Gedanken und Aphorismen aus der Feder von Johann Gottfried Herder

Autor: Herder, Johann Gottfried (1744-1803) deutscher Dichter, Übersetzer, Schriftsteller, Theologe und Philosoph
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Aphorismen, Herder, Natur, Menschenbestimmung, Humanität, Leben, das Gute, das Wahre, das Schöne, Bildung, Erziehung, Gelehrsamkeit, Menschensinn
Schon Hippokrates nannte die menschliche Natur einen lebendigen Kreis, und das ist sie. Ein Wagen Gottes, Auge um und um voll Windes und lebendiger Räder. Man muss sich also vor nichts so sehr als vor dem einseitigen Zerstückeln und Zerlegen hüten. Wasser allein tut nichts und die liebe kalte spekulierende Vernunft wird dir deinen Willen eher lähmen, als dir Willen, Triebfedern, Gefühl geben. Wie sollte es in deine Vernunft kommen, wenn nicht durch Empfindung? Würde der Kopf denken, wenn dein Herz nicht schlüge? Aber Gegenteils, willst du auf jedes Pochen und Wallen deines Herzens, auf jeden Nachhall einer gereizten Fiber als auf die Stimme Gottes merken und ihr blindlings folgen: wo kannst du hingeraten? da alsdann dein Verstand zu spät kommt. Kurz, folge der Natur! sei kein Polype ohne Kopf und keine Steinbüste ohne Herz; lass den Strom deines Lebens frisch in deiner Brust schlagen, aber auch zum feinen Mark deines Verstandes hinauf geläutert, und da Lebensgeist werden.
Natur

Wenn wir der Natur einen Zweck auf der Erde geben wollen, so kann solcher nichts sein als eine Entwicklung ihrer Kräfte in allen Gestalten, Gattungen und Arten. Diese Evolutionen gehen langsam, oft unbemerkt fort und meistens erscheinen sie periodisch.

Auf die Nacht des Schlafes folgt der Morgen des Erwachens; unter dem Schatten jener hatte die Natur Kräfte gesammelt, diesem, dem Morgen, munter zu begegnen. In den Lebensaltern der Menschen dauert die Kindheit lange; langsam wächst Körper und Geist, bis mit zusammengenommenen Kräften die Blume der Jugend hervorbricht und die Frucht späterer Jahre allmählich reifet. Sehr unrecht hat man diese Perioden der Entwicklung Revolutionen genannt; hier revolviert sich nichts, aber entwickelt (evolviert) werden die Kräfte. Immer kommen verborgenere, tiefer liegende zum Vorschein, die ohne manche vorhergehende nicht tätig werden konnten.

Deswegen machte die Natur Perioden; sie ließ dem Geschöpfe Zeit, von einer überstandenen Anstrengung sich zu erholen, um eine andere noch schwerere fröhlich anzufangen und zu vollenden; denn ohne Zweifel sind, wenn das Gewächs die Blume hervortreibt, oder sich in ihr die Frucht bildet, innigere, feinere Kräfte regsam, als da der Saft in den Stängel trat, und sich die untersten Blätter an ihm erzeugten. Nicht eher verlässt die Natur, dem ordentlichen Laufe nach, ihr Geschöpf, als bis alle physischen Kräfte desselben in Anwendung gebracht, das Innerste gleichsam herausgekehrt, und die Entwicklung, der bei jedem Schritte eine gütige Epigenese beitritt, so vollendet ist, als sie unter gegebenen Umständen vollendet werden konnte.

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Der Mensch ist zwar das erste, aber nicht das einzige Geschöpf der Erde; er beherrscht die Welt, ist aber nicht das Universum. Also stehen ihm oft die Elemente der Natur entgegen, daher er mit ihnen kämpfet. Das Feuer zerstört seine Werke, Überschwemmungen bedecken sein Land; Stürme zertrümmern seine Schiffe, Krankheiten morden sein Geschlecht. All dies ist ihm in den Weg gelegt, damit er's überwinde. Er hat dazu die Waffen in sich. Seine Klugheit hat Tiere bezwungen und gebraucht sie zu seiner Absicht; seine Vorsicht setzt dem Feuer Grenzen und zwingt den Sturm, ihm zu dienen. Den Fluten setzt er Wälle entgegen, und geht auf ihren Wogen daher; den Krankheiten und dem verheerenden Tode selbst sucht und weiß er zu steuern.

Zu seinen besten Gütern ist der Mensch durch Unfälle gelangt, und tausend Entdeckungen wären ihm verborgen geblieben, hätte sie die Not nicht erfunden, sie ist das Gewicht ein der Uhr, das alle Räder derselben treibt.

Ein Gleiches ist's mit den Stürmen in unserer Brust, den Leidenschaften der Menschen. — Alle Laster und Fehler unseres Geschlechts müssen dem Ganzen endlich zum Besten gereichen. Alles Elend, das aus Leidenschaften, Vorurteilen, Trägheit und Unwissenheit entspringt, kann den Menschen seine Sphäre nur mehr kennen lehren. Alle Ausschweifungen rechts und links stoßen ihn am Ende auf seinen Mittelpunkt zurück.

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Die Natur scheint bei der unendlichen Varietät, die sie liebt, alle Lebendigen unserer Erde nach einem Haupt-Plasma der Organisation gebildet zu haben .,. Ein Geschöpf erklärt das andere ... Der Mensch ist die ausgearbeitete Form, in der sich die Züge aller Gattungen sammeln ... Die Fiber, den Muskel, den Nerv bewegt eine Kraft. Es mögen viele Medien in der Natur sein, von denen wir nichts wissen, weil wir kein Organ dazu haben ... Jedes Geschöpf hat seine Welt.

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Wer ein Maß von Wichtigkeit, wer ein Weltall in der Seele trägt, dem wird unmöglich jedes Kümmel- und Staubkorn ewige Welt der Beschäftigung sein können.

Herder, Johann Gottfried (1744-1803) deutscher Dichter, Übersetzer, Schriftsteller, Theologe und Philosoph

Herder, Johann Gottfried (1744-1803) deutscher Dichter, Übersetzer, Schriftsteller, Theologe und Philosoph