Juedische Kuenstler

Diese Künstler sind ein Anfang
Autor: Buber, Martin (1878-1965) österreichisch-israelischer jüdischer Religionsphilosph, Erscheinungsjahr: 1903
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Kunst, Künstler, Juden, Judentum, Bildung, Kunstpublikum, Maler, Grafiker, Naturanschauung, Ghetto, Kunstbetätigung, Evolution, Tradition, Schöpfung, Lebensfreude, Emanzipation, Chassidismus, Diaspora, Religion, Kultur, Wanderschaft, Gefühlsleben, Menschenseele, Charakter, Gefühlswelt, Lyrik, Harmonie, Altertum, Neuzeit,
        Josef Israel von Fritz Stahl
        Lesser Ury von Martin Buber
        E. M. Lilien von Alfred Gold
        Max Liebermann von Georg Hermann
        Solomon J. Solomon von S. L. Bensusan
        Jehudo Epstein von Franz Servaes


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Richard Wagner konnte noch der sinnlichen Anschauungsgabe der Juden das Vermögen absprechen, bildende Künstler aus ihnen hervorgehen zu lassen. Seiner Behauptung stand damals als Tatsache fast ausschließlich eine Schar bedeutungsloser Nachahmer gegenüber. Wenn wir heute auf einige jüdische Künstler hinweisen dürfen, liegt es uns ob, nach den Ursachen jener Unfruchtbarkeit zu fragen.

Dass der Jude des Altertums keine Bildkunst hatte, kann aus seinen Rasseneigenschaften erklärt werden. Allerdings soll man nicht vergessen, dass diese Rasseneigenschaften nicht etwas Letztes und nicht weiter Zurückführbares sind, sondern nur das Produkt des Bodens und seiner klimatischen Bedingungen, der wirtschaftlichen und sozialen Struktur der Gemeinschaft, der Lebensformen und des historischen Schicksals: zur Zeit der Bildsamkeit und Bestimmbarkeit der Rasse in Jahrtausenden entstanden, durch Vererbung verdichtet, zuletzt zu einer fast unwandelbaren Macht emporgewachsen. So mögen wir es uns erklären, dass der Jude des Altertums mehr Ohrenmensch als Augenmensch und mehr Zeitmensch als Raummensch ist. Von allen seinen Sinnen trägt sein Gehör am meisten dazu bei, sein Weltbild zu formen. Die stärksten Schilderungen des altjüdischen Schrifttums sind akustischer Art. Die Musik ist die schlechthin adäquate Ausdrucksform. Der Jude des Altertums kann nur auf der Grundlage des Rhythmus ursprüngliche Kunst schaffen. Die gleichmäßige Ausbildung des Organismus bleibt ihm versagt, und damit auch die vollständige Weltansicht. Dabei ist natürlich seine Seele noch nicht entwickelt genug, um aus der Not die höchste Tugend zu machen: um die Welt als Zeit, als Geschehen, als Fließen, als Bewegung, gar als Psyche zu konzipieren. So begnügt er sich mit einer Welt, die mehr Zeit als Raum ist, und mit einer Weltansicht, die mehr Eindrücke von Erfahrenem, als Erfahrenes selbst enthält. Sein Raum ist verkümmert, fast zweidimensional. In dem Schrifttum, dem einzigen Dokument, finden wir sehr wenig körperhaft Anschauliches. Die Schilderungen, soweit sie überhaupt zum Auge sprechen, umfassen Bewegung und Größe, fast nirgends Farbe und Form. Die Epitheta, Homers Grundverhältnis zur Natur, fehlen. Wir erfahren von verschieden benannten Substanzen, die mehr oder minder ausgedehnt sind und sich mehr oder weniger heftig bewegen; wir sehen sie nicht. Das bildhafte Leben, das Gewand der Attribute, das die Welt erst zur Natur macht, ist nicht gegeben. Was hier herrscht, möchte man mathematische Anschauung nennen. Was ausnahmsweise an Form mitgeteilt wird, ist dürftige Flächenzeichnung; und die spärlichen Farben erscheinen in einer grellen, unabgestuften Gesondertheit. All dies steht gleichsam unter der Macht einer Sonne, welche die Dinge in die Ferne rückt, die Plastik aufzehrt und keine zusammenklingende Nuancierung der Farben gewährt. Diese Sonne gibt Vision, aber kein Schauen. Niemals kommt ein treues Sichneigen zu einem Gegenstände auf, niemals die hingegebene Versenkung in das dunkle Wachstum eines Wesens, niemals die namenlose Erfassung eines einzigartigen und unvergleichbaren Einzeldinges. Alles bleibt Beziehung; die Substanzen werden nicht anschaulich, anschaulich wird nur die Beziehung; nichts wird an sich, alles wird in Beziehung gesehen. Der Jude des Altertums sieht nicht, wie der zeitgenössische Inder, anschauliche Absoluta in den Individuen, noch auch, wie der Grieche, geschlossene Gestalten; seine Welt ist eine Beziehungswelt., Von hier aus führen Wege ebenso wie zu seiner Begabung für Mathematik und Musik zu seinem Utilitarismus und zu seinem Intellektualismus, die nur zwei Seiten seines Relativismus sind: wer alles Anschauliche als Relation sieht, wird sein Leben als eine Kette von Ich-Relationen, von Nutzzwecken leben; er wird aber andererseits die Betätigung seines Denkens auf der Suche nach dem Absoluten von aller Anschauung ablösen, wie dieses Absolute selbst von aller Anschaulichkeit. Von ebendaher führt der Weg zu der Unfähigkeit des antiken Juden, bildende Kunst hervorzubringen. Wo keine Gegenständlichkeit und keine Hingabe an das Seiende ist, da entsteht eine rein subjektive Kunst, eine Kunst des unbildhaften Gefühlsausdruckes: die Lyrik. Von den objektiven Künsten kann nur die zur Entfaltung kommen, die nicht von der Natur ausgehen muss, die Architektur; und auch sie konnte bei den Juden nicht das Höchste erreichen, weil auch ihr dieses nur in dem Erfassen von Grundformen der Natur gewährt ist.

Hierzu kommt noch eines. Der Jude des Altertums scheint ein Erbe des Wüstennomaden mitbekommen zu haben, dessen Dasein aus einer Folge von Exaltationen und Abspannungen besteht. Davon dürfte das Gefühlsleben des Juden seinen sturzhaften, eruptiven Charakter erhalten haben. Er vermochte es nicht, eine Emotion, die ihn überkam, in sich auszugestalten. Schrecken und Seligkeit schüttelten ihn, bedrückten seine Brust, würgten seine Kehle. Er musste sie ausschreien. Was ihn packte, musste er entladen. Und in diesem Schrei, in dieser Entladung war die Großartigkeit einer leidenschaftlichen durchstürmten Menschenseele, ohne Harmonie, aber voll der inneren Gewalten. So wurde das jüdische Pathos, die jüdische Kunst des Pathos geboren. Der geniale Jude des Altertums musste Prophet werden, oder an der Fülle seiner Passion untergehen. Zum Bilde konnte er nicht kommen: sein Gefühl war zu wild und der Weg zu weit. Wie von den Sinnen, so führte auch vom Innersten der Seele keine Brücke zu der Kunst, die Dinge schafft.

Der Jude der Diaspora wird — weniger im Ghetto, als auf den Wanderschaften, in die er immer wieder hinausgeschleudert wird — von einer neuen Natur berührt. Er nimmt Eindrücke auf, die an der Bewusstseinsschwelle zu verdämmern scheinen und doch über Generationen hinaus die nachhaltigsten Wirkungen ausüben. In seinem in den Grundfesten erschütterten Leben, das von der stummsten Verzweiflung beherrscht ist, beginnen sich ganz langsam und allmählich neue Triebe zu regen, ein unterirdisches Werk der Jahrtausende. Ohne dass er’s merkt, erwacht ein Schauen in ihm; und der Raum, den er verfolgt durchjagt, wird seinen Sinnen immer machtvoller gegenwärtig. Aber die aufkeimenden Dispositionen können sich nicht entfalten. Seine Qual und seine Unsicherheit sind zu hart und zu ewig, als dass er lernen könnte, sich den Dingen hinzugeben. Die exklusive Geldwirtschaft, in die er gebannt ist, gestattet ihm nicht, aus seinem Relationsleben in ein Gegenstandsleben hinüberzugelangen; das Geld, das Symbol der unfruchtbarsten Relation, drückt allen Drang einer jungen Sehnsucht nieder. Im Zusammenhänge mit dieser Lebensenge und Lebensnot löst sich der Sinn des Daseins immer mehr von aller Wirklichkeit ab, flüchtet immer weiter, immer weltvergessener in eine starre, fortbildungsunfähige Tradition und in eine völlig lebensfremde Geistigkeit hinein. Das Religionsgesetz wird erst jetzt allmächtig. Der Menschenleib ist verächtlich. Schönheit ist ein unbekannter Wert. Schauen ist Sünde. Kunst ist Sünde. Und das Gesetz dieser Auffassung erlangt eine Macht, wie sie in keinem Volke und zu keiner Zeit ein Gesetz besaß. Die Erziehung der Generationen geschieht ausschließlich als Werkzeug des Gesetzes. Alles Schöpferische wird im ersten Werden erstickt.

Aber das Neue wächst dennoch, unsichtbar und unbewusst, und es bricht durch. Im Chassidismus offenbart sich das unterirdisch Gewordene. Die heimlich erkeimten Kräfte sprossen auf. Der Chassidismus ist die Geburt des neuen Judentums. Der Menschenleib wird das Wunder der Welt, die Schönheit ein Ausfluss Gottes, das Schauen eine Vereinigung mit Gott. Das Gesetz ist nicht der Zweck des Lebens; der Zweck des Lebens ist die Liebe. Das Ziel der Menschen ist, selbst ein Gesetz zu sein. Die Schöpfung dauert heute fort; der Mensch nimmt an der Schöpfung teil. Es gibt keine Sünde, die uns von Gott trennen könnte. Alles Körperhafte, das reines Herzens geschieht, ist Gottesdienst. Askese ist Verwirrung. Alle Lebensfreude ist eine Offenbarung der göttlichen Liebe.

Die Evolution des neuen Juden hatte ihr Wort gefunden. Das Tor zur Kunst stand offen. Die Emanzipation, die nun kam, konnte nur noch Hindernisse hinwegräumen. Das tat sie, in dem sie die Qual milderte, das Leben erweiterte, die Geldwirtschaft eindämmte und produktivierte, die Starrheit der Tradition brach, neue Gebiete eröffnete, die Naturanschauung und die Kunstbetätigung ermöglichte und zugleich den Willen zu ihnen weckte. So beginnt sich der Beziehungsmensch zum Vollmenschen zu entwickeln. Die in der Stille erglommenen Kräfte, die in der mystischen und doch so erdennahen Glut des Chassidismus ihre religiöse Tat gefunden hatten, lodern in das Schaffen der jüdischen Künstler unserer Zeit herüber.

Doch ist das Vollmenschentum nur eine neue Phase, nicht eine Aufhebung des jüdischen Rassenwesens. Der Volksart gemäß entwickelte sich zunächst die Kunst des Gehörsinns, die Zeitkunst, die Musik. Sie war im Ghetto in synagogalen und volkstümlichen Weisen lebendig geblieben; nun fand sie sich leicht in die neuen Formen.

In der Lyrik — fast alle Dichtwerke von Juden tragen lyrisches Gepräge — blühte der Subjektivismus auf. Die ekstatische Entladung, das Pathos der Erregung lebte der moderne Jude als Schauspieler aus.

Am spätesten kam die Bildkunst, denn der junge Gegenständlichkeitssinn brauchte Zeit, um sich zur Gestaltung durchzusetzen. Als die Bildkunst kam, wurde auch sie zum Träger der Volkseigenschaften. Der Relativismus lebte auch hier in neuen Formen fort. Aber gerade durch ihn mag es diesen Menschen, die ohne in ihrem Blute eine bildnerische Überlieferung zu erleben Gestalten zu konzipieren und zu schaffen begannen gegeben worden sein, der Kunst neue und befruchtende Elemente zuzuführen, insbesondere an der Schwelle einer Epoche, deren Wesen es zu sein scheint, überall die Substanzen in Beziehungen aufzulösen und in Seelenwerte umzusetzen.

Diese Künstler sind ein Anfang. Man tut daher besser, als über sie zu theoretisieren, sie in ihren Schöpfungen vorzuführen und auf ihre Art aufmerksam zu machen. Das ist die Absicht des Sammelwerkes, dessen erste Folge in diesem Bande vorliegt. Es soll zeigen, was an bildnerischen Fähigkeiten im heutigen Judentum da ist. Hier und da wird auch das Nachwirken von Volkseigenschaften in dem Wesen der Künstler und ihrer Werke aufgedeckt werden können. Zusammenfassendes über diesen Gegenstand muss einer späteren Zeit Vorbehalten bleiben. Unser Buch wird seinen Zweck vollauf erfüllt haben, wenn es dazu beiträgt, ein bewusst jüdisches Kunstpublikum zu schaffen, das seine Künstler kennt und liebt.

        Wien, im Juni 1903.
                        Martin Buber.

Epstein, Jehudo (1870-1945) Jüdischer Maler

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Epstein, Jehudo - Porträt-Studie

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Epstein, Jehudo - Studie (3)

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Ury, Lesser (1861-1931) Maler und Grafiker

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Ury, Lesser - Studienkopf zu Jerusalem

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Ury, Lesser - Im Café (1887)

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Lilien, Ephraim Moses (1874-1925) jüdischer Grafiker, Maler und Fotograf

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Lilien, Ephraim Moses - Passah

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Lilien, Ephraim Moses - Elul Melodieen

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Liebermann, Max (1847-1935) Maler und Grafiker

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Liebermann, Max - Frau mit den Ziegen (1890)

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Liebermann, Max - Mutter und Kind (1878)

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Solomon, Joseph Solomon (1860-1927) englischer Maler

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Solomon, Joseph Solomon - An der Schwelle der City (Einzug des Lord Mayors Sir George Faudel Philipps)

Solomon, Joseph Solomon - An der Schwelle der City (Einzug des Lord Mayors Sir George Faudel Philipps)

Solomon, Joseph Solomon - Mutter und Kind

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Israels, Josepf - Kinder des Meeres (2)

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Liebermann, Max - Badende Jungen (Ausschnitt)

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Liebermann, Max - Die Gänserupferinnen (1878)

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