Weshalb die Wächterglocke jetzt nicht mehr in Röbel gezogen wird.

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 2
Autor: Gesammelt und herausgegeben von M. Dr. A. Niederhöffer, Erscheinungsjahr: 1862
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sage, Volkssage, Röbel, Nachtwächter, Aberglauben, Brauch
Wie's noch heut' zu Tage in vielen Orten des In- und Auslandes geschieht, so war's früher auch in Röbel auf der Neustadt Sitte, des Abends, wenn die Wächter ihren nächtlichen Umgang durch die Straßen der Stadt begannen, die sogenannte Wächterglocke zu ziehen. Seit vielen Jahren aber schon ist dieser alte, schöne Brauch in Röbel gänzlich abgekommen. Weshalb dies eigentlich geschehen, darüber erzählte mir ein alter Mann eine gar wunderliche Geschichte.

Einer der Nachtwächter Röbels hatte nämlich früher das Amt, sobald er und seine Kameraden auf die Wache gezogen waren, die in dem Turme der Neustädter oder St. Nikolai-Kirche hängende Wächterglocke zu läuten, um dadurch gleichsam den friedlichen Bewohnern der Stadt anzuzeigen, dass sie sich jetzt unbesorgt zur Ruhe begeben könnten, indem sie, die treuen Wächter, jetzt für Alle wachten, um das gute Städtchen während der Nacht vor Feuer und Unglück zu bewahren.

Als nun eines Abends wieder der Wächter, wie gewöhnlich, zur bestimmten Zeit in den Turm getreten war, um sein Amt zu verrichten und eben das dort von der Wächterglocke herunterhängende Tau in die Hand nehmen wollte, war es ihm, als zöge ihm Jemand dasselbe von oben neckisch aus der Hand. Anfänglich hielt er dies zwar für Täuschung, dennoch aber fasste er recht derbe nach dem Reife und siehe da, wieder wurde dasselbe in die Höhe gezogen.

Unser gute Wächter aber verstand keinen Spaß, deshalb erfasste er mit großer Kraft den Strick, in der sicheren Meinung, wenn sich auch wirklich Jemand da oben versteckt habe, um ihn zu necken, so wolle er demselben wohl beweisen, dass er doch noch mehr Macht wie Jener habe und die Glocke dennoch schon in Schwung bringen werde. Doch so oft und so viel er auch zog, obgleich er sich auch mit voller Leibeskraft an das Tau hing, er wurde doch immer wieder, als sei er leicht wie eine Feder, mit demselben in die Höhe gezogen.

Da ward's unserm Wächter ganz unheimlich zu Mute, denn jetzt merkte er es wohl, dass er es hier nicht mit einem irdischen Wesen zu tun habe; und ohne seine Absicht zu erreichen, ohne die Glocke geläutet zu haben, musste er endlich den Turm verlassen.

Als der Wächter am nächsten Abend wieder kam, um die Glocke zu läuten, ging's ihm wieder so, wie am Tage zuvor, und wieder musste er unverrichteter Sache davon gehen.

Da erzählte er denn seinen Kameraden, den Neustädter Predigern und noch vielen alten, klugen und weisen Leuten, was ihm passiert war. Allgemein riet man nun dem Wächter, wenn's ihm am nächsten Abende wieder so ergehe, den Geist, oder was es da oben sonst seien möge, doch einmal anzureden.

Der dritte Abend kam, und mit ihm die Stunde des Läutens der Wächterglocke.

Viele Leute begleiteten den alten Nachtwächter, als er nach dem Turme ging. Gefasst ergriff derselbe hier das Tau, sogleich aber wurde er wieder mit demselben in die Höhe gezogen. Da rief er denn, eingedenk der ihm gewordenen Nachschläge, mit lauter Stimme hinauf: „Wißt Du lürr'n, ora sall ick lürr'n? sönst will ick 'a van gahn!"*)

*) „Willst Du läuten, oder soll ich läuten? sonst will ich davon gehen!"

Aber keine Antwort erfolgte hierauf, und nur von Neuem wurde der Wächter in die Höhe gezogen. Da ergriff Alle ein Grausen, und sich bekreuzend liefen sie davon.

Niemand wollte nach dieser Begebenheit wieder des Abends in den Turm gehen, um die Wächterglocke zu ziehen; und so soll denn seit dieser Zeit das Läuten derselben ganz aufgehört haben.

Einige behaupten aber auch, das Läuten der Wächterglocke in Röbel sei einfach nur deshalb unterblieben, weil dieselbe einen bedeutenden Riss bekommen, und die nur arme Neustädter Kirche nicht das Geld daran hätte wenden wollen, die Glocke umgießen zu lassen