Ueber das Plattdeutsche, als ein großes Hemmnis der Bildung

Vorgelesen im Bildungsverein in Oldenburg am 21. Dezember 1845
Autor: Goldschmidt, Jonas Dr. (1806-1900) Militär-Arzt, Schriftsteller und Publizist, Erscheinungsjahr: 1846
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Plattdeutsch, Sprache, Dialekt, Mundart, Landessprache, Volkssprache, Hochdeutsch, Bildung, Heimatkunde
Die meisten von Ihnen, meine Hörer, sind gleich mir in plattdeutscher Welt groß geworden. Plattdeutsch waren die ersten Laute, die wir hörten, Plattdeutsch war die Sprache unserer Kindheit, unserer Jugend, und Plattdeutsch reden wir noch jetzt gar oft, wenn wir vertraulich, gemütlich mit unsern Jugendfreunden verkehren. Gleich mir, sind die meisten von Ihnen mit inniger Liebe der Sprache der schönsten Zeit unseres Lebens zugetan – sie eignet sich auch gar zu gut zum vertraulichen, innigem Verkehre; und doch, meine Hörer, müssen wir wünschen, dass sich ihr Gebiet täglich mindre, dass das Plattdeutsche allmählich aufhöre zu leben. Denn es hat kein wahres Leben mehr!

Bis zum sechszehnten Jahrhundert herrschten mit gleicher Berechtigung zwei Sprachen in Deutschland. Wie in Süd- und Mitteldeutschland das Hochdeutsche die Sprache Aller war, so wurde im nördlichen plattdeutsch von Vornehmen und Geringen geredet, plattdeutsch waren die Verhandlungen bei Gericht, plattdeutsch wurde geschrieben, gelehrt, gedichtet. Mit Luthers Bibelübersetzung gewann das Hochdeutsche einen entschiedenen Sieg über das Plattdeutsche. Die Reformation fand bald eifrige Anhänger in den Teilen Deutschlands, in denen letzteres herrschte. Neben der Bibel waren auch die übrigen Schriften des Reformators und die der andern Verbreiter der neuen Lehre hochdeutsch, und so wurde dies in die Kirche eingeführt. Da damals die kirchlichen und religiösen Interessen alle übrigen ziemlich in den Hintergrund gedrängt hatten, so war es natürlich, dass sich alle hervorragenden Männer, die sich an den Kämpfen des Tages beteiligen wollten, nur der Sprache bedienten, die allein dazu die Mittel bot; das Hochdeutsche wurde die Schriftsprache aller gebildeten Männer, das Plattdeutsche galt nur noch im täglichen Verkehre. Es hörte auf Schriftsprache zu sein! – „und die Sprache, die nicht Schriftsprache, nicht Sprache der Bildung, des geschichtlichen Fortschritts, der politischen, religiösen, wissenschaftlichen Bewegung ist, ist einem See vergleichbar, der, da ihm der Quellenzufluss versiegt oder abgeleitet ist, zum Sumpf und Moder wird. Der Wind mag wehen, woher er will, er gleitet spurlos über die schmutzige grüne Decke hin. Der Himmel ist blau und heiter oder stürmisch gefärbt, das rührt ihn nicht; keine Sonne, keine Wolke spiegelt sich mehr auf der trüben Fläche.

Dies schöne Gleichnis entlehne ich einer vortrefflichen Schrift von Wienbarg: „Soll die plattdeutsche Sprache gepflegt oder ausgerottet werden? Gegen Ersteres und für Letzteres, einer Schrift, die wahrlich verdient, dass sie bekannter wird, wie es bis jetzt geschehen ist.

„Die plattdeutsche Sprache, heißt es in der genannten Schrift an einer andern Stelle, mit dem Verstand der Zeit längst zu enge geworden; ihr Wachstum hat bereits mit dem sechszehnten Jahrhundert aufgehört; sie kann die geistigen und materiellen Fortschritte der Zivilisation nicht fassen, nicht wiedergeben, sie hat seit dem sechszehnten Jahrhundert nichts gelernt, sie hat sich mit keinem einzigen Ausdrucke der neuen Geschichte bereichert, sie hat nicht einmal ein Wort für Bildung, nicht einmal ein Wort für Verfassung, und daher verurteilt sie den größten Teil der Volksmasse in Norddeutschland, dem sie jetzt noch tägliches Organ ist, zu einem Zustande der Unmündigkeit, Rohheit und Ideenlosigkeit, der von dem Zustande der Gebildeten auf die grellste und empörendste Weise absticht.

Jeder Unterricht, alle Bildungsversuche werden an dem unglückseligen Verhältnisse gar wenig ändern, so lange das Plattdeutsche die Muttersprache bleibt. Welches sind denn bisher die Früchte von allem langen Unterrichte in den Dorfschulen fürs Leben gewesen? – „Was hat der Knabe, der nach einer Konfirmation die Schule verlässt, und ganz und gar zum plattdeutschen Element zurückkehrt, für das Leben gewonnen? – Er hat rechnen, schreiben, lesen gelernt; aber er liest und schreibt nicht. (Umgekehrt der französische Bauer, der kann nicht lesen, aber er lässt sich vorlesen, ihm ist das Vorgelesene in seiner Muttersprache gedruckt.) Unser Bauer aber lässt sich nicht vorlesen und liest nicht, weil das Gedruckte ihm eine fremde Sprache ist, die zu verstehen ihm viele Mühe macht, da er nicht, ohne es ins Plattdeutsche zu übersetzen, den Sinn des Gelesenen fasst. Man muss nur mal erfahren haben, wie dem Ohre, das nur gewohnt ist, hochdeutsch Sprechende lesen zu hören, es wunderbar klingt, wenn so ein plattdeutscher Mund liest. Man ist viel geneigter es für holländisch, als für deutsch zu halten, und ein Süddeutscher würde nur einzelne Wörter von dem so Vorgelesenen verstehen. Wer einmal eine solche Vorlesung gehört hat, hält den Ausspruch, das Gedruckte sei für den, der bis dahin nur Plattdeutsch gesprochen hat, eine fremde Sprache, gewiss nicht für Übertreibung. Man fühlt es bald heraus, dass meistens der Vorleser eben so wenig das Vorgelesene im Zusammenhange aufzufassen im Stande ist, wie die Zuhörer. Die wenigsten Landleute lesen deshalb noch, wenn sie die Schule verlassen haben; ein Gesangbuch, ein Kalender wird allenfalls noch mal am Sonntag Nachmittag oder an langen Winterabenden in die Hand genommen, oder aus einer alten schmierigen, zerrissenen Scharteke aus dem vorigen Jahrhundert, die Gott weiß wie ins Haus gekommen, werden immer dieselben Geschichten von neuem wieder vorgelesen oder vielmehr vorgeradebrecht; aber jede andre Lektüre findet den Weg nicht zu den Häusern der Landleute, und so erfahren diese nichts von allen Ereignissen, von all den Fragen, die die Welt bewegen.

Viele Landleute lesen so wenig, dass sie im Laufe des Lebens das Lesen gänzlich verlernen. Alle Bursche von zwanzig Jahren können in unserem Lande, da sie bei dem bestehenden Schulzwange in ihren Kinderjahren es gut gelernt haben, noch ziemlich lesen, sie verstehen auch noch, wenn's sehr leichte Sachen sind, und nicht allzulange Perioden, zum großen Teile, was sie lesen. Zehn Jahre später da sieht's anders aus; dann haben viele das Lesen schon wieder verschwitzt. – Ich hatte vor einiger Zeit einige hundert Leute von ungefähr dreißig Jahren ärztlich zu untersuchen; um ihr Auge zu prüfen, ließ ich sie sämtlich lesen; aber die wenigsten konnten es noch fertig; viele mussten buchstabieren, wenn irgend ein ungewöhnliches oder langes Wort ihnen in den Weg kam. Ich bin fest überzeugt, die einmal in der Jugend erworbene Fertigkeit im Lesen hätten sie nicht so bald verloren, wenn das Gedruckte ihre Muttersprache wäre; und das glaube ich um so mehr, da von den untersuchten Leuten diejenigen, welche leidlich hochdeutsch sprachen, auch fast alle fertig lesen konnten.

„Wir haben im Lande Volksunterricht, aber Volksbildung fehlt uns ganz.“

Wir müssen es zu unserm Leidwesen gestehen, dass unsere Landleute, viele Ausnahmen selbstredend abgerechnet, so unwissend über alle Dinge des Lebens, die nicht in ihrem nächsten Kreise liegen, und so interessenlos sind, wie vielleicht kein anderer deutscher Volksstamm, und doch sind unsere Volksschulen gewiss zu den besseren zu rechnen. Das Plattdeutsche trägt allein die Schuld; es ist eine Kette, die jede Bildung erschwert. Die nächste Umgebung größerer Städte pflegt gewöhnlich durch den Verkehr mit diesen abgerieben zu fein; von unserer Umgebung kann man das wahrlich nicht sagen! – Tritt man nur eben aus dem Weichbilde der Stadt Oldenburg, dann fühlt man sich mit einem Male ganz mitten in einer plattdeutschen Welt.

Ich frage noch einmal, was nützt dem Landmann für das Leben der lange Schulunterricht? – Wahrhaftig wenig; so lange noch Plattdeutsch seine Muttersprache bleibt! – Als ich einst mit Unmut im Herzen einem meiner Jugendfreunde, einem Prediger, der mit bittrer Strenge den Schulzwang aufrecht hielt, diese Frage vorlegte, richtete sich der große Mann auf, trat mir einen Schritt näher, und fragte mich mit salbungsvollem Tone: „rechnest Du es denn für nichts, dass sie sich scharen lernen um unsern Herrn und Heiland, und dass ich, wenn ich einst hintrete vor den Herrn, sagen darf: „sieh, o Herr, ich habe kein Schaf meiner Herde verloren!“ –

Wahrlich, meine Hörer, ich achte den Religionsunterricht nicht gering; aber allein genügt er doch nicht mehr! Unsere Zeit macht doch andre Ansprüche, und unser aller Bestreben geht ja gerade darauf hinaus, dass diesen Ansprüchen besser genügt werde, wie bisher. Doch auch dem Religionsunterrichte muss das Plattdeutsch hemmend in den Weg treten; es muss dem tieferen Eindringen der Religionswahrheiten sich feindlich entgegenstellen! – Müssen wir nicht mit Wienbarg annehmen, dass der Bauer lieber flucht, als betet; denn er flucht in seiner Muttersprache, und kann nur beten in einer fremden, angelernten.

Sollte der Landmann, wenn es schon lange her ist, da er die Schule verlassen hat, wohl die hochdeutsche Predigt recht verstehen? – Betreffen seine Bemerkungen über den Prediger nicht fast immer nur das rein Äußerliche, z. B.: de Kerl hett'n Utgawe as'n Oss od. dergl. Kann er sich über die Predigt, tief in den Geist derselben eingehend, mit seinem Weibe, seinen Nachbarn plattdeutsch unterhalten? – Er kann es wahrlich nicht! – Seine Sprache hat ja nicht mal ein Wort für Tugend! – Man werfe mir nicht ein, dass unsere Landleute, trotz dem, dass ihnen das Wort Tugend fehlt, tugendhaft sind – ehrlich, keusch, bieder, gutmütig! – Ich verkenne wahrlich nicht den segensreichen Einfluss des Religionsunterrichts! aber gestehen müssen wir's, wenn wir aufrichtig sein wollen, dass diese vortrefflichen Eigenschaften des Volks dem angeborenen ruhigen Temperamente und besonders der uralten, schönen Volkssitte zum großen Teil ihre Entstehung verdanken; der Volkssitte, der sich der Landmann viel schwerer entzieht, als der Städter. –

„Wat schullen woll de Lü davon seggen! –
„Wat wull dat vor'n Nasnack geben!

Die Teilnahme des Landmanns auf der Geest am Gemeindeleben – dass es möglich sei, dass ein Bauer Teil am Staatsleben nehmen könne, fällt dort fast Niemandem ein – ist leider eine höchst geringe. Das Plattdeutsche ist Schuld daran! – In den Versammlungen, in denen hochdeutsch geredet, wenigstens das Protokoll darin geführt wird, kann der Landmann an den Verhandlungen, wenn er auch wollte, meist nicht lebhaft Teil nehmen; denn er versteht vomHochdeutschen nicht genug, um dem Gange der Verhandlungen mit Leichtigkeit zu folgen; macht er selbst den Versuch hochdeutsch zu reden, dann sagt er fast immer etwas ganz anderes, als er sagen wollte, und kann keinem Einwurf Rede stehen. Kann man annehmen, dass künftig die Landbesitzer sich selbst vertreten werden, wenn sie nicht besser Deutsch sprechen lernen? – Spricht der Landmann aber auch plattdeutsch, dann fühlt er sich doch dem hochdeutsch redenden Beamten gegenüber beengt; er sucht nach Ausdrücken und vermag nicht vor lauter Respekt seine Gedanken klar zu entwickeln; denn auch den Nachteil hat das Plattdeutsche, dass es die Kluft zwischen dem Volke und den hochdeutsch redenden oder doch mindestens hochdeutsch schreibenden Beamten immer offen erhält, und dass der eine freie politische Entwicklung hemmende zu große Respekt vor „de Heerens“, so nennt der Landmann ja die herrschenden Staatsdiener, sich immer noch nicht verliert. – Erst dann, wenn der Bauer das Versammlungslokal verlassen hat, und sich ganz wieder auf sicherem plattdeutschen Boden befindet, dann erst öffnen sich die Schleusen seines Herzens; dann erst übersetzt er die vorgekommenen Verhandlungen in gutes Plattdeutsch und zergliedert sie, wenn es meist zu spät ist, mit einem scharfen praktischen Verstande. Nur eine Weise, alles Neue mit großer Zähigkeit zu verneinen und von sich abzuweisen, ohne sich auf Gründe einzulassen, schützt unsern Landmann vor manchem übereilten Schritt; hemmt aber noch viel öfter den wahren Fortschritt! –

Mit demselben Rechte, das hat man mir hier eingewandt, mit dem ich zum Kampfe gegen das Plattdeutsche auffordre, könnte ich auch verlangen, dass manche süddeutsche Dialekte zurückgedrängt würden; da diese die Bildung eben so hemmten, und den Verkehr der Deutschen unter einander eben so erschwerten, wie das Plattdeutsche. Letzteres ist aber durchaus unwahr! – Die süddeutschen Dialekte sind eben nichts andres, als Dialekte, es ist doch immer Hochdeutsch, – und sie weichen von der Schriftsprache verhältnismäßig wenig ab. Das Plattdeutsche verhält sich aber zum Hochdeutschen wie eine ganz andre Sprache – etwa wie das Holländische zu ersterer! Wir hochdeutsch redenden, Norddeutschen verstehen, einzelne Ausdrücke abgerechnet, wenn wir aufmerksam sind, jeden Süddeutschen, so wie ich auch auf meinen Reisen mich mit Bayern, Schwaben, Schwarzwäldern, Salzburgern, Wienern – selbst wenn sie der niedrigsten Volksklasse angehörten – sehr gut habe unterhalten können. Kommen indes Süddeutsche hierher, so gehen oft zehn und mehrere Jahre darauf hin, ehe sie sich mit einem unserer Landleute einigermaßen unterhalten können; in den ersten Jahren des Zusammenlebens versteht einer vom andern nicht ein Wort! –

Was ist des Deutschen Vaterland? – So weit die deutsche Zunge klingt! – Der alte Arndt hat Recht; das einzige Band, das unser zerklüftetes Vaterland zusammenhält, ist die Sprache. Aber so lange der Norddeutsche eine Sprache redet, die der Süddeutsche nicht versteht, wie sieht's da um die Einheit Deutschlands aus? Kann sich unser plattdeutscher Landmann als wahres Glied des ganzen großen Vaterlandes fühlen, so lange er nicht Deutsch kann? –

Doch, wozu noch mehr der Worte! Klar ist's mir, wie der Tag, und Jeder von Ihnen ist zweifelsohne derselben Ansicht, dass das Plattdeutsche die religiöse und politische Entwicklung ungemein erschwert und sich jeder wahrhaften Bildung in den Weg stellt. Es muss deshalb eine der Hauptaufgaben unseres Vereins sein, dahin zu wirken, dass das Plattdeutsche allmählich den Hochdeutschen weiche. – Jeder von uns muss in seinem Kreise durch Wort und Beispiel diesem großen, entfernten Ziele zuwirken.

Viel weniger als vor zwanzig Jahren wird hier in der Stadt Oldenburg plattdeutsch geredet; doch wird es noch in vielen angesehenen Häusern mit den Kindern gesprochen. Wenn wir die Eltern auf den Nachteil, den sie den Kindern dadurch zufügen, aufmerksam machen; wenn wir ihnen, was wir mit gutem Gewissen können, die Versicherung geben, dass mit der gebildeteren Sprache viele Rohheiten weichen und bessre Sitten einkehren werden – mannichfache Erfahrung hat letzteres gelehrt – so werden sie sich wohl Anfangs sträuben, der alten Sitte untreu zu werden, aber wenn wir ein wenig konsequent beharren, werden fiel doch allmählich nachgeben; und die Mütter sind's, die man meistens am leichtesten dazu bewegen kann; der Herr Papa gibt dann auch bald nach.

Man könnte mir einwenden, dass unter diesen Umständen die Kinder zum Teil doch nur ein korrumpiertes Deutsch lernen würden; das ist möglich; indes ist doch sicher der Übergang von diesem korrumpierten Deutsch zur Sprache der Gebildeten unendlich viel leichter, als der vom reinsten Plattdeutsch; und außerdem könnte man mir entgegenhalten, dass die Innigkeit im Familienverkehre darunter leiden würde; da die Eltern, die bis dahin gewohnt plattdeutsch zu sprechen, mit ihrem Herzen nicht hochdeutsch reden könnten. Darauf erwidere ich, dass im Umgange mit den Kindern die Eltern am leichtesten selbst Deutsch lernen, und dass dies ihnen, nach kurzem Zwange, dieselbe Innigkeit bietet, wie früher das Plattdeutsche; und sie sich bald so daran gewöhnen, dass sie gar nicht mehr mit ihren Kindern plattdeutsch sprechen können.

Man könnte mir überdies noch einwenden, diese schwierige Prozedur von Seiten der Eltern sei überflüssig, da in der Stadt alle Kinder ohne besonderes Zutun hochdeutsch sprechen lernten. – Ja das ist wahr! sie lernen es; aber es wird dann doch nicht ihre Muttersprache! – Uns alle, die wir mit Plattdeutsch groß geworden sind, hat es nicht unbedeutend gehemmt. Wir konnten nicht so frei und geläufig Deutsch reden, wie die jungen Leute, die heutiges Tages ihre Studien vollendet haben. Als wir vor zwanzig Jahren von der Universität heimkehrten, auf der wir fast nur plattdeutsch gesprochen hatten, wurde uns von denen, die von Kindesbeinen an hochdeutsch geredet, öfter der Vorwurf gemacht, wir sprächen zu affektiert. – Obwohl wir frei waren von Affektation, so musste unter sorgfältig, behutsam Reden denen, die unter besseren Verhältnissen aufgewachsen waren, als solche erscheinen. –

Ich frage, würden wir noch an so allgemeiner Sprachangst und Redenot hier leiden, wenn die heutige Generation der Männer von Jugend auf deutsch geredet hätte? – Und wenn wir es auch lernten, uns leicht und klar auszudrücken, so lange wir ruhig bleiben, nur unser Verstand tätig ist, so fängt bei gar vielen von uns das Stottern an, sobald wir warm werden. –

Es muss außerdem unsere Aufgabe sein, diejenigen wohlhabenderen Landleute, die selbst ziemlich fertig hochdeutsch sprechen, ebenfalls dahin zu bringen, dass sie mit ihren Kindern hochdeutsch reden. Hier werden wir ein viel schwierigeres Feld zu bearbeiten haben; denn selbst, wenn der Landmann den Nutzen, der ihm und den Kindern daraus erwachsen würde, einsähe, würde er doch sich schwer dazu entschließen; die Scheu vor dem Neuen, die Furcht, von den Nachbarn verlacht zu werden, wird er schwer überwinden können; aber demungeachtet müssen wir immer wieder von neuem anpurren; am Ende wird es hier und da doch gelingen. – Unverzeihlich ist es, dass die großen Landbesitzer in den Marschen, die in ihrer sonstigen Lebensstellung den Gutsbesitzern andrer Länder gleichen, noch immer in ihren Familien plattdeutsch reden. Es erbittert mich jedesmal, wenn ein elegant gekleideter Herr oder eine Dame in reichem, modernen Anzuge so'n rechtes Marschplatt spricht.

Ich war mal in Elsfleth während eines der ersten dort gehaltenen Jahrmarkts. Eine junge schöne Dame, in einem schweren seidenen Kleide, mit goldener Uhr und Kette, trat in den Saal, wo sich die vornehme Welt der Marktbesucher versammelt hatte. Sie musterte die Gesellschaft, und als sie die gesuchten Damen, die nicht minder elegant gekleidet waren, fand, rief sie ihnen mit lauter Stimme zu: „Jü Donnersäge! lat mi twe glocken. Stün där Schit un Dreck achter Jo anrönnen, un Ji sitt hier in Drögen un drinkt Koffe! – Zwanzig Jahre sind seitdem verflossen und diese Anrede klingt mir noch immer in den Ohren! – Was ist’s nun erst für ein trübseliger Anblick, so'nen jungen Elegant anzusehen, wenn er hochdeutsch zu reden versucht. Seine Redeangst schnürt einem den Hals zu und nicht selten habe ich trotz meines Prinzips aus Barmherzigkeit einen so Quälenden aus seiner Angst befreit, indem ich ihm sagte: „ick verstah ook pladdütsch!

Könnte ich die Marschbewohner doch mit meinem Worte erreichen! – Könnte ich sie doch überzeugen, dass wahre Bildung und Plattdeutsch heut zu Tage nicht Hand in Hand gehen! –

Ich schalte hier die Bemerkung ein, um einem möglichen Missverständnisse vorzubeugen, dass es mir nicht in den Sinn kommt, zu behaupten, ein Mann, dessen Muttersprache das Plattdeutsche, sei ausgeschlossen von der heutigen Bildung. Das wäre abgeschmackt, lächerlich! – Hundertfältige Erfahrung habe ich selbst vom Gegenteil. – Ich hätte, nebenbei bemerkt, über mich selbst den Stab gebrochen! – Die Sprache des Herzens war mir bis zum Mannesalter das Plattdeutsche. Sondern ich behaupte nur, dass der, der nicht das Hochdeutsche versteht, es nicht lesen und sprechen kann, der heutigen Bildung nicht zugänglich ist.

Doch die am meisten dazu beitragen können, dass das Hochdeutsche mehr Terrain gewinne, das sind die Volksschullehrer! – Sie werden gewiss, so hoffe ich, willig dies schöne Ziel mit allen Kräften erstreben helfen; da sie's ja am besten wissen, wie sehr das Plattdeutsche ihrem Wirken hinderlich ist; und um dem Ziele näher zu kommen, wird es vielleicht nötig sein, dass sie ihre Schüler viel mehr, wie bislang wohl geschehen ist, selbst im Zusammenhang sprechen lassen. Wenn ich Lehrer wäre, so würde ich täglich einige Geschichten in der Schule erzählen oder vorlesen, und dann verlangen, dass mir am andern Tage die Kinder diese wieder erzählten; ich würde selbst die Kinder veranlassen, dass sie die schönen Geschichten, die sie in der Schule gehört haben, an langen Winterabenden ihren Eltern hochdeutsch mitteilten. Selbst die kleinsten Kinder würde ich täglich wiederholt sprechen lassen; sie sollten mir Anfangs alles das beschreiben, was sie sehn, und später sollten sie nichts lesen, das sie nicht nach der ersten Hälfte der Stunde wieder erzählten; jede Lehrstunde sollte mir eine halbe Sprechstunde ein. Auf keinen Fall würde ich aber den Rat meines Freundes Scholz *) befolgen und mit den Kindern beim Anfang des Schulunterrichts plattdeutsch sprechen; das würde einen Nachteil bringen, der sich nachher schwer wieder ausgleichen ließe; je kleiner das Kind, desto leichter erlernt es eine Sprache; es nimmt so leicht auf und es hat noch nicht veraltete Angewöhnungen zu vergessen. – Gut Deutsch sprechen ist recht schwer! Die vielen Konsonanten erfordern eine große Beweglichkeit der Sprachorgane; man kann es nicht früh genug anfangen lassen!

*) Scholz: die Volksschule. Oldenb. 1845.

Gut Deutsch sprechen würde in meiner Schule eben solch einen Anspruch auf einen höheren Platz und zu sonstigen Auszeichnungen geben, wie gutes Rechnen und Schreiben u. dergl.

In dem Schulhause würde ich kein plattdeutsches Wort dulden; selbst wenn die Kinder auf dem Schulplatze in den Zwischenstunden spielten, müssten sie hochdeutsch sprechen. Die älteren Kinder würde ich darauf aufmerksam machen, wie nützlich es ihnen im Leben sein würde, wenn sie geläufig deutsch sprechen könnten; dann würden sie auf meinen Rat öfter unter einander deutsch sprechen, wie ich in meiner Jugend auf den Rat meiner Lehrer zur Übung englisch und französisch sprach; und fingen das die älteren Kinder erst unter sich an, dann würden auch bald andre junge Leute, die der Schule entwachsen sind, Anfangs zum Scherz, später, wenn sie den Nutzen begriffen hätten, auch in allem Ernste an diesen Übungen Teil nehmen.

Wenn ich Lehrer an einer Dorfschule wäre, so würde ich mich ganz besonders bemühen, dass die jungen Leute, die längere Zeit aus der Schule entlassen sind, einen Teil ihrer langen Winterabende dazu anwendeten, die in der Schule erworbene Fähigkeit im Niederschreiben ihrer Gedanken und im mündlichen Wiedergeben derselben nicht zu verlieren; eine Abendschule konfirmierter Knaben würde ich zu Stande zu bringen suchen, wenn ich es irgend durchsetzen könnte.

Mit keinem meiner früheren Schüler würde ich als Prediger oder als Schullehrer, wenn ich später im Leben mit ihnen zusammenträfe, jemals wieder Plattdeutsch sprechen, und die Gelegenheit, mit meinen früheren Schülern zu verkehren, würde ich absichtlich aufsuchen.

Doch nicht allein die Schullehrer, nein, auch ein Jeder von uns, meine Hörer, kann mehr oder minder dahin wirken, dass die Landleute hochdeutsch sprechen lernen. So lassen Sie uns nur alle, z. B. wenn wir mit jüngeren Landleuten verkehren – mit jüngeren sage ich, denn mit älteren ist nichts anzufangen – nie mehr plattdeutsch reden, zwingen wir unsere Dienstboten, Arbeiter, Klienten, Beichtkinder usw., sich zum Hochdeutschen anzustrengen; und geben wir nur dann ihnen nach, wenn wir Grund haben zu glauben, dass wir nicht verstanden werden. Wie viel ein solcher Zwang vermag, dass sehe ich bei unsern Soldaten, mit denen die Vorgesetzten nur hochdeutsch reden. Die meisten der jungen Leute können beim Diensteintritt nur sehr holprig hochdeutsch reden; nach 15–18 Monaten ihres Dienstes wissen sie sich hingegen meistens geläufig darin auszudrücken. Einige lernen es freilich gar nicht. Ich habe in dem ersten Teile meiner kleinen Lebensbilder einen solchen Fall erzählt, wo einer unserer Soldaten im Hospitale zu Lüneburg sich dem hannoverschen Arzt nicht verständlich machen konnte. Ein deutscher Soldat wurde von einem deutschen Arzte desselben Armeecorps nicht verstanden.

Doch mehr solche allgemeine Anleitung zu geben, würde sehr überflüssig sein; jeder Einzelne weiß doch am besten, wie er in seinem Falle der guten Sache am meisten nützen kann.

Nur frisch ans Werk! Dann wird's, wenn auch langsam, gelingen! Nicht dass das Plattdeutsche ganz erlischt; darüber werden noch Jahrhunderte vergehen! – sondern dass das Hochdeutsche auch auf dem Lande mehr Boden gewinnt!

Trauern mag wohl der eine oder andre von uns, dass er diese alte, ehrliche Sprache dahingeben soll, in der man so vertraulich, so gemütlich schwatzen kann! – Doch fort mit ihr! – Es ist wahrlich jetzt keine Zeit, gemütlich zu schwatzen, zu träumen; es ist Zeit, dass wir erwachen! -

000. Über das Plattdeutsche, Titelblatt

000. Über das Plattdeutsche, Titelblatt

Reuter, Fritz (1810-1874) Mecklenburger, Dichter und Schriftsteller der niederdeutschen Sprache

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Bauernjunge

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Mittagspause bei der Feldarbeit

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Mittagstisch auf dem Bauernhof

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Ochsengespann

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Schäfermeister

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Bauerntanz

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Hart ist das Leben für die Fischer an der Ostsee.

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Ein Strandburgen-Baumeister

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