Rostock 1807 - Von der Aufklärung in Rostock, und dem sittlichen Charakter der Einwohner - (01)

Aus: Bemerkungen aus dem Gebiete der Heilkunde und Anthropologie in Rostock. Bd 1. Medizinische und anthropologische Bemerkungen über Rostock und seine Bewohner
Autor: Nolde, Adolf Friedrich Dr. (1764-1813) Professor der Medizin, Erscheinungsjahr: 1807

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Hansestadt Rostock, Aufklärung, Sittlichkeit, Humanität, Moralität, Gefühl, Pflichten, Handlungen, Vollkommenheit, Unwissenheit, Fesseln, Glück, Apathie, Pflichtgefühl, Natur, Einschränkung, Erkenntnis, Erleuchtung, Kultur, Recht, Erkenntnisvermögen, Urteilskraft, Urteilsvermögen, Ausbildung, Bildung, Wissen, Charakter, Handlungsweise, Zweck, Vervollkommnung, Wirkung, Entwicklung, Periode, Maßregel, Parteien, Hauptzweck, Menschengeschlecht, Mitbürger, Unrecht, Richter
Wenn man in unseren Zeiten den Wert der so genannten Aufklärung nach dem Maßstab der Sittlichkeit bestimmen will: so scheint es nicht selten, als ob beide einander ganz entgegen gesetzt, oder doch wenigstens so verschieden wären, dass man der einen von ihnen entsagen müsse, wenn man der anderen huldigen wolle. Daher kommt es denn auch, dass noch immer viele sittlich gute Menschen so sehr gegen die Aufklärung eingenommen sind: weil sie ihres anlockenden Titels ungeachtet, nichts als Unheil und eine Auflösung aller Bande der Sittlichkeit befürchten; so wie mancher, stolz auf die Vorzüge, welche er seiner Aufklärung zu verdanken glaubt, sie auf Kosten der Sittlichkeit erhebt, und, gleichgültig gegen diese, ihr beinahe allen Wert abspricht, weil ihm die Aufklärung, in welcher er seine ganze Würde sucht, sich damit nicht vereinbaren zu lassen scheint.

Es wäre doch in der Tat eine sehr demütigende Wahrheit, wenn wir nach einer sorgfältigen Prüfung der Begriffe von Aufklärung und Moralität diesen Abstand bestätigt fänden, ein sehr beunruhigendes Dilemma für jeden, der nicht in einer tierischen Apathie zu leben wünscht; wenn ihm nur die Wahl von einer dieser Töchter des Himmels frei stände: und für jeden sittlich braven Mann gewiss eine sehr abschreckende Erfindung; dass man unter dem glänzenden Namen der Aufklärung eine Handlungsweise einzuführen wagte, an der jede moralische Kritik scheitern müsste. Aber, dem Himmel sei Dank! wir haben dies alles von einer wahren Aufklärung, von einer beglückenden Moralität nicht zu befürchten. Wenn diese aus dem inneren Gefühl unserer Pflichten entspringt, das gleich einem unsichtbaren Führer unsere Schritte leitet, und unsere Handlungen bestimmt: so will unser Verstand nicht immer die Fesseln der Einschränkung und Unwissenheit tragen, sondern strebt unaufhaltsam nach Einsicht und höherer Vollkommenheit; wenn wir nur einmal die Fesseln ein wenig gelöst haben. Beides, Verlangen nach höherer Erkenntnis und Handeln nach dem richtenden Pflichtgefühl, scheint unserer geistigen Natur angeboren, und ihr so tief eingeprägt zu sein, dass es sich von ihr nicht trennen lässt. Was ist aber Aufklärung anders, als Erleuchtung unserer Begriffe, die auf vermehrter Erkenntnis beruht? Wir stellen sie doch gewöhnlich, und das mit Recht, der Unwissenheit entgegen; denn aufgeklärt können wir überall wohl nur den nennen, der schon aus dem Zustande der Unwissenheit hervorzugehen angefangen, oder denselben wirklich verlassen hat. Die Bearbeitung und Kultur unsere Erkenntnisvermögens ist das, was die Aufklärung gibt; sie muss die Grenzen unserer möglichen Erkenntnis, ihrer Wahrheit und Unwahrheit mit Hilfe der Urteilskraft bestimmen, welche gleichfalls die Kritik der Handlungen nach dem Maßstab des sittlichen Gefühls und der praktischen Vernunft übernimmt. Die Urteilskraft ist also gewissermaßen die Vermittlerin, welche die Aufklärung des Verstandes mit der Sittlichkeit verbindet. Sollten beide wirklich, einander so fremd und von so heterogener Natur sein, dass sie nicht zusammen bestehen könnten: so würde die Urteilskraft sie schwerlich zu vereinbaren vermögen.

Aber wozu hätten wir auch jenen Drang nach Erkenntnis, dessen Befriedigung von so wohltätigen Folgen für alle unsere menschlichen Verhältnisse ist, zugleich mit einem richtenden Gefühle erhalten, das jeden Fortschritt in der Erkenntnis verdammte, jeden Wunsch nach ihrer Vervollkommnung verbitterte? Ist es wohl wahrscheinlich, dass zwei unserer geistigen Natur anerschaffene Prinzip jeder Vereinigung widerstreben, und folglich uns nur zur Qual gegeben sein sollten? Würde auch selbst unsere Urteilskraft nicht etwas sehr überflüssiges sein? Dass sie dies aber nicht ist, dass sie vielmehr zu unserer Ausbildung und Vervollkommnung dient, dass sie uns die Beförderin der Humanität wird; dafür bürgt uns schon die Erfahrung, dass Aufklärung und Moralität sehr gut mit einander bestehen können. Handelt denn immer nur der Unwissende, der Unaufgeklärte moralisch gut; und ist der Aufgeklärte wirklich allemal ein unsittlicher Mensch? Ich glaube nicht, das jemand, auch selbst der größte Feind der Aufklärung r die Frage bejahend beantworten wird; wenigstens könnte man ihm das Gegenteil in tausend Fällen vor Augen legen. Aber eben so wenig, als irgend ein Mensch es wagen darf, auf sittliche Vollkommenheit Anspruch zu machen: eben so gewiss ist es leider, dass nicht alle in gewisser Hinsicht aufgeklärte Menschen auch sittlich gut und wahrhaft tugendhaft sind; und dies ist gerade der Umstand, der so leicht Veranlassung zu einem falschen Urteil über den Wert der Aufklärung gibt. Worin liegt der Grund von jenem Widerspruch; und wie lässt sich dieser heben, ohne der Aufklärung selbst mit einem gewagten Machtspruch in den Weg zu treten?

Es gibt unstreitig eine wahre und eine vermeinte Aufklärung. Die letztere sollte diesen ehrenvollen Namen nicht führen, weil sie ihn nicht verdient. Die wahre Aufklärung besteht aber nicht in einer eitlen Vielwisserei, in einer beruhigenden Zufriedenheit mit dem größeren oder geringem Zuwachs an Erkenntnis, oder wohl gar in einer gefährlichen Verachtung alles sittlichen Gefühls, und aller gesellschaftlichen Ordnung. Dann möchte man lieber auf sie gänzlich Verzicht leisten, die Unwissenheit ihr vorziehen, und jedes Land glücklich preisen, aus welchem man sie verbannt hätte. Aber dies Schicksal verdient nur die vermeinte, die falsche Aufklärung, die jene Bestimmung charakterisiert. Wahre Aufklärung hingegen besteht in einer allgemeinen Vervollkommnung unserer geistigen Natur, in einer harmonischen Ausbildung jeder in uns schlummernden Fähigkeit, die durch sie an Umfang und Stärke gewinnt. Durch sie muss der Mensch den Bezirk seiner Kenntnisse nicht nur erweitern, sondern auch ihren Einfluss und Wert bestimmen lernen; durch sie seine eingepflanzten Gefühle leiten, ordnen und bestimmen; durch sie sich zu dem Punkt erheben, dass er alles Wissen mit seiner Handlungsweise in Verbindung bringt, alle Kräfte seines Ichs zu einem Zwecke wirken lässt, und diesen Zweck in seiner eigenen Vervollkommnung, so wie in der Vervollkommnung seiner Mitbrüder sucht, die von dem wahren Glücke des Menschen nicht getrennt sein kann. Diese Aufklärung ist also gewiss das Ziel, dass jeder Mensch zu erreichen streben muss; das einzige und wirksamste Mittel, was ihn zur Humanität bildet, was ihn gleichsam über die tierische Natur, die keiner Moralität fähig ist erhebt, ihn menschlich zu sein lehrt, und, dass ich mich dieses Ausdruckes bediene, ihn zum Ebenbild Gottes macht. Wer es sich getraut, alle diese Vorzüge des Menschen zu verachten, und verdächtig zu machen, der mag immerhin jene Aufklärung verdammen; für ihn ist sie nicht: aber wer mag ihm auch den Wert des Menschen zuerkennen, den er nicht zu schätzen weiß, da er sich selbst bis zum unvernünftigen Tier, herabwürdigt?

Man verzeihe mir diese Entwicklung des Begriffs der Aufklärung, die manchem vielleicht hier am unrechten Orte zu stehen scheint. Es ist zwar schon gar viel über Aufklärung geschrieben; man hat sie auf der einen Seite gepriesen, auf der andern Seite wieder verachtet. Man hat sie zwar schon vielfach zu bestimmen, und von der falschen Aufklärung zu unterscheiden gesucht: aber man hat sich auch eben so sehr über manche Vorfälle der neueren Zeiten formalisiert, und alles Unheil, was die Welt in dieser Periode erfuhr, der Aufklärung aufgebürdet; kurz, sie hat noch immer ihre mächtigen Feinde und Widersacher, wenn es ihr gleich nicht an Freunden und Verehrern fehlt.

Allein wir müssen es uns selbst gestehen, dass die Verfolgung ihrer Feinde im Ganzen noch immer wirksamer gewesen ist, sie zu verdrängen, als der geringe Schutz ihrer Beförderer sie zu verbreiten im Stande war. Beide Parteien handelten freilich nach ihrer Überzeugung, aber dem unparteiischen Forscher genügt dies nicht, — er will auch wissen, auf welcher Seite die Wahrheit liegt, um darnach seine Maßregeln zu nehmen. Mir scheint die Beantwortung dieser Frage gar keine Schwierigkeit zu haben; denn auch hier finden wir offenbar bald die Bestätigung des bekannten Satzes, dass die Wahrheit, wie gewöhnlich, von beiden Extremen gleich weit entfernt ist. Aber eben dieses halte ich, in dem gegenwärtigen Falle für so wichtig, dass man es, so lange der Streit fortdauert, wohl nicht oft genug wiederholen kann, und dass man insbesondere diejenigen bei jeder Gelegenheit darauf zurückführen muss, die so gern Partei nehmen, ohne selbst vorher unter sucht und geprüft zu haben. Die Anzahl dieser Nachbeter ist noch immer so groß, dass sie alle Aufmerksamkeit verdient; und es wird daher nicht überflüssig sein, ihnen zu sagen, dass nur die wahre Aufklärung Unterstützung verdient, diese aber auch, wegen ihres unleugbar wohltätigen Einflusses auf das ganze Menschengeschlecht, der Hauptzweck eines Jeden, und das Ziel sein sollte, welches Jeder nach allen seinen Kräften zu erringen als Mensch verpflichtet ist. Wie sehr diese Wahrheit auch von meinen Mitbürgern beherzigt zu werden verdient, und ob ich Unrecht habe, wenn ich sie ihnen hier besonders ans Herz lege; das mögen unparteiische Richter beurteilen, wenn sie das Folgende gelesen haben.

Rostock - Giebelhäuser bei der Nicolaikirche

Rostock - Giebelhäuser bei der Nicolaikirche

Rostock - Markt, Marienkirche und Blutstraße

Rostock - Markt, Marienkirche und Blutstraße

Hansestadt Rostock - Stadtansicht

Hansestadt Rostock - Stadtansicht

Hansestadt Rostock, Große Wasserstraße mit Kerkhoffhaus (1470) Sommer 1968

Hansestadt Rostock, Große Wasserstraße mit Kerkhoffhaus (1470) Sommer 1968

Rostock, Neuer Markt mit Ladenzeile 1967

Rostock, Neuer Markt mit Ladenzeile 1967

Hansestadt Rostock, Giebelhäuser und Marienkirche

Hansestadt Rostock, Giebelhäuser und Marienkirche

Rostock, Stadthafen, 1968

Rostock, Stadthafen, 1968

Rostock, Stadthafen, Segelschulschiff

Rostock, Stadthafen, Segelschulschiff "Wilhelm-Pieck", 1968

Rostocker Umland mit Bauernhof, 1968

Rostocker Umland mit Bauernhof, 1968

Rostock - Kröpeliner Tor

Rostock - Kröpeliner Tor

Rostock, Lange Straße, Marienkirche in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts

Rostock, Lange Straße, Marienkirche in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts

Hansestadt Rostock, Neuer Markt (zum Zeitpunkt der Aufnahme: Erst-Thälmann-Platz) 1967

Hansestadt Rostock, Neuer Markt (zum Zeitpunkt der Aufnahme: Erst-Thälmann-Platz) 1967

Hansestadt Rostock, Stadthafen mit Großsegler, 1968

Hansestadt Rostock, Stadthafen mit Großsegler, 1968

Rostock vor dem Steintor

Rostock vor dem Steintor

Rostocker Wallanlagen und Kröpeliner Tor, 1968

Rostocker Wallanlagen und Kröpeliner Tor, 1968

Rostock-Warnemünde, Alter Strom, Eisgang 1968

Rostock-Warnemünde, Alter Strom, Eisgang 1968