Reformation der Wismarschen Stadtschule

Autor: Redaktion - Freimütiges Abendblatt, Erscheinungsjahr: 1826
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg, Wismar, Schulreform, Stadtschule, Lehrplan
Aus: Freimütiges Abendblatt. Achter Jahrgang. Schwerin, den 6ten Januar 1826. 03

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Heute Morgen wurde der als ordentlicher Lehrer an unsere Stadtschule berufene Hr. Dr. Franke, und ein zweiter Schreib- und Rechenmeister, Hr. Wetterich, unter den bei dieser Gelegenheit üblichen Feierlichkeiten vom hiesigen Scholarchat eingeführt, und und Morgen beginnt die Verwirklichung eines neuen, von derselben Behörde entworfenen und vorgeschriebenen Lektions-Plans und einer erneuerten Disziplin, welche letztere von einer nächstens erscheinenden Schulordnung ihre nähere Bestimmung und Bestätigung erwartet. Auf die Frage nach der Tendenz dieser Reformation und nach den Vorteilen, die wir damit gewinnen werden, lässt sich Folgendes antworten.

Als vor etwa 40 Jahren und darüber die politischen Reformen das Beispiel gaben, brachen, wie in mehreren Dingen, auch die veralteten Formen des Erziehungs- und Unterrichtswesens zusammen. Pedantismus und Schlendrian, sah man ein, hatten die geistige Kraft, die durch Erziehung und Unterricht geweckt und gestärkt werden sollte, vielmehr eingeschläfert und ertötet. Die erwachte Außenwelt rüttelte, wie gesagt, auch hier aus dem Schlafe auf. So wie aber in jener der Enthusiasmus keine Grenzen kannte, und mit den alten Formen auch das Gute, das in sie eingekleidet gewesen, gleich den Bilderstürmern, schonungslos zerschlug; so arbeitete derselbe auch im Erziehungs- und Unterrichtswesen im blinden Eifer aufs entgegengesetzte Extrem los. Unter andern ward die Bildung durch das Studium der alten Sprachen — wiewohl die Geschichte der kirchlichen Reformation lehrte, dass gerade dieses, wenn es nur recht getrieben würde, das beste Beförderungsmittel der Aufklärung sei — jetzt von vielen pädagogischen Reformatoren nicht nur als entbehrlich, sondern wohl gar der wahren Menschenbildung hinderlich verschrien. Wenigstens mussten die sogenannten Humaniora dem Unterrichte in den Realien weichen. Ein wenig Latein höchstens ward noch getrieben, weil man sah, dass man dessen zu manchem Behufe doch nicht ganz entbehren konnte. Dagegen ward der unreife Verstand mit einer ungemessenen Menge von Kenntnissen vollgepfropft, die freilich dieser oder jener Staatsbürger dereinst nötig hat, die aber der in der geistigen Gymnastik noch rohe, ungeübte Knabe doch nicht fassen und behalten konnte; neue Wissenschaften wurden gelehrt, deren Namen bisher in Schulen unerhört gewesen; oder da, wo früher der Schüler lateinische Verse skandierte und Ausarbeitungen fertigte, sah man jetzt die Holzdrechsler, die Papparbeiter sitzen und das teure Papier, anstatt es zu beschreiben, verschneiden und verkleistern. Man suchte durch die leichtesten Anstrengungen das Schwerste zu erreichen. Mit einem Worte, es bildete sich das Prinzip des sogenannten Philanthropinismus und der Realbildung aus, und ward als das erschienene alleinige Heil der Welt gepriesen.

So wie aber in der politischen Welt bald eine Reaktion eintrat, die, wenn auch nicht den alten Schlendrian, der mit Recht verwerflich war, doch die gute alte Ordnung der Dinge wieder zurückführte, und durch Zucht und Gesetz für das wahre Wohl der Menschheit sorgte; so geschah es auch hier. Man fand bald, dass auch der Philanthropinismus ein Schwindelwesen, und von dessen unbedingter Herrschaft kein festes Wohl für die geistige Bildung der Menschheit zu erwarten sei; man sah aus den Philanthropinen wenig oder nichts Bedeutendes hervorgehen; die Vielwisserei, welche dessen Tendenz war, trat nur in Begleitung der Seichtheit und Oberflächlichkeit auf; die der Gründlichkeit treu gebliebenen alten Anstalten waren es noch immer, welche die brauchbarsten Staatsbürger bildeten: und so musste denn die Glorie um das Haupt des Philanthropinismus, welche die Augen der Menge bisher geblendet hatte, wieder verschwinden. Die philanthropinischen Anstalten gingen wieder ein, oder modifizierten sich nach den gereinigten Ansichten der Zeit. Man empfahl wieder, und zwar unmittelbar von Seiten der obersten Staatsgewalt, das Studium der alten Sprachen, als die Hauptsache für Schulen; man beschränkte die Realien: man suchte durch vermehrte Anstellung, anständigere Besoldung und ehrende Auszeichnung talentvoller Lehrer jenes Studium zu heben, man bedingte die Aufnahme auf den Universitäten durch geprüfte und bescheinigte Tüchtigkeit in den philologischen Wissenschaften. Mit einem Worte, das philologische Prinzip, dessen Haupttendenz die formelle Geistesbildung ist, trat wieder in die alten Rechte, und scheint, unterstützt durch die Verordnungen weiser Regierungen und obrigkeitlicher Behörden, sie fernerhin behaupten zu dürfen: denn einzelne Stimmen, die von Köpfen, in welchen der alte Schwindel noch nicht verraucht sein mag, dagegen erhoben werden, hört man nicht.

So ist denn auch in unserem Vaterland, nach dem vorleuchtenden Beispiele des benachbarten Preußens und anderer Staaten, schon viel Rühmliches für die gründliche Bildung nicht nur des sogenannten gelehrten, sondern auch des Militär-, Kaufmanns-, Landmanns- und Handwerks-Standes geschehen, und wird hoffentlich immer mehr geschehen. Anstalten sind neu gegründet, ältere reformiert, neue Gesetze gegeben, ältere geschärft worden.

Hinter diesen Bestrebungen will denn nun auch die Obrigkeit unserer Stadt nicht zurückbleiben. Und wenn man auch nicht behaupten darf, dass gründliche Bildung der Schüler nicht schon bisher der Hauptzweck unserer Schule gewesen; wenn vielmehr auch bei uns die gründliche Erlernung der alten Sprachen, neben der Mathematik, Geschichte und andern Hilfswissenschaften, als das Hauptziel festgesetzt war: wenn auch unsere Schule bisher einer verhältnismäßigen Frequenz sich erfreute, welche man ja immer als einen Maßstab der Güte anzusehen pflegt: so scheint aus dem neuen Plane doch hervorzugehen, dass es die Absicht der Obrigkeit ist, in dieser Hinsicht einen Schritt weiter zu gehen, um den Forderungen der Zeit zu entsprechen und unsere Stadtschule nicht hinter andern Anstalten zurückbleiben zu lassen. Dafür spricht die Einrichtung zwei neuer Klassen zum Behuf des abgesonderten Unterrichts der Bürgerschüler; die Vermehrung der Lehrerzahl um zwei; die Ausdehnung des Unterrichts in der griechischen Sprache, welcher künftig bis Quarta und in den oberen Klassen in mehr Stunden als bisher erteilt werden soll: die Anordnung des Unterrichts in der hebräischen Sprache für Prima und Sekunda; in der französischen für alle Klassen, außer Quinta; so wie auch die Erweiterung des Unterrichts in der englischen Sprache und in der Mathematik. Außer diesen Unterrichts-Gegenständen wird neben dem Religionsunterricht hauptsächlich der Muttersprache, der Geschichte, dem Schreiben und Rechnen besondere Rücksicht gewidmet, ohne jedoch Physik, Geographie, Naturgeschichte u. s. w. ganz auszuschließen. Endlich sind Zwecks der Beratung über die möglichst zweckmäßigste Ausführung des neuen Plans, hinsichtlich des Unterrichts sowohl, als der Disziplin und was dahin gehört, vom Scholarchate Lehrerkonferenzen zu festgesetzten Zeiten angeordnet, und somit einer bleibenden Reformation des hiesigen Schulwesens der Weg und die Richtung angewiesen worden, so dass man hoffen kann, mit andern Anstalten hinfort wenigstens gleichen Schritt halten zu können.

Das hiesige Publikum scheint mit dieser neuen Ordnung der Dinge im allgemeinen sehr zufrieden; nur gegen eine Erhöhung des Schulgeldes für die gelehrten Klassen erheben sich hier und da einige Stimmen, wie gewöhnlich in solchen Fallen. Diese Erhöhung war aber wegen vermehrter Lehrer- und Stundenzahl ganz unumgänglich nötig, wenn die bisherigen Lehrer in ihrem Einkommen nicht gekürzt werden sollten, und ist überdies so mäßig, dass wir wenigstens in dieser Hinsicht noch gegen andere Schulen zurückbleiben.
Wismar, den 6. Januar 1826.

Wismar – Nikolaikirche an der Frischen Grube

Wismar – Nikolaikirche an der Frischen Grube

Wismar – Hafen; Marien- und Georgenkirche

Wismar – Hafen; Marien- und Georgenkirche