Volksmärchen - 04. Ilsabein

Aus: Ut oler Welt. Sagen, Volkslieder und Reime
Autor: Gesammelt von Wilhelm Busch, Erscheinungsjahr: 1910

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime, Sammlung, Aberglauben,
Es war einmal ein Mädchen, hieß Ilsabein, das hatte rote Augen und konnte auch nicht zum Besten damit gucken; darum so wurde es alt und wartete lange vergeblich auf einen Freier, der es möchte unter die Haube bringen. Endlich ließ sich einer melden auf den Nachmittag, denkend: „es wird so schlimm nicht sein, wie's die Leute machen, du sollst dich selbst erst überzeugen, ob das Mädchen wirklich nicht gut sehen kann.“ Da stellte Ilsabein beizeiten eine Leiter an die Haustüre, nahm eine Nähnadel von der feinsten Sorte und steckte sie hoch oben in den Türriegel. Nach Mittag kam der
Bräutigam richtig an, und Ilsabein, die ihn schon erwartet hatte, sprang ihm munter auf dem Hof entgegen und fasste ihn bei der Hand, dass sie ihn ins Haus brächte. „Sieh doch einmal, mein Schatz!“ sprach sie da, „dort oben im Türriegel steckt wahrhaftig eine Nähnadel.“
„Ei wirklich!“ sagte der Freier, der seine Augen ordentlich anstrengen musste, um die Nadel in der Höhe zu bemerken, „das ist wirklich eine Nähnadel!“ und dachte bei sich: „Das Mädchen sieht doch schärfer, als die Leute wohl denken mögen; die nimm nur!“ So gingen sie denn ganz einmütig zusammen in die Stube und setzten sich an den Tisch. Mit dem so brachte die Muhme das Vesperbrot herein, hatte auch eine schöne große Butterbemme beigelegt und stellte das alles vor die Brautleute auf den Tisch. Wie nun Ilsabein die große Butterwälze da so auf dem Tische stehen sah, meinte sie nicht anders, als ihre weiße Katze wär's, welche von dem Vesperbrote naschen wollte. „Schuh!“ rief sie, „Katzut!“ und klappte mit der Hand in die weiche Butter. Da merkte der Freier, dass das Mädchen doch nicht gut sehen konnte, stand auf, sah nach der Uhr und tat, als ob er noch etwas Eiliges zu bestellen hätte. „Ich muss jetzt fort“, sagte er, „Adieu, mein Schatz, bis Morgen!“ Damit ging er zur Türe hinaus, kam aber niemals wieder, so dass die arme Ilsabein wieder warten und warten musste; und wenn sie noch nicht gestorben ist, dann wartet sie heute noch.

Wilhelm Busch, ca. 1882

Wilhelm Busch, ca. 1882