Menschen enthalten sich kaum einer scharfen Zensur

Autor: Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832)
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Ich finde es beinahe natürlich, daß wir an Besuchenden mancherlei auszusetzen haben, daß wir sogleich, wenn sie weg sind, über sie nicht zum liebevollsten urteilen; denn wir haben sozusagen ein Recht, sie nach unserem Maßstabe zu messen. Selbst verständige und billige Menschen enthalten sich in solchen Fallen kaum einer scharfen Zensur. Wenn man dagegen bei anderen gewesen ist und hat sie mit ihren Umgebungen, Gewohnheiten, in ihren notwendigen, unausweichlichen Zuständen gesehen, wie sie um sich wirken oder wie sie sich fügen, so gehört schon Unverstand und böser Wille dazu, um das lächerlich zu finden, was uns in mehr als einem Sinne ehrwürdig scheinen müsste.

Johann Wolfgang von Goethe. Ölgemälde von Joseph Stieler, 1828

Johann Wolfgang von Goethe. Ölgemälde von Joseph Stieler, 1828