die Gemeinschaft der Kunsthalle mit seinem Meisterwerke „Betende Frauen in der Kirche“ und einem weiblichen Ganzbildnis von überlegener Feinheit. Böcklin ist u. a. mit den „Feueranbetern“ und „Waldesstille“ vertreten. Der Bestand an Werken Menzels erhöhte sich im Laufe der Jahre auf zwölf äußerst wertvolle Gemälde, darunter das „Begräbnis der Märzgefallenen aus dem Jahre 1848“ und „Jesus im Tempel“, zwei der bekanntesten Clous aus dem Lebenswerke dieses Meisters usw.

Der durch Lichtwarks Tätigkeit der Hamburger Kunsthalle zustehende Anspruch eines modernen Kunstmuseums von schulbildender Vorbildlichkeit wäre aber nur unvollständig begründet, wenn seines Leiters auf die Vermehrung des Besitzstandes an Kupferstichen gerichteten Bestrebungen, und seines emsigen Sammelns von Werken der französischen Medailleurkunst nicht wenigstens referierend gedacht werden würde. Diese letztere Tätigkeit heischt übrigens auch schon um deswillen eine ganz besondere Hervorhebung, weil sie zu einer Zeit einsetzte, als die Heimat der Pariser Meister der Medaille und Plakette für den besonderen Wert gerade dieser Art des Sammelns noch kein Verständnis besaß und damit erst dem von Hamburg gegebenen Beispiel nachgefolgt ist.*)

*) Die im Besitz der Kunsthalle befindliche Plastik größeren Stils beschränkt sich auf einige Porträtbüsten, Akte und Tierstücke. Da staatlicherseits ein eigener Bau zur Aufstellung von Gips-Abgüssen nach antiken Meisterwerken u. a. angekauft worden, ist auch für die Folge keine Wahrscheinlichkeit vorhanden, dass diese Kunstform zu einer, den Gesamtcharakter des Instituts beeinflussenden Bedeutung gelangen wird.

An seine sammlerische reihte Lichtwark und reiht er fortgesetzt noch eine umfangreiche literarische, und — in Form von öffentlichen Vorträgen und der Gründung von, die Kunst im eigenen Hause fördernden Vereinen — eine emsige propagandistische Tätigkeit. Unter den, an Umfang einer kleinen Bibliothek gleichkommenden Buchveröffentlichungen, die seiner Feder entflossen, als eine so originelle wie interessante Neuform, nehmen die Berichte über die im amtlichen Auftrage gemachten Studien- und Besichtigungsreisen eine besondere Stelle ein. Es sind von diesen Reiseberichten, deren Hauptwert in der im unmittelbaren Anschluss an das noch zuckende Leben erfolgten Niederschrift besteht, heute schon fünfzehn Bände in Lexikagröße erschienen, ohne dass das verfügbare Material damit erschöpft wäre. Dass diese aus der unmittelbaren Berührung von Leben und Kunst erwachsenen Berichte sich von den sonst üblichen protokollarischen Mitteilungen über amtliche Reisen genau um das unterscheiden, um was das Leben des Archivs von dem der Straße verschieden ist, lässt es bedauern, dass gerade diese Berichte nur für den Senat gedruckt, und kaum in der Bibliothek der Kunsthalle zur flüchtigen Einsichtnahme erhältlich sind.

Lichtwark ist auch in seinem Wesen eine richtige Kampfnatur. Um der Kunst, nämlich der, von ihm allein als in der Gegenwart existenzberechtigt anerkannten Kunst der Moderne, die Erfüllung ihrer Frieden bringenden Aufgabe zu ermöglichen, schreckt er vor keinem Strauß zurück, der sich ihm im Verfolg dieses Zieles bietet. Er steht sozusagen immer in der Parade und zur Abwehr bereit. Trotzdem wird selbst keiner seiner ehrlichen Gegner anstehen, ihm eine stark produktive Kraft zuzuerkennen und zwar von jener Produktivität, deren Merkmal — nach Goethe — das Schaffen von Taten ist, „die vor Gott und der Natur sich zeigen können und die eben deswegen Erfolge haben und von Dauer sind“. Anderseits werden ihn aber wieder selbst seine bedingungslosen Anhänger nicht von dem Vorwurf freizusprechen vermögen, dass er, darin so völlig anders als sein Kollege Justus Brinckmann, es nicht verstanden hat, das von ihm geschaffene Werk durch eine unmittelbare Übertragung seiner Ideen auf geistig verwandte Mitarbeiter vor den Zufälligkeiten zu bewahren, denen jegliches Menschenwerk ausgesetzt ist. Während unter Brinckmann zahlreiche junge Kunstgelehrte, im unmittelbaren Verkehr mit diesem und unter seiner Anleitung, ihre Ausbildung und Einführung in den praktischen Museumsdienst erhalten haben — ich nenne nur Deneken, Brandt, Sauerland, Lehrs, die jetzt im Geist und Sinn Brinckmanns sämtlich an großen deutschen Museen in leitenden Stellungen wirken — , stand und steht Lichtwark allein, und ist er jeglicher solcher Kronzeugenschaft seines erziehlichen Wirkens bar. Wenn auch dieses Alleinstehen als eine, aus seiner starken und bewussten Ich- und Kampfnatur zu erklärende Erscheinung verständlich ist, so ist der Effekt darum doch derselbe. Wenn heute dem Direktor des Kunst- und Gewerbemuseums ein Menschliches passierte, wäre eine stattliche Jüngerzahl vorhanden, darunter es möglich wäre zu wählen, die Kunsthalle dagegen stände in einem analogen Falle — verwaist.

Doch dass die gesetzgebenden Hamburger Bürger nicht nur widerspruchslos in den Neubau der Kunsthalle gewilligt, sondern dass sie ebenso glatt die vom Senat beantragte Erhöhung des Gehaltes des Direktors Lichtwark um M 6.000.— genehmigten, zeigt, dass Hamburg seinen Kunsthallen Direktor gerade so hat haben wollen, wie er ist. Und eine große Gemeinschaft zum Glauben an sich zu zwingen, ist unter allen Umständen ein Erfolg — und ein um so größerer, wenn dieser Glaube, wie hier, auf einer kulturell so überaus wertvollen Unterlage beruht.