Russland und Indien

Auf Grundlage russischer und englischer Quellen bearbeitet von
Autor: Josef Schön (1863-1933) Österr. General und Militärschriftsteller, Erscheinungsjahr: 1904

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Indien, Russland, England, Kolonie, Bedeutung, Interessen, Handelsmacht, Rohstoffe, Krieg, Verkehrswege, Kaspisches Meer, Zentralasien, Expansionspolitik, Grenzverschiebung, Reichtümer,
      Es ist 200 Jahre her, dass zum ersten Mal ein russischer Zar seine Blicke über das Kaspische Meer nach Zentralasien und auf eine Verbindung mit Indien und dessen sagenhafte Reichtümer richtete, 100 Jahre, dass andere russische Herrscher, noch ohne rechte Kenntnisse über die entgegenstehenden Schwierigkeiten, an die Eroberung Indiens dachten, 50 Jahre, seit jene konsequent bis auf unsere Tage fortgesetzte russische Expansionspolitik in Zentralasien begann, welche durch Vorschiebung der Grenzen den weiten Plänen eine solidere Grundlage gab. Im Laufe dieser 50 Jahre wurde der Gedanke einer Vorrückung nach Indien in Russland fast ebenso volkstümlich wie jener Jahrhunderte alte, nationale Traum von der Wiederaufpflanzung des russischen Kreuzes auf der Aja Sofia, der Mutterkirche des orthodoxen Glaubens. Zwischen diesen beiden Gedanken der Vorrückung gegen Indien und gegen Konstantinopel — bildete sich während eben dieser 50 Jahre eine enge Verbindung heraus. Im Laufe eines Jahrhunderts, von 1768—1878, hat das mächtig aufstrebende russische Reich im Interesse der Erreichung des offenen Meeres sechs blutige, an Opfern überreiche Kriege gegen das niedergehende Osmanische Reich geführt. Der erste dieser Kriege verschob die russische Grenze vom Dniepr an den Bug (1774) und gab den Russen freie Schifffahrt auf dem Schwarzen Meer und durch die Dardanellen wie die Schutzherrschaft über die Donau-Fürstentümer; der zweite Krieg erweiterte die Grenze bis zum Dniester (1792), der dritte an den Pruth (1812), der vierte über die Donau-Mündungen (1829). Dieser Krieg hatte die russischen Heere schon bis Adrianopel gebracht. Es schien nicht unmöglich, dass der fünfte, im Jahre 1853 entbrannte Krieg Russland an das Ziel seiner Wünsche geführt hätte. Die bedrängte Türkei fand daher mächtige Bundesgenossen an den seefahrenden Westmächten, welche Konstantinopel, den Schlüssel zur Beherrschung des östlichen Mittelmeeres, nicht in russischen Händen wissen wollten und die russische Grenze wieder bis über die Donau-Mündungen und über den untern Pruth zurückschoben. Bedeutungsvoller war es noch, dass Russland die Schutzherrschaft über die Donau Fürstentümer und das Recht verlor, Seearsenale an den Küsten des Schwarzen Meeres zu unterhalten und seine dortige Flotte auszubauen, eine demütigende und drückende Beschränkung seiner Souveränität.
Inhaltsverzeichnis
  1. Die Bedeutung Indiens für England. Ziele Russlands im Persischen Golf
  2. Die russische Vorrückung in Zentralasien
  3. Die Politik Russlands in Zentralasien und Iran
  4. Die englischen Gegenmaßnahmen und die Lage in Afghanistan
  5. Beschreibung des Kriegsschauplatzes
    1. 1. Das turanische Tiefland
      2. Das zentralasiatische Gebirgsland
      3. Die Tiefebene des Indus
        Charakteristik der Verkehrswege und Verkehrsmittel
        Die Gewässer als Hindernisse und Verkehrslinien
  6. Würdigung der geographischen Verhältnisse mit Rücksicht auf eine russische Vorrückung über Afghanistan gegen den Indus
  7. Die russischen Streitkräfte
  8. Die Truppen Indiens
  9. Schlussfolgerungen
  10. Benutzte Quellen
      Damals scheint man in Russland dem Gedanken näher getreten zu sein, den mächtigsten Feind seiner Absichten, England, an einem für die russische Macht erreichbaren Punkte zu treffen, und das konnte nur Indien sein. Mit diesem Gedanken bringen panslavistische und englische Kreise die raschen und umfangreichen Eroberungen Russlands in Zentralasien in der folgenden Zeitperiode — von 1860 bis 1876 — in Verbindung.
      Der sechste Türkenkrieg, jener von 1877/78, führte die rassischen Heere bis vor die Tore Konstantinopels. Zum zweiten Male war es hauptsächlich das seegewaltige England, das die Russen um die Fruchte des teuer erkauften Sieges brachte. Und wieder kam als russische Antwort darauf der Ruf nach Indien und die Vorschiebung der russischen Grenzen bis Kuška (1879, 1880, 1884) und tief hinein in die Pamir-Gebirge (1891—1894). Wenn Russland seit 10 Jahren keine weiteren Erwerbungen mehr machte, so kann man dies zum Teile wohl dem Umstand zuschreiben, dass es seine für den asiatischen Besitz verfügbaren Kräfte in Ostasien einsetzen musste, wie auch, dass der nächste Schritt in Zentralasien von größeren Konsequenzen sein dürfte als die bisherigen, daher auch größerer Vorbereitungen bedarf.
      Schon glaubte man übrigens, dass Russland die Krise des südafrikanischen Krieges dazu benützen würde, seinen Fuß nach Herat zu setzen. An leidenschaftlichen Aufforderungen hierzu seitens der panslavistischen und der Militärpartei fehlte es nicht und die Spannung ist seither nicht mehr ganz, gewichen.
      Seit wenig Jahren stehen wir abermals im Zeichen einer entscheidenden Wendung auf der Balkan-Halbinsel. Die Ereignisse, die die Entscheidung vorbereiten und einleiten, scheinen die gesamte politische Konstellation Europas ins Wanken zu bringen und zu neuen Zusammenschlüssen zu drängen. Seit dem letzten großen Balkankriege haben sich die Interessen und die zu berücksichtigenden Machtfaktoren zum Teil verschoben neue Konkurrenten für die Verteilung der Beute sind hinzugekommen; zum mindesten eines aber ist sich gleichgeblieben: der Gegensatz russischer und englischer Ziele. Da kann man nun die zu den Wirren auf der Balkan-Halbinsel parallelen Begleiterscheinungen nicht übersehen, welche in den letzten Jahren in Asien dort, wo sich englische und russische Interessen geltend machen, hervorgetreten sind. Auf der einen Seite scheinen gewisse politische und militärische Vorbereitungen Russlands in Zentralasien einen neuen Schritt auf seinem Wege gegen den Indus anzudeuten; die wichtigsten hiervon sind die Zurückdrängung des wirtschaftlichen und politischen Einflusses Englands in Persien und die Etablierung des russischen Einflusses in diesem Lande, die russische Propaganda im Persischen Golfe, Expeditionen in das Reich des Dalai Lama und angeblich auch der Abschluss von Verträgen mit letzterem, die Erweiterung des kaukasischen Bahnnetzes an die persische Grenze, die Vermehrung der Transporteinrichtungen auf der zentralasiatischen Eisenbahn und die Fortführung der letzteren bis an die afghanische Grenze bei Kuška, die Erbauung einer große, das europäische Russland mit seinen zentralasiatischen Provinzen direkt verbindenden Bahn, die Vermehrung der turkestanischen Truppen und die Anlage fester Depotpunkte an der afghanischen Grenze u. a. m. Auf der anderen Seite sehen wir England Maßnahmen ergreifen, welche entweder auf die Erleichterung der Abwehr oder darauf abzielen, die Aufmerksamkeit und die Kräfte Russlands nach anderen Gebieten seiner ungeheuren Grenze abzuziehen und der Konkurrenzmacht Verlegenheiten auf allen Punkten zu schaffen.
      Die Vorrückung in Zentralasien und der in letzter Zeit fast bis zur Vorherrschaft gesteigerte russische Einfluss in Persien führen Russland noch einem anderen Ziele entgegen: der Erreichung des Persischen und Indischen Meeres. Auch hierbei stößt es auf den Antagonismus Englands, das die Konkurrenz einer anderen Seemacht in diesen Gewässern nicht zulassen kann, ohne seine Lebensinteressen zu gefährden; schon gar nicht, wenn diese Seemacht sich dabei auf ein Hinterland stützt.*)
      Wir glauben, damit die enge Verknüpfung einer im Brennpunkt des Interesses stehenden europäischen Frage mit derjenigen konstatiert zu haben, welche den Gegenstand des vorliegenden Themas bildet. Die angedeutete europäische Frage berührt auch unsere Monarchie auf das allerlebhafteste. Aus diesem Grunde dürfen wir wohl hoffen, dass dieses Thema, sofern es unserem Ideenkreis auf den ersten Blick zu liegen scheint, das Interesse unserer Leser finden wird. Aber auch an sich dürfte der Gegenstand unserer Erörterungen einiger Aufmerksamkeit wert sein, handelt es sich doch um die Rivalität der in Asien am meisten beteiligten europäischen Weltmächte, deren eventuelle kriegerische Auseinandersetzung von weltverändernder Bedeutung sein könnte. Fragen von solchem Inhalt, wie die zentralasiatische und indische, berühren schließlich nicht nur die unmittelbar daran beteiligten Mächte, sondern dank der tausendfachen Fäden, welche die moderne Kultur zwischen allen zivilisierten Nationen gesponnen hat, die Interessensphäre aller Staaten von Bedeutung.
      Wir werden uns darauf beschränken, nur eine Übersicht der wichtigsten Tatsachen und Verhältnisse zu geben, aus welchen diese Frage besteht und uns hüten, in das Gebiet der Spekulation zu geraten. Wir werden dabei dem militärischen Gebiet der Frage einen besonderen Raum gewähren und letzterer damit die reellste Seite abzugewinnen trachten. Wir betonen, dass wir uns hierbei auf jene umfangreiche russische und englische Literatur der letzten Zeit stützen, welche diesen Gegenstand erörterte. Gleich ferne dem Interesse und der Leidenschaft beider Teile, werden wir bestrebt sein, ein objektives und sachgemäßes Urteil über diese Frage zu gewinnen.
Vor dem näheren Eingehen auf das Thema wollen wir die Bedeutung Indiens für England und jene Interessen, welche Russland an den Indus und gegen das Indische Meer führen könnten, kurz charakterisieren.

*) Lord Curzon, der Vizekönig von Indien, sagt, dass ein russischer Hafen im Persischen Meere eine Herausforderung zum Krieg wäre. Der britische Minister, der die Übergabe eines Hafens an Russland zulassen würde, wäre ein Vaterlandsverräter. Die Sicherheit Indiens verlange die Bekämpfung des russischen Einflusses in Persien und im Persischen Golf.

Indien 000

Indien 000

Russland 035. Moskau, Basilius-Kathedrale (Erbaut 1554-1557)

Russland 035. Moskau, Basilius-Kathedrale (Erbaut 1554-1557)

Russland 036. Moskau, Das Rumjänzew-Museum (Erbaut 1787, Sammlung von Nationaltrachten und russischer Kunst)

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Russland 037. Moskau, Das große Theater

Russland 037. Moskau, Das große Theater

Russland 037. Moskau, Die Universität (1755)

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Russland 039. Moskau, Die Twerskaja

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Russland 040. Moskau, An der Kremlmauer, Blick auf das Troizkija-Tor

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Russland 040. Moskau, Die Uspenskij-Kathedrale im Kreml (Krönungskirche des Jahren 1475-79)

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Russland 041. Moskau, der Kreml

Russland 041. Moskau, der Kreml

Russland 042. Moskau, Die Archangelskij-Kathedrale im Kreml (Grabkirche der Moskauer Zaren, 1505-1505)

Russland 042. Moskau, Die Archangelskij-Kathedrale im Kreml (Grabkirche der Moskauer Zaren, 1505-1505)

004 Schiwa als Nateswera, der Herr der Tänzer (Trichinopoly)

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006bMahadöh (Schiwa) und Dschaganmaki (Schiwatempel Trichinopoly)

006bMahadöh (Schiwa) und Dschaganmaki (Schiwatempel Trichinopoly)

002 Nautchgirls fahren zum Tempel

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001 Nautchgirl

001 Nautchgirl