87 Meilen Eisenbahn zwischen Moskau und Petersburg

Moltke sagt von dem siebenundachtzig Meilen langen Landstrich zwischen Moskau und Petersburg: „Bahnwärterhäuschen und Schlagbäume und die Werstpfähle sind die einzigen Verzierungen der unglaublich öden, unangebauten, flachen und einförmigen Gegend, die man durchzieht . . . Sumpf und Erlengestrüpp, verkrüppelte Fichten, selten ein Ackerfeld, noch seltener ein Dorf. Die Kirche mit der hellgrünen Kuppel und den weiß getünchten Mauern gibt dem Wohnort von ferne immer ein gutes Aussehen. Die Häuser sind aber durchweg elende Holzschuppen ohne Gärten und ohne Bäume. Die Dörfer haben keine geschlossene Einfriedung; von Vorwerken, Wirtschaftshöfen oder Schlössern sieht man nichts . . . Das Auge hungert nach einer Terrainbewegung.“ Und annähernd ein Gleiches kann man auch von der Strecke Warschau-Kiew sagen, unabsehbar hingestreckte trostlose Einförmigkeit bildet den Typus einer spezifisch russischen Landschaft, Riesensäle mit wenig Publikum. „Russland“, sagt Honegger, „ist das kontinentale Europa, indem es den Charakter einer Fortsetzung der Flächen und Hochebenen des zentralen und nördlichen Asiens trägt von kompakt ungegliederter Masse, während umgekehrt das Europa des Westens unendlich gegliedert auftritt.“ Und trotz der Einförmigkeit gibt es keinen ungeheuerlicheren Gegensatz, als den des russischen Reiches, bedingt durch seine ungeheure Ausdehnung: wenn man im Zentrum auf Eisenbahn und Dampfer jener Strecken gedenkt, die zu Schlitten von Hunden oder Renntieren gezogen passiert werden und wiederum der ebenso öden brennenden Sandwüsten, die man auf dem Rücken des Kamels durchstreift. „Sehr scharf aber“, sagt Honegger, „schneiden sich nach den Breitegraden zwei Hauptpartien des kolossalen Reiches ab: der Norden überwiegend eine Komposition aus Wald und Sumpf, Massen Wassers in Flüssen, ungeheuren Seen und Mooren; der Süden eine riesige Fläche Ackerlandes von reicher, ja üppiger Fruchtbarkeit, wenig Sand oder Wald; das Land der „schwarzen Erde“, die Kornkammer des Reichs. Als Grenze ist gedacht eine nordöstlich laufende Wellenlinie, anfangend unter dem fünfzigsten Grad, endend bei dem sechsundfünfzigsten Grad am Ural. Der Kern des Reiches aber ist zu suchen in der Alanischen Hochebene, einem reichen Wasser- und Waldlande der Gouvernements Nowgorod und Twer, sowie der angrenzenden Gouvernements gegen Süd und Ost. Sie bildet durch ihre zwar nicht viel über tausend Fuß ansteigende Erhebung den höchsten Zentralpunkt und zugleich den Quellbezirk des europäischen Russlands und ist die Wiege des russischen Volkes genannt worden, weil von da die ersten Keime bürgerlichen Lebens unter den Volksstämmen des Landes ausgingen, dann den Hauptstromläufen entlang weiter nach allen Richtungen ausströmten und die fremden Stämme allgemach assimilierend erfassten.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Krim- und Kaukasus-Fahrt - Bilder aus Russland