Künstlerische Begabung und künstlerische Erziehung

Autor: Schulze-Elberfeld, Otto Prof. (?)
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunsterziehung, Kunst- und Gewerbeschulen, Begabung, Gestaltungstrieb
Aus: Deutsche Kunst und Dekoration. Illustrierte Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungs-Kunst und künstlerische Frauenarbeiten. Herausgegeben und redigiert von Hofrat Alexander Koch. Darmstadt, Verlagsanstalt Alexander Koch. Band 22. 4-9 1908
Bei der großen Bedeutung unserer Deutschen Kunstzeitschriften, die im Laufe der Zeit ihren Weg über die Familie hinaus in die breite Öffentlichkeit gefunden haben, und hier von Tag zu Tag immer mehr an Ansehen und Einfluss auch auf die maßgebenden Kreise gewinnen, scheint es verwunderlich, dass nicht des öfteren ein Thema wie das hier im Titel festgelegte Erörterung findet. Der breite Strom der Kunstbewegung, der anfänglich mit mächtigem Brausen alle Volksschichten zu umspülen, ja mitzureißen suchte, der in der „Kind und Kunstbewegung“ einen so lebendigen Widerhall fand und von der Darmstädter Zeitschrift „Kind und Kunst“ getragen wurde, scheint wohl doch sein Bett nicht so recht in die Tiefe gegraben zu haben, dass man von Erziehungsfragen auf künstlerischem Gebiete jetzt so wenig hört. Auch die Kunsterziehungsfragen, die auf den Tagungen in Weimar und Dresden eine ganze Schar der besten Kämpfer um die edle Sache vereinten und bei der Stellungnahme der modernen Schulreformer auf sichtbare Nachwirkungen hoffen ließen, scheinen im Getöse der Forderungen wirtschaftlichen und schulpolitischen Inhalts und im Kampfe der Kirche und Schule gegen Unkirchlichkeit und Unsittlichkeit ins Hintertreffen zu geraten. Gewisse Bestrebungen, die trotz aller Reinheit und kulturellen Tragweite von Philister- und Muckertum bekämpft werden, scheinen von vornherein schon dadurch gebrandmarkt, dass in ihnen die moderne Kunstpflege Stützpunkte sucht und findet. Vielen der Rückständigen sind nun aber moderne Kunst und Unsittlichkeit und Gottlosigkeit aus derselben Quelle geschöpfte Tränklein der bösen Lust, die jeden guten Keim im Menschen ersäufen. Der Kampf gegen die Moderne tobt heute stärker denn je zuvor, und eine von starken Organisationen planmäßig vorbereitete Reaktion scheint sich kühlend über die jungen Triebe der letzten hoffnungsvollen Aussaat zu breiten.

Wie wenig Boden haben doch die einfachsten Begriffe über Kunst gewonnen, wie sehr ist man noch im unklaren darüber: wie Kunst wird und was sie zum Gedeihen braucht; dass man Kunst nicht lehren noch lernen kann; dass Kunst uns mitgegeben sein muss, wenn sie aus uns heraus eine produktive Auferstehung feiern will; dass auch alle in ihrem Seelenleben auf Kunst gestimmt sein müssen, wenn deren Werke die Resonanz in ihnen haben sollen.

Jene Bewegung, die alle Welt mit Kunst beglücken wollte, scheint ihr Samenkörnlein ausgestreut zu haben wie der Sämann im Gleichnis; man ist erstaunt über die geringen Erfolge. Man begreift immer noch nicht, daß Qualitätskunst für die breite Menge des Volkes nichts ist, und dass eine gewisse sensible Schöntnerei keine Kunst ist, wenigstens nicht für biedere und derbe Deutsche, auch nicht für die angeblichen Feinschmecker unter ihnen. Wenn vereinzelte Auswüchse in der modernen Programm- und Sensationskunst zum Widerspruch gereizt haben, ja zu Feindseligkeiten und Verfolgung führten, so kann man sich nicht sehr zum Verteidiger aufwerten, wenn aber wegen solcher Entgleisungen der heilige Krieg gegen die Kunst gepredigt wird, dann sollte man doch bangen um das Allerheiligste eines Volkes und in Zorn geraten.

Schlechte Kunst wird gerade zur Zeit solcher Krisen viel zu viel produziert, gute Kunst viel zu wenig. Wo in blindem Eifer das Gute bekämpft wird, da wuchert das Mittelmäßige und Schlechte um so geiler. Hier muss anhaltend schwere Arbeit geleistet werden, wenn die auf guten Boden fallenden wenigen Saatkörner hundert- oder gar tausendfältig Frucht bringen sollen. Die jetzige Generation leidet viel zu sehr unter dem Kampf um die Seele, als dass ihr von der Kunst der freudigere Teil kommen könnte. Noch immer zielt man zu sehr auf Verstandesarbeit und Gelehrsamkeit ab, als dass der Einfalt jener Gestaltungstrieb verbliebe, der aus Totem Lebendiges schafft.

Getrösten wir uns der Generation, die da kommt, deren Erzieher und Lehrer nicht Außenschliff, sondern Innen-Kultur treiben; die wirklichen Augen haben, zu sehen, und Ohren, zu hören. Die auf jene leisen Regungen im Kinde zu achten vermögen, die den Herzschlag Gottes bedeuten. Aber die Eltern müssen es ihnen darin noch zuvortun, sie, die die Kleinen vom ersten Atemzug an werden sehen. Man rede nicht immer davon, dass die Begabung sich schon Bahn brechen wird. Das ist eine bequeme, ja brutale Behauptung. Nicht immer muss Werden Kampf bedeuten; Werden ist Entwicklung, Wachsen, Blühen, Gedeihen. Darin liegt Kampf und Schmerz genug. Das Gute gedeiht überhaupt nicht anders.

Aber Begabung fühlen und erkennen, ans Licht ziehen und hegen und pflegen, das bedeutet einen viel größeren, tiefer gehenden Kampf, als ihn das Talent und Genie kämpfen. Das bedeutet die Zurückstellung des eigenen Ichs, Entsagung, ja eigene Opferung. Wie wenige Eltern und Erzieher können das; ihr eigenes Wohlbehagen, ihre Bequemlichkeit und Eigenliebe sträuben sich dagegen.

Wenn das Kind die Kunst nicht hätte, wer hätte sie sonst. Aber sie wird ihm entrissen, im ersten Keime erstickt; drängt sie dann unter günstigeren Verhältnissen nach etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren aufs neue zum Licht, dann ist es mehr Treibhauspflanze als Naturprodukt. Wundern wir uns noch immer über das Kranke in unserer Kunst? Unsere blöden Augen können ja gesunde Kunst nicht mehr vertragen; wir kreischen ja auf, wenn wir eine nährende Mutter mit ihrem nackten Knaben in einem Kunstwerk erblicken.

Selbstverständlich, echte Begabung wird sich unter allen Umständen behaupten; aber sie wird sich auch bemerkbar machen von der ersten Regung der Seele ab. Diese ist verschieden von den späteren Ausdrucksmitteln, aber doch als solche erkennbar. Alle wirklichen Künstler waren schon als Kind Künstler; der Inhalt war da, nur die Form fehlte und der gefügige Stoff, um seinem Wesen nach erkannt zu werden. Wie oft bereitet sich in einem stimmbegabten Kinde ein bildender Künstler vor, oder in einem zeichnenden, malenden oder modellierenden Kinde ein Dichter, Musiker oder Schauspieler. Man muss erkennen, wo alles hinaus will, welches Gebaren zum Haupttriebe sich verstärkt, welche Äußerungen Seitentriebe bleiben. Man sage aber nicht, lasst uns erst abwarten, was daraus werden möchte; dann ist es meistens zu spät. Nichts fällt so sehr mit der Entwicklung des Kindes bis zu seiner Geschlechtsreife zusammen als die gesteigerte Aufnahmefähigkeit für Kunst und Schönheit und Neigung zu ihrer Aneignung und Pflege. Lassen wir diese Zeitspanne ungenutzt vorübergehen, dann ist der Kern schon der Verkümmerung preisgegeben. So muss also schon sehr früh eine Versetzung in eine andere Umgebung vorgenommen werden.

Bei einem solchen Kinde, und die Maßnahmen des Studienrates Dr. Kerschensteiner München bestätigen das, muss dann naturgemäß der künstlerischen Ausbildung vor der wissenschaftlichen der Vorzug gegeben werden, und sei es auch zunächst nur eine mehr kunsthandwerkliche Ausbildung; die rein künstlerische Begabung bringt sich auf diese Weise viel eher zum Durchbruch als bei Beachtung des Lehrziels der allgemeinen Erziehungsschule. Wissen lässt sich nachholen, Können nicht und Gestalten erst recht nicht. Aber aus dem Leben und Werden großer Künstler wissen wir, dass sie noch in späteren Jahren zu einer Fülle gediegenen Wissens gelangten, hinter der mit seinem Schulwissen mancher Jugendgenosse weit zurückblieb. Die Erziehung zur Kunst schließt die Aneignung von Wissen nicht nur nicht aus, sondern leistet ihr einen fühlbaren Vorschub. Es ist seit langem erkannt worden, dass die besondere Pflege von manueller Geschicklichkeit und Gestaltungskraft auf die Gehirnfunktionen den allergünstigsten Einfluss ausüben. Leider ist das in der Erziehungsschule noch sehr wenig versucht worden, obgleich reiche Erfahrungen dafür vorliegen.

Aus allem geht hervor, dass künstlerische Begabung nicht der Gnade allgemeiner Erziehungstheorien preisgegeben werden darf. Es sind ja unter Tausenden nur immer wenige Kinder, bei denen die Berufenen so unverkennbare Wahrnehmungen machen über jenes Maß künstlerischer Begabung, dass diesem Pfunde besonderer Gnade auch in angedeutetem Sinne eine künstlerische Erziehung und Ausbildung nicht vorenthalten werden darf. Dass es immer noch geschieht, ist ein Rückstand in der früher so herzhaft betriebenen Reformarbeit für die Erziehungsschule.

In allen Schulen, von der Volksschule bis zu den Gymnasien mehren sich dafür die Beispiele. Unsere Schützlinge sind namentlich in den Gymnasien und Oberrealschulen die sogenannt Zurückgebliebenen, die Sorgenhäuser für Eltern und Lehrer. Nur ihre Zeichenhefte sprechen für sie; mit ihren Zeugnissen ist wenig Staat zu machen. Aber noch bietet irgend eine Kunst- oder Kunstgewerbeschule die Möglichkeit der Neueinsetzung ins Leben, wo das, was in die Zeichenhefte gebannt war, die Auferstehung feiern darf.