Musik und Theater in Mecklenburg. Von den ersten Anfängen bis zur Zeit der Reformation.

Archiv für Landeskunde in den Großherzogtümern Mecklenburg und Revue der Landwirtschaft. Band 4 (Des Mecklenburgischen Gemeinnützigen Archivs Neue Folge)
Autor: Chrysander, Friedrich Dr. phil. (*1826 in Lübtheen † 1901 in Bergedorf bei Hamburg) Musikwissenschaftler und Herausgeber, studierte an der Universität in Rostock, Erscheinungsjahr: 1853

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Kunst, Kultur, Theater, Musik, Fastnachtspiele, Osterspiele, Prozessionen, Christentum, Religion
Inhaltsverzeichnis
    Fastnachtspiele
    Osterspiele
Über das mecklenburgische Theater besitzen wir in Bärensprungs „Versuch einer Geschichte des Theaters in Mecklenburg-Schwerin bis 1835, Schwerin 1837" eine fleißige, gründliche Zusammenstellung sicherer, bis dahin meist unbekannter Berichte. Sein Gebiet sich genau abzugrenzen, durch Hinblick auf Verwandtes in andern Ländern die Lücken zu ergänzen und so wechselseitig das Einzelne im Ganzen und das Ganze im Einzelnen zu zeigen, lag nicht in dem Plane des Verfassers. Unsere Darstellung, soweit sie überall mit der von Bärensprung verglichen werden kann, wird eine wesentlich andere sein müssen. Einmal erfordert der Zweck, eine übersichtliche Darstellung zu liefern, nicht die Erschöpfung alles vorhandenen Materials, sondern nur die Hervorhebung des Bedeutenderen so, dass es eben als bedeutend erscheint; und sodann wird das verwandte Gebiet der Musik, hereingezogen in unsere Betrachtung, den Kreis erweitern und mehr Licht auf den Gegenstand fallen lassen. Erscheint dieser nun hier und da heller und reicher, so ist die Sache selber der Grund davon: denn die Darstellung ist sich bewusst, dass ihr nur das geringe Verdienst zukommt, welches aus der Zusammenleitung verschiedener Quellen erwachsen mag.

Von drei Seiten traten die Kräfte zusammen, durch deren Ineinanderwirken bei den neueren, besonders bei den germanischen Völkern, die dramatische Kunst zu neuer Blüte gelangen sollte: aus der heidnischen Vorzeit, aus dem Christentum und aus dem klassischen Altertum. Im großen und ganzen brachte das Volk ans seiner heidnischen Zeit die Grundneigungen mit, das Christentum gab diesen die Weihe und den höheren Inhalt, das klassische Altertum dagegen lehrte Form und Gestalt. Im einzelnen aber reichte jede der drei Mächte auch wieder dieses Dreifache, und so erklärt sich die bunte Gestalt und das scheinbar verwirrte Gepräge, welches die Anfänge der dramatischen Kunst im Mittelalter wahrnehmen lassen.

Die Kunst der alten Griechen und Römer erweckte auch bald die Lust zu ihrem Leben, zu ihren Sitten und Sagen, zu dem Inhalte ihrer Dichtungen; sie machte daher wohl die eigene Vorzeit vergessen, und sie sollte uns das reichen, was bei gesunden Kulturverhältnissen allein das Christentum und die eigene Volksgeschichte zu gewähren fähig sind: Maßstab und Vorbild nicht bloß für die Kunst, sondern auch für das Leben.

Das Christentum brachte das neue Evangelium im Gewande neuer Geschichten, insofern führte es den Völkern bisher unbekannte Gegenstände zu; die Volks-, Helden, Kriegs- und Königsgeschichten des alten, das Christusleben des neuen Testaments, das Märtyrer- und Heiligenleben der Tradition enthielten eine fast unübersehbare Menge, von deren Fülle die Neubekehrten ihre eigene Vorzeit erdrückt, von deren eigentümlichem Glanze sie sich leicht geblendet sehen mussten. Das Christentum brachte noch mehr: Es enthielt auch den Keim zur Durchbildung neuer Kunstformen, nämlich in seinem Gottesdienste*). Aber auf gradem Wege konnte man von hier aus nicht zum Drama gelangen, weil der Gottesdienst seinem Wesen nach etwas Anderes ist, und uni so mehr musste Beides auseinandergehen, je strenger sich der Kultus zu der Alleinheit der römischen Liturgie gestaltete. In lateinischer Sprache wurden aber die ersten Dramen gedichtet, angelehnt an altrömische Muster, und dieser Schatz gehörte dadurch bei weitem mehr der Kirche, als den verschiedenen Völkern. Die innige Verbindung des Dramas mit der Kirche zeigt am besten die Benennung „Mysterien", welche man den kirchlichen Dramen beilegte. Man hat bei diesem Worte, indem man es mit dem in der griechischen Kirche so genannten „Mysterion" des christlichen Heils und Gottesdienstes in Verbindung brachte, durchweg an tiefsinnige Symbolik, geheime Mummerei und dergleichen gedacht. Der sehr nüchterne, oft nur zu nüchterne und leicht begreifliche Inhalt dieser Spiele widersprach dem schon immer; das richtige Verhältnis; hat nun W. Wackernagel mit wenig Worten angegeben**). „Man nannte die lateinischen Dramen der Kirche in Deutschland ludi: der in Frankreich geltende Name war misteria. Alisterium (altfranz. mistere) und mit irriger und irreführender Schreibung Mysterium ist die mittelalterliche Kürzung von Ministerium (Dienst) und in all' den mannichfaltigen Bedeutungen dieses Wortes, auch in der von Gottesdienst, von Kunst und Kunstwerk gebraucht; an Geheimnis ist dabei überall nicht zu denken."

Aus der heidnischen Vorzeit lebten Erinnerungen und Gebräuche und Lieder fort, besonders die Feier heiliger Personen, heiliger Tiere und heiliger Zeiten, Gesänge erschallten bei den nächtlichen Kultusfeierlichkeiten; vornehmlich die Slawen (Wenden) hatten sehr lärmende Feste. Entschieden dramatisch wurde das Frühlingsfest begangen; wir wissen besonders durch J. Grimm***), wie weitverbreitet und wie mannigfaltig dasselbe gefeiert wurde. Der eigentliche Sinn und Inhalt war die Freude über den nahenden milden Sommer. Nun sah der lebendige Natursinn Sommer und Winter wie zwei feindliche Mächte, wie im Kampf begriffene Könige und Reiche an und geriet auf ein Spiel, in welchem entweder der Winter als Strohmann hinausgetragen, ins Wasser geworfen oder verbrannt wurde, oder man stellte Sommer und Winter in zwei feindlichen Heeren kämpfend gegenüber; der Sommer behielt unter allen Umständen den Sieg. Serbische Lieder der Art finden sich bei Gerhard und Talvj †), deutsche bei Uhland und Hocker ††). Zum Teil leben sie noch im Munde der Leute fort; das Meiste und Eigentümlichste aber ist untergegangen und hat nur noch in den König-, Scheiben- und Vogelschießen ein blasses Dasein bewahrt.

*) Vgl. m. Abhandlung über das Oratorium S. 22 f.
**) Geschichte der deutschen Literatur, Basel 1853, S. 300. Der ganze Abschnitt S. 298 - 317 behandelt in großer Vollständigkeit und Klarheit das Drama im Mittelalter.
***) Deutsche Mythologie S. 724 f.
†) Gerhard, Wila. Serb. Volkslieder und Heldenmärchen. 1828. 2 Bde. - Talbj, Volkslieder der Serben. 18533. 2 Bde. 2. Ausg.
††) Uhland, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder. 23 — 29 ein längerer Dialog, Hocker, Deutscher Volksglaube, Böttingen 18533, teilt mehrere Gedichte mit.


Dass die alte, so zu sagen, gottesdienstliche Frühlingsfeier mit unsern heutigen Mai- und Sommerfesten in Zusammenhang steht, zeigt, ganz abgesehen von den schönen Aufzügen mit Maikönig und Maikönigin am Rhein*), noch ein alter Brauch in Wismar. Dr. Crain hat in den Jahrbüchern in einem interessanten Berichte hierüber Mitteilungen gemacht, denen das Folgende entlehnt ist**), Schröder in seiner, „Kurzen Beschreibung der Stadt und Herrschaft Wismar“ sagt nämlich S. 134 f.:

„Es haben dermalen (noch im 14. Jahrhundert) und zwar in der Pfingstwoche gemeiniglich alle Jahre die von der Papagoien-Gesellschaft vor dem lübischen Thore, dahin die Träger allemal die Vogelstange führen müssen, den Vogel abgeschossen. Wenn dieses geschehen sollen, haben die Gesellschaftere neben dem ganzen Rath im Compagnie-Hause sich eingestellet und sich in folgender Ordnung nach dem Schießort begeben: 1) haben 2 Bürgermeister - Diener einen aufs beste geschmückten Knaben auf einem Pferde geführet; 2) haben die Herren Bürgermeister den König begleitet, hierauf ist 3) der ganze Rath gegangen, nach diesem zwene Schaffen, die den also genannten Maygraffen (Maigrafen d. i. Maikönig) mitten inne gehabt, und hierauf haben 4) die gesammten Glieder der Gesellschaft den Schluß gemacht Wenn man mit dem Schießen fertig gewesen, hat sich die ganze Gesellschaft nebst ihren Frauen in dem Compagnie-Hause wieder eingefunden, und sind von dannen, erstlich die Männer (da die Bürgermeister abermahlen den neuen König geführt), hernach die Frauen, je einige Gesellen und Jungfern, nach dem Thiergarten vor dem Altwismarschen Thore gegangen. Allda haben zwei Jungfern dem neuen König den silbernen Becher präsentiret. Hierauf hat einer getanzet, da denn der neue König, nebst dem alten, samt 3 Bürgern und 4 Gesellen, nebst so vielen Frauen und Jungfrauen, den ersten Tanz gethan. Den andern Tanz hat der May-Graf mit seinen Zugeordneten gehalten An dem Tage, wann der neue König tractiret, hat man einen neuen May-Grafen (wer der eigentlich gewesen, oder was er gethan, ist jetzund unbekannt) aufs folgende Jahr solenniter erwählet, der nach dem König allenthalben der vornehmste im Spiel gewesen".

Schröder gesteht naiv, dass ihm und seiner Zeit die Bedeutung des Maigrafen unbekannt geworden sei. Wir wissen jetzt recht gut, was er zu bedeuten hatte, oder richtiger: zu bedeuten haben sollte; denn wer die mitgeteilte Beschreibung genau ansieht, der wird nicht zweifeln, dass der Maigraf in der Wismar’schen Festlichkeit nur noch so mitzieht, als völlig getrennt von dem „Könige" und allerdings als der vornehmste nach ihm, aber ohne lebendige Betätigung. So erinnerte er dem Namen nach an die alte Frühlingsfeier, stand aber in der Wirklichkeit in einem Kreise, der seiner schon vergessen. Demnach sind hier zwei ursprünglich verschiedene Feste verbunden, der veraltete Zug des Maigrafen und das jüngere Vogelschießen, und wir dürfen also wohl nicht mit Dr. Crain die sinnbildlichen Bezüge des ersten auf letzteres übertragen.

*) Diese sind sehr lebendig und poetisch geschildert in der lieblichen Dichtung: Die Maikönigin, von W. Müller. 1852.
**) Über das mittelalterliche Vogelschießen, namentlich in Wismar. Jahrb. des mecklenb. Vereins 7, 179 f.; vgl. die Ergänzungen von Dr. Lisch über das „Papagoien-Schießen“ in Rostock ebendas. 188 f.


Ein anderer Teil des Maifestes verband sich mit der Kirche. „Noch heut zu Tage, sagt Dr. Crain, wird in Wismar zu Rogate [5. Sonntag nach Ostern], an welchem Sonntage die sogenannte große Ratspredigt gehalten wird, und mit welcher Zeit oder zu Himmelfahrt früher auch ein eigentlicher Ratswechsel stattfand, und somit gleichsam ein neues Jahr städtischer Verwaltung begann, die Marienkirche mit frischgemähtem Gras und Blumen bestreut; früher wurden zum Pfingstfeste laut alter Rechnungen auf Kosten des kirchlichen Fonds ganze Wagen voll Maienzweige angefahren und Kirchen und Türen damit geschmückt; in gleichem Schmucke prangte das Rathaus, jeder Einwohner zierte Tür und Hausflur damit aus; die Schulknaben mussten gesetzlich den Lehrern einen Maistrauß bringen, sowie dem Lehrer auch aus den Kirchen, denen sie als Vorsteher des Chors zugewiesen waren, eine kleine Gratifikation unter der Benennung Maigeld erhielten". Dies Alles, dem leicht Verwandtes aus andern mecklenburgischen Orten beigesellt werden könnte, beweist nur, wie tiefe Eindrücke die Sitte der heidnischen Vorzeit hinterließ, obwohl sie dem Kerne nach sehr bald dahin schwand.

Gemeinhin darf man voraussetzen, dass Alles, was sich in diesen Jahrhunderten vor Luther als dunkle Mummerei und Symbolik in den dramatischen Spielen und sonstigen Gebräuchen vorfindet, seiner Wurzel nach auf das einheimische Heidentum zurückführt. Mitunter findet sich auch, dass ein Sinnbild mehrdeutig sowohl zum Einen wie zum Andern passt. So z. B. wird man bei der besonders in Frankreich einheimischen Eselsprozession am Palmensonntag, nach einem alten Zeugnisse ebenfalls in Wismar vor 1516*), leicht an Christi Einzug in Jerusalem auf einem Esel erinnert und an das Wort des Propheten Zach. 13, 7; es würde aber auch nicht schwer halten, dergleichen in dem mythologischen Gebiete der heidnischen Deutschen eine Stelle anzuweisen. Fand es sich, dass von beiden Seiten dasselbe zusammentraf, so erhielt sich das Alte sehr zähe, wurde aber auch um so unkenntlicher, je mehr die mittelalterlichen Theologen von dem Hang zur Allegorie gleichsam besessen waren und je williger ihre neuen Deutungen geglaubt wurden.

Ob je im eigentlichen Mittelalter die biblischen Dramen in lateinischer Sprache in Mecklenburg aufgeführt sind, ist bis jetzt nicht zu beweisen, darf aber auch nicht durchaus verneint werden. Dass diese Dramen bis weit in den Norden vordrangen, wissen wir wenigstens aus einer sehr merkwürdigen Überlieferung. Priester Heinrich, ein geborener Lette, erzählt (Origines Livoniae): Als die Ritter vom Schwertorden Livland eroberten und bekehrten, wurden im Jahr 1205 auf dem Marktplatze in Riga unter dem ruhmreichen Bischof Albert von Buxhövden geistliche Komödien angerichtet, ludus prophetarum, Prophetenspiele, wie der Chronist sie nennt, um die Heiden mit der biblischen Geschichte vertraut zu machen. Man stellte die Kriegsszenen aus dem alten Testamente dar und dolmetschte sie den Letten, so gut es gehen wollte. Unzweifelhaft war mehr für die tapferen Ritter, als für die Neubekehrten gesorgt; denn letztere, heißt es, als Gideons Geschichten auf den Platz kamen und ein großer Waffenkampf auf der Bühne vorgestellt wurde, überkam große Furcht, weil sie meinten, nun werde es über sie hergehen, sie ergriffen die Flucht und waren nicht zur Rückkehr zu bewegen *). Diese Ritter, nebenbei sei es gesagt, machten sich die Erfüllung ihres Gelübdes, welches sie einen Kreuzzug nach Jerusalem machen hieß, sehr leicht; sie verwandelten das, was in den beiden inhaltreichsten Jahrhunderten des Mittelalters bei Hunderttausenden heiligster Ernst war, in ein leichtsinniges tändelndes Spiel: sie ließen bei ihren Lagern hier im Norden Schanzen auswerfen, „und Knechte, die als die Türken sie zu verteidigen hatten, mussten sich — gewiss an bestimmten Festtagen — von den Rittern aus ihnen vertreiben lassen, damit diese mittels des Luftgefechts spielend dem Eid genügten, Jerusalem zu erobern und einzunehmen"**). Dies ist jedenfalls eine eben so eigentümliche als bedenkliche Weise, durch die Kunst sich von den Lasten des Lebens zu befreien.

*) Diese Begebenheit ist vielfach wiedererzählt; man dgl. u. a. Neander, Kirchengeschichte V, I, 49. Hagen, Geschichte des Theaters In Preußen, Neue Preußische Provinzialblätter 10, 227. K. v. Schlözer, Livland 1850 S. 79.
**) Hagen 10, 226.
***) Servinus, deutsche Dichtung 11, 334: „Unsere ganze Natur liebt die barocke Mischung von Scherz und Ernst wenig. Wir haben auch den Geschmack der Südländer, den Eindruck des Trauerspiels mit der Posse zu unterbrechen oder am Schluss zu vertreiben, wenig geteilt; wir trennten sehr frühe das Fastnachtsspiel selbständig ab“.

Chrysander, Friedrich Dr. phil (1826-1901) Musikwissenschaftler

Chrysander, Friedrich Dr. phil (1826-1901) Musikwissenschaftler

Wismar - Die Georgenkirche um 1800

Wismar - Die Georgenkirche um 1800

Wismar - Die Marienkirche um 1800

Wismar - Die Marienkirche um 1800

Wismar - Die Nicolai-Kirche um 1800

Wismar - Die Nicolai-Kirche um 1800

Wismar, Ansicht aus der 2ten Hälfte des XVII. Jahrhunderts

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Wismar, Fürstenhof, Kleines Portal mit gebrannten Formsteinen

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Wismar, Fürstenhof und St. Jürgen

Wismar, Fürstenhof und St. Jürgen

Wismar, Fürstenhof, Hauptportal

Wismar, Fürstenhof, Hauptportal

Wismar, Fürstenhof, Hofseite

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