Theaterkritik. Rostock 1825

Autor: anonym aus: Freimütiges Abendblatt, Band 8 (1826), Erscheinungsjahr: 1825
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg, Hansestadt Rostock, Theater Rostock, Theaterkritik
Unter den im Theater jüngst gegebenen Stücken zeichnete sich Schillers Jungfrau von Orleans aus. Demoiselle Riese, die das Publikum als Johanna zu sehen erwartete, hat in der Demoiselle Pühler, der Sängerin, eine Nebenbuhlerin für die Rollen des höheren Drama erhalten. Bereits als Johanna von Montfaucon hatte diese die Aufmerksamkeit des Publikums erregt, und scheint auch gestern Abend in der Rolle der Jungfrau nicht ohne Beifall geblieben zu sein; aber im ganzen herrscht eine erhebliche Geteiltheit der Urteile über diese von der Direktion begünstigten Ansprüche der Demoiselle Pühler auf eine gewisse Universalität, die bei einer so jungen, mit rohen Naturkräften waltenden Anfängerin auf Klippen führen muss. Demoiselle Riese hat wenigstens den Vorteil im voraus, dass sie sich auf ein Hauptfach beschränkt, und hinsichtlich der Zartheit des Wuchses, der Anmut und Sicherheit in den Bewegungen, entschiedene Vorzüge vor ihrer Nebenbuhlerin besitzt, die dagegen den unschätzbaren Vorteil einer größeren Temperamentskraft und einer stärkeren, tönenderen, wenngleich noch ganz unausgebildeten, Sprachorgans hat.
Beide stehen erst im Beginn ihrer Kunstlaufbahn; vergebens sehen sie sich nach einer Schule um: können unsere Theater-Direktionen an so etwas denken?