Pommern - Stralsund. Überfahrt nach Rügen.

Aus: Deutschland und die Deutschen. Band 2
Autor: Beurmann, Eduard (1804-1883) deutscher Advokat, Journalist und Redakteur, Erscheinungsjahr: 1839
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Pommern, Landesbeschreibung, Land und Leute, Sitten und Gebräuche, Kultur-, Sitten- und Sozialgeschichte, Bildung, Lebensverhältnisse, Besitzverhältnisse, Stralsund, Schill, Wallenstein, Gölln, Rügen, Altefähre, Ostsee
Von Greifswald nach Stralsund gelangt man in acht Stunden, obwohl die Postmeilen kürzer sind, als die gewöhnlichen, die in Pommern kein Ende nehmen. Man erblickt die Stadt bereits aus weiter Ferne, da sie ganz in der Ebene liegt und von ziemlich hohen Türmen überragt wird; indes dieser Anblick, zwischen welchem und der Stadt wenigstens noch eine Meile liegt, fordert unsere Geduld, wie in ähnlichen Fallen, nicht heraus; denn die Gegend, die wir durchfahren, ist reich und überladen, und zur Rechten braust die Ostsee um die heiligen Haine Rugias, in die sich der Horizont verliert, der alten Rugia, die wie die Meerspinne nach allen Seiten hin Beine und Arme und Fühlfäden streckt, und da, wo man der Welt Ende wähnt, eine neue Schöpfung bezeichnet.

Stralsund wird im Norden von der Meerenge Göllen *) begrenzt, nach allen anderen Seiten hin aber von Teichen süßen Wassers, die aus entfernten Seen Zufluss erhalten. Somit scheiterte Wallenstein an dieser Festung und musste sich mit dem Admiralshut des baltischen Meeres begnügen.

*) Die Schreibarten variieren hier, man liest Göllen, Gallen, Gellen.

Übrigens bewiesen schon die verbündeten Dänen und Preußen, dass sie doch nicht „mit Ketten am Himmel hing“, noch mehr aber die Franzosen, die sogar die Wälle schleiften, die nun in erträgliche Promenaden umgewandelt sind. Stralsund war früher Hansestadt und erhielt sich seine Gerechtsame nicht nur unter Schweden, sondern auch unter Preußen, das hier erst 1830 mit der Städteordnung durchdrang und dem magistratlichen Übergewicht, das auf mittelalterlicher Basis beruhte, Grenzen setzte. Dass die neue Einrichtung schon deshalb ersprießlicher ist, weil sie Regel in der ganzen Monarchie ist, wird man gern glauben; da sie nun auch in Betreff der inneren städtischen Angelegenheiten die größtmöglichste Freiheit gewährt und insonderheit die städtische Gesetzgebung und Finanzverwaltung freigibt, so wird man auch eine Beschränkung der Stadt durch die Ausdehnung der Städteordnung nicht behaupten können. Nichtsdestoweniger möchten die Stralsunder lieber in dem alten Verhältnis geblieben sein, wie man denn überhaupt hier noch viele schwedische Sympathie gewahrt und selten von einem „Neuvorpommern“; wohl aber von „Schwedisch-Pommern“ sprechen hört. So windig sieht es mit deutscher Nationalität aus, dass die Gewohnheit an fremde Einflüsse, besonders wenn dieselben milde sind, nicht selten zur anderen Natur wird, die sich erst allmählich wieder abschleift. War die Besitznahme Pommerns von Seiten Schwedens nicht auch eine Usurpation? Aber die Pommern erblickten in Preußen nur Preußen, nicht eine deutsche Macht. Ich will damit übrigens nicht im geringsten behaupten, in Stralsund, wie anderwärts, herrsche eine Antipathie gegen die neue Einrichtung, nein, durchaus nicht; aber der Indifferentismus muss durch unzählige kleine Impulse, die die umsichtige preußische Regierung hier, wie allenthalben, gibt, zum Patriotismus verklärt werden. Wenigstens denkt der Stralsunder erst zuletzt daran, dass er ein Deutscher ist. Wäre er, hinsichtlich des Mittagmahls, noch ganz Schwede, so ließe sich dagegen wenig einwenden; denn die scharfe Atmosphäre der Ostsee macht das Gläschen Liqueur schon erträglich, das vor der Suppe umhergereicht wird, und der Käse, der es begleitet, regt den Appetit an. Aber der Stralsunder hat von dem Schweden nur die Sitte ererbt, vor der Mahlzeit etwas zu genießen, das dieselbe einleitet, hinsichtlich dessen, was genossen wird, verfährt er nach umfassenderen deutschen Grundsätzen. Nicht Käse und Liqueur leiten die Mahlzeit ein, sondern ein ganzer Tisch kalter Speisen und Ragouts. Man glaubt sich am Ende, wenn die Suppe kommt, und hat doch nur einen „Anbiss“ gekostet.

Die Merkwürdigkeiten Stralsunds sind erträglich, rechnet man das hohe Gewölbe der Marienkirche ab und die feinen und mühsamen Schnitzwerke des Altars der Nikolaikirche, die eben so sehr von der unermüdlichen Geduld des Meisters Kunde geben, wie von seiner Kunstfertigkeit. Aber Wolken lassen sich doch nicht wohl aus Holz drechseln, wenigstens erhalten die auf ihnen schwebenden Engel den Anschein, als säßen sie im Holze fest, oder hätten einen Klotz am Bein, der sie an der Himmelfahrt hinderte. Der Deckel des Taufsteins dieser Kirche wird von Tugenden getragen. Welche Tugenden diese Arbeit verrichten, ersieht man nicht leicht. Übrigens müssen es schon Kardinaltugenden sein; denn der Taufstein ist sehr schwer.

Zwischen den Tugenden stehen die Evangelisten, abseits der Stifter des Altars mit seiner Ehefrau, die sich besser durch ihren einfachen Namen verewigt hätten, denn in effigie. Die enge, knappanliegende sonntägige Mode dieser frommen Leute kontrastiert sehr mit dem weiten faltigen Anzug der Evangelisten, will man auch die Leichenbittermienen gar nicht berücksichtigen. Außer den für das jetzige Stralsund offenbar zu umfassenden Kirchen an und für sich, muss man auch den sehr seltsamen gotischen Stil derselben im Innern beachten. Sonst verlieren sich die Pfeiler gewöhnlich schlank und kräftig durch sich selbst in das Gewölbe, das sie tragen, hier aber sind sie häufig durch Zwischenbögen gehalten, über die sie weiter emporsteigen zum Gewölbe. Die Symmetrie, die dabei verwendet ist, lässt diese vorsichtige Einrichtung fast wie eine Spielerei der Architektonik erscheinen, und man übersieht ganz, dass sie eigentlich nicht zu dem einfachen und erhabenen Eindruck gotischer Kunst gehört; denn das Gewölbe selbst ersetzt diesen Mangel durch seine himmelanstrebende Ausdehnung. Von der Wasserkunst vor dem Kütertore, die die Stralsunder gern zu ihren Merkwürdigkeiten zählen, kann man füglich schweigen, wenigstens ist sie nur eine Hilfe in der Not und schafft aus einem Teiche nicht ganz so unerträgliches Wasser in die betreffenden Röhren, wie die Brunnen enthalten. Ein Fremder wird es leicht ungenießbar finden und zu einer Destillation raten, wie man dieselbe in Paris vornimmt.

Will man in Stralsund den Eindruck einer Seestadt empfinden, der übrigens, in Vergleich mit anderen Häfen, sehr mäßig ist, so muss man sich auf die Brücke begeben, ein in die Meerenge Göllen einige hundert Fuß vorspringendes Bollwerk, wo die Schiffe landen und das bunte Gewirre der Matrosen und der mit der Ladung Beschäftigten ein unterhaltendes Leben gewährt. Meine Blicke flogen bald hinüber zu der höchstens eine kleine halbe Stunde entfernten Insel Rügen, die still und matt in der Umarmung des Meeres zu ruhen schien; denn noch vor Kurzem hatten sich die Wellen am Strand gebrochen, gleich als feiere das Meer eine Schäferstunde mit der Insel. Die dichten Wälder von Rügen versperrten die Aussicht in die Ferne, das blaue Haupt der Insel verschmolz mit dem blauen Himmel, der sich wie zum Kusse herniederbeugte auf die bunten Waldungen aus Eichen, Buchen und Tannen, und das Meer regte sich eifersüchtig zu den Füßen der Geliebten von Neuem. Nordöstlich lag Dänholm, eine kleine Insel, die ehedem Strela oder Stral hieß und Stralsund den Namen gegeben haben soll, und nordwestlich jenseits Ummanz schaute das gespenstige Hiddensee herüber mit Heiden und Moor; eine alte Walküre tritt diese Insel unter den übrigen hervor, die Rügen umlagern. Nur einige Büchsenschüsse Wegs liegen zwischen Stralsund und Rügen, nur einige kräftige Ruderschläge, und wir landen in Altefähre; da bemerkte mir ein Stralsunder Eckensteher — denn diese Einrichtung ist mir Preußen und Berlin auch über Pommern gekommen — ob ich nicht den Platz sehen wolle, wo Schill gefallen? Ich ging mit ihm zurück in die alten engen Gassen, unter die Giebelhäuser, und unweit des Rathauses, wo der Magistrat nach Pflicht beisammen saß und der Dinge harrte, die da kommen würden, als sich Holländer, Dänen und Preußen in den Straßen von Stralsund auf Tod und Leben schlugen, unweit des Rathauses ist eine Nebengasse, und an dem Eckhause dort, an dem kleinen friedlichen Eckhause fiel Schill. So sagte mir der Eckensteher wenigstens, der sich rühmte, ein Augenzeuge des Kampfes gewesen zu sein. Wenn ich der letzteren Behauptung auch keinen Glauben schenken mochte, so traute ich doch der Tradition, die der Auseinandersetzung des Mannes sicher zum Grunde lag, obschon man lange Zeit gerade in Stralsund behauptete: Schill sei nicht tot, sondern nach England entflohen, und er werde wieder zum Vorschein kommen, wenn die Stunde des Gerichts schlage. Aber Schill kam nicht wieder zum Vorschein und die preußische Regierung stellte die Offiziere des Zugs, die Napoleon nicht in Wesel erschießen ließ, vor ein Kriegsgericht, wo sie wenigstens zum Schein kassiert werden mussten. Ich sage, Schill kam nicht wieder zum Vorschein, aber sein Kopf lag bis auf die neueste Zeit im Weingeiste des Museums zu Leyden, denn die Holländer mussten dafür halten, ein Kopf, auf den man in Kassel allein 10.000 Frcs gesetzt, müsse einigen Wert haben, wenn schon die eigenen Landsleute diesen Kopf für einen „ruhestörenden“ Kopf erklärten. Wenn man doch einmal Denkmäler setzt, so sollte man auch Schill diese Ehre geben. Ob Hermann, der Cherusker, dem Volke in dem Sinne angehörte, dass er nur des Volkes wegen das Banner entfaltete, müssen wir glauben. Schill aber und die zweitausend Mann, die mit ihm in Stralsund erlagen, gehörten unzweifelhaft dem Volke an, das zu jeder Zeit bereit war, Großes zu tun, aber eben deshalb nicht immer zur rechten Zeit. Die rechte Zeit benutzen nur die Fürsten; aber die Denkmäler gehören dem Volke, das sich zur rechten und unrechten Zeit aufopfert.

Nachdem ich den Ehrenplatz Schills besichtigt hatte, vertraute ich mich mit Anderen dem Boote an, das leichtfüßig über die Meerenge Göllen hüpfte, getrieben von dem kräftigen und weitausholenden Schlag der zwölf Ruder, die im Takte die schäumenden Wogen durchschnitten. Man nennt übrigens den Göllen weniger hochmütig nicht Meerenge, sondern Binnenwasser, und die Ruder hier, wie allenthalben im Norden, wo plattdeutsch gesprochen wird, „Rehmen“, was vermutlich von Riemen herkommt, ein Vergleich, der wegen der platten Form des das Wasser treffenden Teils wenigstens zu rechtfertigen ist. Je weiter man in das Meer sticht, desto breiter und bunter entfalten sich die Ufer Stralsunds mit Türmen, Wällen, Mauern und Bollwerken, hier blickt man auf die Reede mit Schiffen, dort auf das lose Durcheinander des Hafens, dort endlich auf die Environs mit Gärten, kleinen Inseln und grünen Wiesen. Wir wenden uns nur ungern von dem lebendigen Eindruck diesseits der Meerenge, der eben an dem Ufer von Stralsund seinen Höhepunkt erreicht, zu den stillen Wundern, die jenseits Rügen entfalten soll, zu denen aber der Landungsplatz Altefähre noch nicht die Einleitung bildet. Ich, neugierig, wie ich bin, frage die Schiffer nach dem Herthasee, nach der Jaromarsburg, nach Arkona, nach dem Tempel Svantevits, nach dem weitschauenden Rugard und dem weiterschauenden Königsstuhl auf Stubbenkammen *). Aber diese Leute konnten mir nur erzählen, dass ich von Altefähre mit der Post nach Putbus fahren könne, oder nach der größten Stadt auf Rügen, nach Bergen. Sie wussten nur, dass dort ein Seebad sei und hier eine Gerichtsbehörde, und von der ganzen Romantik der Insel wussten sie nicht ein Wort. Wie häuslich doch das Christentum macht. Diese Leute ruderten seit länger denn zwanzig Jahren jeden Tag einige Male von Stralsund nach Rügen und von Rügen nach Stralsund, und nie war es ihnen eingefallen, den Fuß weiter zu setzen, als bis zum „Krug“ **) in Altefähre. „Wi hebben da nix to dohn“, sprachen die Abkömmlinge jener Slawen, die mit der Völkerwanderung nach allen Weltgegenden geschwemmt wurden; denn das Christentum hat ihnen auferlegt, den Fährdienst so lange zu versehen, als sie ihn versehen können, und sich um nichts zu kümmern, was hinter den Bergen von Altefähre liegt. Sie sind gegen den Winter sicher, dass er ihnen nicht den Hunger reicht und sie hinaustreibt, wie die Wölfe, auf andere Länder und Menschen, aber sie leben in der Sommer- und Mittagshitze des Christentums und erwerben sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts, und die heiligen Haine von Rügen und die stille Tiefe des Herthasees und die weißen zackigen Wände von Stubbenkammen und die Sonne und der Mond, die den Fluten der Ostsee entsteigen, und die Sterne, die am nachtblauen Himmel schwimmen — es geht sie Alles nichts an; denn sie haben den Fährdienst zu versehen.

*) Stubbenkammen ist richtiger als Stubbenkammer; denn Camen heißt im Slawischen ein Fels.
**) So heißt man bezeichnend in Norddeutschland die Schenke.

Stralsund, alte Giebelhäuser

Stralsund, alte Giebelhäuser

Stralsund, Jakobiturmstraße und Jakobikirche

Stralsund, Jakobiturmstraße und Jakobikirche

Stralsund, Kniepertor

Stralsund, Kniepertor

Stralsund, Rathaus

Stralsund, Rathaus

Stralsund, Semlowertor

Stralsund, Semlowertor

Albrecht von Wallenstein

Albrecht von Wallenstein