Grundlagen und Methoden zu einer kritischen Beurteilung der diluvialen Jagd - Divergenz der neueren Ansichten.

Aus: Die Jagd der Vorzeit
Autor: Soergel, Johannes Wolfgang Adolf Werner Dr. (1887-1946) Professor, Geologe, Palänontologe, Erscheinungsjahr: 1922
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Lebensweise und Lebenshaltung, und damit letzten Endes nach der geistigen Kultur der diluvialen Menschen, Menschengeschlecht, Prähistorie, Jagd, Jagdwaffen,
Vor fast 10 Jahren habe ich versucht *) das Problem der paläolithischen Jagd, das bis dahin in wissenschaftlichen Arbeiten kaum mehr als gestreift, in populären Darstellungen aber mit zu wenig Kritik und zuviel Phantasie behandelt worden war, auf einem neuen Wege einer Lösung näher zu bringen: ich bearbeitete das erhaltene Beutematerial des diluvialen Jägers, die Knochen und Gebissreste der größeren diluvialen Säugetiere aus den wichtigsten Fundstellen verschiedener Kulturperioden soweit möglich statistisch und versuchte das Zahlenmaterial nach verschiedenen Richtungen hin auszuwerten. Es leitete mich dabei der Gedanke, dass die erhaltenen Reste der einzelnen Beutetiere gestatten müssten, die Zahl der Jagdmöglichkeiten des diluvialen Jägers auf die einzelnen Tierarten außerordentlich einzuschränken, ja vielleicht jeweils eine einzige als die wahrscheinlichste oder allein mögliche zu erweisen. Das gelang für eine Anzahl von Tierarten mit Hilfe der folgenden Kriterien, deren Zusammenstellung sogleich die angewandte Methode in ihren Grundzügen erkennen lässt:

1. Die relative Häufigkeit einer Tierart in der überlieferten Gesamtbeute.
2. Das Massen Verhältnis jugendlicher und alter Tiere unter den Beuteresten einer Tierart.
3. Die aus den Steingeräten (Artefakten) der Kulturstufen zu erschließende Waffenkultur der Jäger.
4. Der auf Grund der erhaltenen Tier- und Pflanzenwelt und der allgemein-geologischen Daten zu erschließende Landschaftscharakter der jeweiligen Jagdgebiete des diluvialen Menschen.
5. Die Lebensweise jeder in der erhaltenen Jagdbeute vertretenen Tierart, ihre Wehrhaftigkeit und ihre Fluchtkraft.
6. Die speziellen Fundunistände an den einzelnen prähistorischen Stationen.
7. Die Jagdmethoden heutiger Naturvölker auf die entsprechenden Tierarten und die dazu benutzten Waffen.

*) W. Soergel, Das Aussterben diluvialer Säugetiere und die Jagd des diluvialen Menschen. G. Fischer, Jena 1912.

Es ist einleuchtend, dass aus diesem Tatsachenkomplex viel bestimmtere Vorstellungen über die Jagd der diluvialen Vorzeit erwachsen mussten, als sie früher bei rein spekulativer Behandlung des Jagdproblems gewonnen worden waren. Die ganze Frage konnte in Tatsachen, die einer wissenschaftlichen Prüfung zugänglich waren, verankert werden.

Die Ergebnisse dieser Arbeit, die in erster Linie feststellen wollte, welchen Anteil der diluviale Mensch an dem während oder am Ausgang der Diluvialzeit erfolgten Verschwinden vieler größerer Säugetiere hatte, welches die Ursachen des Erlöschens dieser Tiere waren, haben späterhin in zwei Punkten Widerspruch erfahren. Noack **) wendete sich in einigen in der deutschen Jägerzeitung erschienenen Aufsätzen, die der Schilderung einer Mammut- und einer Riesenhirschjagd gewidmet sind, gegen die von mir begründete Annahme, dass die paläolithischen Jäger Elefanten und Nashörner in Fallgruben gefangen hätten, er hält eine direkte Angriffsjagd für wahrscheinlicher. Profé gab im Mannus ***) einen Überblick über die Jagd der Vorzeit, wobei die Jagd der Paläolithiker in Anlehnung an meine Arbeit in gleichem Sinne besprochen wird, abgesehen von den Elefanten und Nashörnern, für die auch dieser Autor Fallgrubenfang für nicht möglich, ja eine planmäßige Jagd überhaupt für unwahrscheinlich hält. Ganz allgemein lässt sich der Unterschied in der Auffassung der paläolithischen Jagd auf Elefant und Nashorn, wie er in den drei genannten Arbeiten zum Ausdruck kommt, dahin zusammenfassen, dass Noack die Jagdmöglichkeiten der Paläolithiker günstiger, Profé ungünstiger beurteilt als ich. Eine solche Divergenz der Ansichten darf nun keineswegs als Beweis gelten dafür, dass unser Thema für eine wissenschaftliche Behandlung überhaupt noch nicht reif sei, dass heute noch die nötigen Grundlagen für eine Erörterung dieser Fragen fehlten und sehr verschiedene, ja konträre Ansichten gleichermaßen begründet werden könnten. Die Frage: Wie haben die Menschen der verschiedenen paläolithischen Kulturstufen die großen Säuger der Diluvialzeit erlegt, gestattet für eine Anzahl von Arten heute schon eine Beantwortung, die nicht mehr in den Bereich des rein hypothetischen fällt. Die Verschiedenheit der veröffentlichten Ansichten rührt vielmehr her von der Ungleichwertigkeit des jeweils von den verschiedenen Autoren herangezogenen Tatsachenmaterials. Bei einem so komplexen Problem, wie es die paläolithische Jagd darstellt, ist eine befriedigende Lösung natürlich nur zu gewinnen, wenn die einschlägigen Tatsachen aller Wissensgebiete, die zur Frage in irgendeiner Beziehung stehen — und das sind besonders Geologie, Paläontologie, Anatomie, Zoologie, Biologie, Prähistorie und Ethnologie — , in hinreichendem Maße Berücksichtigung finden. Eine starke Vernachlässigung nur eines Tatsachenkomplexes muss die Lösung in eine falsche Richtung abdrängen.

**) Th. Noack, Die Jagd im Wandel der Zeiten. Deutsche Jägerzeitung, Bd. 62, 1913, Nr. 1; Bd. 63, 1914, Nr. 29 und 25.
***) O. Profé, Vorgeschichtliche Jagd. Mannus, Zeitschr. f. Vorgeschichte Bd. 6, Heft 1 und 2, 1914.


Die Schwierigkeiten, die durch die vielerlei einspielenden Wissensgebiete der Behandlung der Frage durch einen Autor erwachsen, darf nicht abhalten, eine Lösung zu versuchen; sie führt schon heute, wie ich glaube in späteren Abschnitten zeigen zu können, teilweise zu eindeutigen Ergebnissen. Gerade die Kenntnis der paläolithischen Jagd, ihrer Methoden und ihrer Erfolge, ist von größter Bedeutung für die Einschätzung der paläolithischen Gesamtkultur, für die Beurteilung der Entwicklung, die seit frühesten Zeiten die materielle und in engster Wechselbeziehung zu ihr die geistige Kultur genommen hat. Der diluviale Mensch war in allererster Linie Jäger; kennen wir seine Jagd, so kennen wir seine vornehmste und alles andere überragende Betätigung, in der sein Wollen und Können zum Ausdruck kam, aus der sein Denken und Fühlen Richtung und mannigfache Anregung gewann. Die Jagd ist gewissermaßen der Brennpunkt seiner Existenz. Von ihm aus wird es gelingen, seine Lebensweise und Lebenshaltung, die Grundzüge seiner sozialen Verhältnisse, seine geistige Kultur und vielerlei „ethnographische" Fragen mehr und mehr aufzuhellen.

009 Riesenhirsch

009 Riesenhirsch

010 Wildschwein-Jagd

010 Wildschwein-Jagd

018 Rekonstruktion des Elephas primigenius Fraasi

018 Rekonstruktion des Elephas primigenius Fraasi

019 Graviertes Mammut aus Combarelles

019 Graviertes Mammut aus Combarelles

020 Mammut, Museum von St. Petersburg

020 Mammut, Museum von St. Petersburg

027 Rekonstruktion des wollhaarigen Nashorn

027 Rekonstruktion des wollhaarigen Nashorn

028 Gemaltes wollhaariges Nashorn

028 Gemaltes wollhaariges Nashorn