Unpolitische Bilder aus St. Petersburg. 15. Brautschau.

Skizzen, nach dem Leben gezeichnet
Autor: Jerrmann, Eduard (1798-1859) Schauspieler, Puppenspieler, Landwirt, Erscheinungsjahr: 1851

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Leibeigenschaft, Bauern, Reformen, St. Petersburg, Heimat, Hauptstadt, Land und Leute, Militärdienst, Sitten und Bräuche,
Ich sprach oben von Staatsgebäuden, und da darf ich das Michaelow’sche Palais, schrecklichen Andenkens, nicht übergehen. Dieser einst so glänzende Palast mit seinen Gräben, Zugbrücken und Palisaden, im Hofraume die bronzene Reiterstatue Peters des Großen, ist jetzt zu einem Kadetten-Corps umgeformt, und sämtliche Räume, in denen einst kaiserlicher Pomp und Missmut herrschten, sind von jungen, fröhlichen und arbeitsamen Schülern bewohnt — bis auf ein Gemach, dessen Fußboden noch die Spuren eines entsetzlichen Ereignisses tragen muss, denn unmittelbar nach der furchtbaren Tat wurden seine Fenster und Toren vermauert, welche erstere düster in die Hofräume hinabstarren, als finstere Erinnerungen einer finsteren Vergangenheit in die heitere Gegenwart. — In diesem Zimmer fand Zar Paul seinen Tod „vom Schlage gerührt."

Nicht weit von diesem alten Schloss prangt luststrahlend in seinem ganzen Reize der Sommergarten, eine der schönsten Zierden der Stadt. Peter der Große legte ihn an, und in einem Zimmer des Hauses, das er darin erbaute, zeigt man noch ein Stück Leder, das erste, das in Petersburg gegerbt wurde, und das die Spuren der Zähne trägt, mit denen diese wilde Giganten-Natur hineinbiss, seiner Freude Luft zu machen über diesen neuen Schritt der durch ihn geförderten Kultur. Heut zu Tage gerbt man nirgends so gut, als in Russland, nicht nur lebendige Haut, sondern auch abgezogene, wie die Schuppenpelze beweisen, die von Deutschland zu viel billigeren Preisen dahin gebracht, doch sämtlich neu gegerbt werden müssen, sollen sie weich, dauerhaft und angenehm tragbar sein.

Dieser Sommergarten hat die eine Front nach dem Quai hinaus, und ist nur durch einen Fahrweg von der Newa geschieden. Der herrliche Baumwuchs, die reizenden Alleen, Statuen und Ruheplätze werden noch durch das kolossale Gitter von geschmiedetem Eisen gehoben, das wohl einzig in seiner Art sein möchte, und dessen Schönheit und Ruf zu einer acht englischen Narrheit Veranlassung gab. Ein Sohn Albions, der schon längst den Wunsch gehegt, die Zarenstadt zu bewundern, hört oder liest einst von der seltenen Schönheit dieses Gitters. Anderen Tages schifft er sich ein; in Kronstadt angelangt, martert die Douane seine Ungeduld mit Durchsuchung des Schiffs; er wirft sich in einen Nachen und segelt die Newa hinauf bis vor den Sommergarten, das Ziel seiner Wünsche und Träume. Den Guide de voyageur in der Hand, liegt er hier langgestreckt im Kahn, das Auge stundenlang stier auf dieses Wunder von einem Gitter gerichtet. Endlich reißt er sich gewaltsam von dem Gegenstande seiner Begeisterung los und ruft den Schiffsleuten zu: „Was kann die Stadt nun wohl noch Sehenswertes haben? retour nach Kronstadt!" Und ohne einen Fuß ans Land gesetzt zu haben, kehrt er nach seiner nebligen Heimat zurück.

Noch einen Naturreiz bietet dieser Garten, den er nur mit dem der Pariser Tuillerien gemein hat. Wie dort, versammeln sich hier jeden Mittag die lieblichsten Kinder mit ihren natürlichen Pflegerinnen, den Müttern und Ammen, bevölkern diese öden Gänge und durchdringen die Stille der endlosen Räume mit den Jubelklängen ihrer schuldlosen Lust.

Fünfzehn, sechzehn Jahre später erscheinen diese selben Kinder dort wieder, aber mit minder harmlosem Sinn, zu weniger gefahrlosem Spiele. Am Nachmittage des zweiten Pfingstfeiertages sieht man da, in langen Reihen, stattlich gekleidet, oft mit dem kostbarsten Schmucke bedeckt, die Töchter des Mittelstandes — zur Brautschau ausgestellt.

Die jungen Heiratskandidaten ziehen nun musternd und prüfend die Reihen der jugendlichen Schönen auf und nieder. Bezeichnet ihr Auge den Gegenstand ihrer Wahl, so tritt aus zweiter Linie die Freiwerberin, promeniert mit dem Freier im Garten umher, ihn von den Verhältnissen der Braut, ihrer Familie, Häuslichkeit, Vermögen, Mitgift, etc. unterrichtend, ein Gleiches über seine Person erforschend, und ist man so weit einig, dass es sich nur noch um die Zustimmung der Braut und deren Eltern handelt, so führt die Freiwerberin den Kandidaten der Mutter zu; diese stellt ihn der Braut vor, ladet ihn in ihr Haus, und die flüchtige Bekanntschaft schließt wenige Monate darauf mit einer solennen Hochzeit. — So seltsam es erscheinen mag, lehrt doch täglich die Erfahrung, dass diese, lediglich auf den wohltuenden Eindruck des ersten Anblicks gegründeten, Ehen meistens zu einem gemeinsamen glücklichen Leben führen. Das liegt wohl zum großen Teil daran, dass der Russe des Mittelstandes sehr geringe Ansprüche an seine Ehehälfte macht, und je reicher er ist, desto weniger. Die Rücksichten, die der deutsche Bürger bei der Wahl seiner Lebensgefährtin nimmt, Bildung, Wirtschaftlichkeit u. s. w., kennt er nicht; der reiche Russe des Mittelstandes verlangt von seiner Frau nichts, als dass sie hübsch sei, schöne Toilette mache, schon früh sich elegant kleide und dann den Tag über auf dem Kanapee sitze, nichts tue als höchstens einen Roman lesen oder ein wenig Filet stricken. Wirtschaftliche Tätigkeit des Weibes ist ihm ein Gräuel; das sind Beschäftigungen der Dienstleute; und sollte die Frau sie zu den ihrigen machen, so würde sie sich dadurch in des Mannes Augen, wie in denen ihrer Umgebung, nur erniedrigen. Gesellschaften empfangen, aber auch dabei nur repräsentieren — das ist der russischen Hausfrau eigentliches Geschäft. Die Erziehung der Kinder lässt bei dieser Art des häuslichen Lebens natürlich viel zu wünschen übrig; inzwischen besuchen die Knaben doch regelmäßig die Schulen, oder sind Erziehungs-Anstalten anvertraut; und was die Mädchen betrifft, so erheischen die Ansprüche, die, wie eben geschildert, an ihre Zukunft gemacht werden, so wenig, dass die geringe Sorgfalt, die auf ihre Erziehung verwendet wird, zur Not immer noch genügt. Deutschen Heiratslustigen möchten wir aber durchaus nicht raten, zur Erfüllung ihrer Wünsche das Petersburger Pfingstfest zu besuchen.

Hochzeitsgeschenke werden bei den russischen Heiraten nicht gemacht; dagegen existiert ein alt-hergebrachter, patriarchalischer Gebrauch, der sich, freilich in einiger Ausartung, bis auf die gegenwärtige Zeit erhalten hat. Ich begegnete eines Morgens einem Bekannten, der in eiliger Hast an mir vorübereilte. „Wohin denn so schnell?" — „Ich hab' nicht Zeit, ich muss noch Brot und Salz kaufen." — „Brot und Salz? Haben Sie das nicht im Hause?"— „Davon ein Andermal." — Später folgte die Erklärung. Seit uralter Väterzeit existiert der Gebrauch bei den Russen, bei Wohnungs-Veränderungen von sämtlichen Bekannten ein Brot und etwas Salz zum Geschenk zu erhalten. Der Sinn mag wohl in dem rührenden Wunsche liegen: Möge es Euch in der neuen Wohnung mindestens nie an diesen Beiden fehlen. Als feinere Sitten sich des Volkes bemeisterten, brachte man das Salz in einem Fässchen, das Brot auf einem Teller oder Brotkorb. Später, als die feinen Sitten in Luxus ausarteten, verwandelte man die schmucklosen Behältnisse, die das Geschenk enthielten, in kostbare, man überreichte die einfache Gabe in Gefäßen und Brotkörben von Silber und Gold, und jetzt ist man auf dem Punkte angelangt, von dem Inhalte ganz zu abstrahieren, die Hülle als die Hauptsache zu betrachten, und um Abwechslung in diese zu bringen bietet man statt eines Salzfasses eine kostbare Vase, statt des Brotkorbes ein reiches Service oder sonst irgend ein auserlesenes Geschenk; doch fehlt dabei, gleichsam zur Entschuldigung für diese Übertreibung, nie die bezeichnende Bitte: „nehmt freundlich hier zum Umzuge Brot und Salz von uns an!"

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

Jerrmann, Eduard (1798-1859) deutscher Schauspieler, wirkte 1842 als Oberregisseur am Deutschen Theater in St. Petersburg

047 Großrusssin

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048 Dorfmusikant

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Heiratsmarkt im Petersburger Sommergarten

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Aus dem russischen Volksleben

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