Menschenbestimmung

Vom Anfange des Lebens an scheint unsere Seele nur ein Werk zu haben: inwendige Gestalt, Form der Humanität zu gewinnen, und sich in ihr, wie der Körper in der seinen, gesund und froh zu fühlen. Auf dies Werk arbeitet sie so unablässig und mit solcher Synergie aller Kräfte, als der Körper, der, wenn ein Teil leidet, zur Heilung wirkt ... Wenn einst die Semiotik der Seele studiert werden wird, wie die Semiotik des Körpers, wird man in allen ihren Krankheiten ihre geistige Natur erkennen ... Ja, wer von diesem inneren Leben seines Selbst überzeugt ist, dem werden alle äußeren Zustände, in welche sich der Leib, wie die Materie unablässig verwandelt, mit der Zeit nur Übergänge, die sein Wesen nicht angehen; er schreitet aus dieser Welt so unvermerkt in jene, wie er aus Nacht in Tag, und aus einem Lebensalter ins andere schreitet.

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Was ich auch sei! Ruf von Himmel zu Erde, dass wie alles so auch ich an meiner Stelle etwas bedeute. Mit Kräften aufgespart zum Ganzen, und ja nur mit Gefühl der Glückseligkeit auch nach Maß dieser Kräfte I Wer meiner Brüder hatte Vorrecht, ehe er war! und wenn es Zweck und Zusammenstimmung des Hausrates forderten, dass er Gold- und ich Erdegefäß wurde ich nun eben Erdegefäß, auch in Zweck, Klang, Dauer, Gefühl und Tüchtigkeit, kann ich mit dem Werkmeister streiten? Ich bin nicht übergangen, niemand vorgezogen; Fühlbarkeit, Tätigkeit und Tüchtigkeit des Menschengeschlechtes sind verteilt. Hier reißt der Strom ab, dort setzt er an. Wem viel gegeben ist, der hat auch viel zu leisten. Wer mit viel Sinnen erquickt wird, hat mit viel Sinnen zu streben. — Ich glaube nicht, dass ein Gedanke, mit dem, was er sagt und verschweigt, was er in Ansicht gibt, und worüber er Himmelsdecke ziehet, größere Empfindung gebe, als dieser, im Lichte der ganzen Geschichte!

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Die Morgenröte des Lebens, Jugendeindrücke, frühe Freunde, Situationen von Jugendliebe sie machen meistens den Anklang unserer Bestimmung. Sie weben das Grundgewebe, in welches spätere Schicksale und eine reifere Vernunft nur den Einschlag geben.

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Eben die Eingeschränktheit meines Erdpunktes, die Blendung meines Blickes, das Fehlschlagen meiner Zwecke, das Rätsel meiner Neigungen und Begierden, das Unterliegen meiner Kräfte nur auf das Ganze eines Tages, eines Jahres, einer Nation, eines Jahrhunderts eben das ist mir Bürge, dass ich nichts, das Ganze aber alles sei! Was für ein Werk, zu dem so viele Schattengruppen von Nationen und Zeiten, Kolossenfiguren fast ohne Gesichtspunkt und Ansicht! so viele blinde Werkzeuge gehören, die alle im Wahne des Freien handeln, und doch nicht wissen was? oder wozu? Die nichts übersehen und doch so eifrig mithandeln, als wäre ihr Ameisenhaufe das Weltall was für ein Werk dieses Ganze! Bei der kleinsten Spanne, die wir davon übersehen, so viel Ordnung und so viel Wirkung, Knote und Anlage zur Auflösung — beides eben für die überschwängliche Herrlichkeit im Allgemeinen, Sicherheit und Gewährleistung. Elend klein müsste es sein, wenn ich Fliege es übersehen könnte! Wie wenige Weisheit und Mannigfaltigkeit, wenn ein durch die Welt Taumelnder, der so viel Mühe hat, nur einen Gedanken fest zu halten, nie eine Verwicklung fände? — In einer Spanne, die nichts ist, und wo doch tausend Gedanken und Samenkörner zugleich streben; in einem halben Zeitmaße der Tonkunst von zwei Schlägen, wo sich aber eben vielleicht die schwersten Töne zur süßesten Auflösung wickeln wer bin ich, dass ich urteile, da ich eben nur den großen Saal quer durchgehe, und einen Seitenwinkel des großen verdeckten Gemäldes im dunkelsten Schimmer beäuge ? Was Sokrates zu den Schriften eines Menschen sagte, der eingeschränkt wie er, mit ihm in einem Maße der Kräfte schrieb was soll ich zu dem großen Buche Gottes sagen, das über Welten und Zeiten geht ! Von dem ich kaum eine Letter bin, kaum drei Lettern um mich sehe.

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Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung, er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt an ihm; er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwei freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge seinen Gang zu leiten : so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage.

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Der Mensch überall auf der Erde ist der Herr und Diener der Natur, ihr liebstes Kind und vielleicht auch zugleich ihr aufs härteste gehaltener Sklave. Vorteile und Nachteile, Krankheiten und Übel, sowie neue Arten des Genusses, der Fülle, des Segens warten überall seiner, und nach dem die Würfel dieser Umstände und Beschaffenheit fallen, nach dem wird er werden.

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Der Widerspruch des Menschen, die Duplizität seines Wesens deutet auf seine Stellung als verbindendes Mitglied zweier Welten. Ein Müßiger ahnt nicht, was in ihm liegt. Das Leben ist also ein Kampf und die Blume der reinen Menschheit eine schwer errungene Krone ... Die allmächtige Güte hat Labsal genug in ihren Schätzen, auch die Wunden, die nur der Tod lindern könnte, zu heilen! Da wohl der künftige Zustand aus dem jetzigen so hervorsprosst, wie der unsere aus jenem niederer Organisationen, so ist ohne Zweifel das Geschäft derselben näher mit unserem jetzigen Dasein verknüpft, als wir denken. Der schöne, höhere Garten blüht nur durch die Pflanzen, die hier keimten und unter rauer Hülle die ersten Sprösschen trieben. Ist nun, wie wir gesehen, Geselligkeit, Freundschaft, wirksame Teilnahme fast der Hauptzweck, worauf die Humanität in ihrer ganzen Geschichte der Menschheit angelegt ist, so muss diese schönste Blume des menschlichen Lebens notwendig dort zu der erquickenden Gestalt, zu der umschattenden Höhe gelangen, nach der in allen Verbindungen der Erde unser Herz vergebens dürstet. Unsere Brüder der höheren Stufe lieben uns daher gewiss mehr und reiner, als wir sie suchen und lieben können; denn sie übersehen unsern Zustand, der Augenblick der Zeit ist ihnen vorüber, alle Disharmonie aufgelöst, und sie erziehen an uns vielleicht unsichtbar unseres Glücks Teilnehmer, ihres Geschäftes Brüder. Nur einen Schritt weiter, und der gedrückte Geist atmet freier, das wunde Herz ist genesen ; sie sehen den Schritt herannahen, und helfen dem Gleitenden mächtig hinüber ... Ein wohltätiger Schleier ist's, der diese von jener Welt sondert, und nicht ohne Ursache ist's so still um das Grab eines Toten ... Der Mensch soll in seinen künftigen Zustand nicht hineinschauen, sondern sich hineinglauben (und handeln) ... So viel ist gewiss, dass in jeder seiner Kräfte eine Unendlichkeit liegt ... Du gelangtest auf der Erde zu der Organisation, in der du, ein Sohn des Himmels, über dich schauen lerntest. Segne ihr nach! und mit dem Hut der Freiheit gekrönt und mit dem Gurt des Himmels gegürtet, setze fröhlich deinen Wanderstab weiter, den Ruf deines Vaters erwartend.

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Verzweifle niemand an der Wirkung seines Daseins; je mehr Ordnung in demselben ist, je gleichförmiger in den Gesetzen der Natur er handelt, desto unfehlbarer ist seine Wirkung. Er wirkt wie Gott, in Gott; er kann nicht anders, als ein Chaos um sich her ordnen, Finsternis vertreiben, damit Licht werde; seiner schönen Gestalt verähnlicht er alles, was mit ihm ist, selbst mehr oder minder, was streitend ihm entgegenfährt, sobald er durch Güte und Wahrheit überwindet.

Je tieferer Fall, je höherer Aufschwung, wenn der Mensch die überwiegende Gegenkraft, die ihm aus Gottes Vatergnade ward, ergreift. Je tiefere Leidenschaft, je mehr Energie, desto mehr Saatkorn zur Ernte, wenn die Leidenschaft, durch freilich größeren Kampf geläutert, und aus dem Teufel ein brennender Seraph ward. Niemand ist hier übergangen, niemand versäumt, er hat nur auf die Glückseligkeit Anspruch, von der er inniges Gefühl hat: die übrige ist nicht für ihn, und wäre bloß Lüge, wenn sie ihm würde. Keine Himmelsseligkeit ist ohne Tugend, keine Krone ohne Kampf möglich, sowenig Brot ohne Hunger schmeckt: nur also aus der überwundenen Divergenz beider Kräfte entspringt höhere Kraft, Seligkeit, Christentum, Gottes-Leben. Will ich mir die Menschheit hienieden als lauter Licht, Wahrheit, leidenschaftslose Güte und dergleichen denken, so ist's ein falsches Ideal; das Licht kann nur aus überwundenen Schatten, die Wahrheit aus besiegtem Vorurteil, die Leidenschaft für Gott und das Gute nur aus besiegten und gebändigten Leidenschaften der Sinnlichkeit (die den Stoff dazu geben müssen) werden. Nur aus Schwachheit wird Kraft, nur im Gefühle der Armut kann und wollte sich Gott offenbaren. Alle Reinigkeit der Engel, welche kein Mensch gesehen hat, zusamt der Immutabilität alles Fortschreitens in gerader Linie ist nicht Menschenlos hienieden: es ist ein Abstrakt wie die Stärke der Stoiker und die Wollust der Epikuräer. Eben die Kontrarietät im Menschen ist das Siegel Gottes in unserer Natur, der Baum der Erkenntnis, der Gutes und Böses in einen ewigen Baum des Lebens verwandelt.

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Wenn der Mensch Vorstellungskräfte hat, die nicht auf den Bau einer Honigzelle und eines Spinngewebes bezirkt sind, und also auch den Kunstfähigkeiten der Tiere in diesem Kreise nachstehen, so bekommen sie eben damit weitere Aussicht. Er hat kein einziges Werk, bei dem er also auch unverbesserlich handle, aber er hat freien Raum, sich an vielem zu üben, mithin sich immer zu verbessern. Jeder Gedanke ist nicht ein unmittelbares Werk der Natur, aber eben damit kann es sein eigenes Werk werden.

Wenn also hiermit der Instinkt wegfallen muss, der bloß aus der Organisation der Sinne und der Bezirke der Vorstellungen folgte und keine blinde Determination war, so bekommt eben hiermit der Mensch ,,mehrere Helle“. Da er auf keinen Punkt blind fällt und blind liegen bleibt, so wird er frei stehend, kann sich eine Sphäre der Bespiegelung suchen, kann sich in sich bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung.

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Das Hauptgut wollen wir ja nicht vergessen, das uns die tiefere Betrachtung der Menschennatur für alle Zeiten erworben hat; es ist die Erkenntnis unserer Kräfte und Anlagen, unseres Berufes und unserer Pflicht. Eben in dem, wodurch der Mensch von Tieren sich unterscheidet, liegt sein Charater, sein Adel, seine Bestimmung. Er kann sich davon so wenig als von der Menschheit selbst lossagen. Dies ist das wahre Studium humanitatis, in welchem uns Griechen und Römer vortrefflich vorgegangen sind. Schande, wenn wir ihnen nachbleiben wollten!

Der Mensch hat einen Willen; er ist des Gesetzes fähig; seine Vernunft ist ihm Gesetz. Ein heiliges unverbrüchliches Gesetz, dem er sich nie entziehen darf, dem er sich nie entziehen soll. Er ist nicht etwa nur ein mechanisches Glied der Naturkette, sondern der Geist, der die Natur beherrscht, ist teilweise in ihm. Jener soll er folgen; die Dinge um ihn her, insonderheit seine eigenen Handlungen soll er dem allgemeinen Prinzipium der Welt gemäß anordnen. Hierin ist er keinem Zwange unterworfen, ja er ist keines Zwanges fähig. Er konstituiert sich selbst; er konstituiert mit andern, ihm gleich Gesinnten nach heiligen, unverbrüchlichen Gesetzen eine Gesellschaft. Nach solchen ist er Freund, Bürger, Ehemann, Vater; Mitbürger endlich der großen Stadt Gottes auf Erden, die nur ein Gesetz, ein Dämon, der Geist einer allgemeinen Vernunft und Humanität beherrscht, ordnet, lenkt.

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Das Reich der geistigen Anlagen und ihrer Ausbildung ist die eigentliche Stadt Gottes auf der Erde, in welcher alle Menschen Bürger sind, nur nach sehr verschiedenen Klassen und Stufen. Glücklich ist, wer zur Ausbreitung dieses Reichs der wahren inneren Menschenschöpfung beitragen kann; er beneidet keinem Erfinder seine Wissenschaft und keinem König seine Krone.

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Es liegt eine unnennbare Kraft im Dasein eines Menschen, ich meine, wie sein handelndes Beispiel wirket. Das innigste stillste Gute in mir ist auf diese Weise mein worden, ohne Geräusch der Worte ging es in mich über.

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Je enger der Kreis des Lebens und je bestimmter das Werk ist, in dem man Vollkommenheit sucht, desto eher wird diese erhalten.

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Alles, was geschah, hatte seinen Grund; auch jede Verirrung des menschlichen Verstandes, jede falsche Anhänglichkeit des menschlichen Herzens, Naturbegebenheiten erklärt man; vor gefährlichen Naturbegebenheiten sucht man sich und andere zu sichern; tadelnder Spott bewirkt keines von beiden.

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Ein bescheidenes Gemüt wünscht wenig; es beschneidet der fernhin flatternden Phantasie die Flügel; die Wünsche aber, die es in seiner stillen Einsamkeit ausbrütet, sind um so gewisser erfreuliche Boten einer schönen Zukunft.

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Stimme man nicht das alte Lied an: „Menschen sind Menschen! Sie sind, was sie waren, und werden bleiben, was sie sind. Hat alle Moralphilosophie sie gebessert?" Denn diesem faulen trübsinnigen Wahn steht mit nichten die Wahrheit zur Seite. Wenn wir auch nicht zum Ziele gelangten, müssen wir deshalb nicht in die Rennbahn? Ja, wenn das Ziel der Vollkommenheit auch nicht zu erreichen wäre, und je näher wir ihm zu kommen schienen, immer weiter von uns rückte, haben wir deshalb nicht Schritte getan? Haben wir uns nicht bewegt? Was wäre das Menschengeschlecht, wenn keine Vernunft, keine Moralphilosophie von ihm geübt wäre?