Griese Gegend

Ein vergessenes Land
Autor: Reuter, Adolf Dr. (?), Erscheinungsjahr: 1928
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg, Griese Gegend, Sandboden, Kiefernwälder, Elbstrom, Reuterlinde, Dömitz , Fritz Reuter, Heide
Aus: Ostmecklenburgische Heimat. Halbmonatszeitschrift der „Teterower Nachrichten“ für ostmecklenburgische Heimatwerte und Landeskunde. Verantwortlich für den gesamten Inhalt: Studienrat Dr. Gerhard Böhmer. — Druck und Verlag von Hermann Decker, Teterow, Malchiner Straße 15. — Erscheinungsort Teterow. (Mecklenburgische Schweiz) 1. Jahrgang. 1928. [im Bestand des Stadtarchivs der Stadt Teterow]

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Eine Heimatzeitschrift „Ostmecklenburgische Heimat“ gab der Verlag Hermann Decker, Inhaber Ernst Vick, in den Jahren 1928 bis 1945 regelmäßig heraus. Die Auflage betrug 3000, später 4000 Exemplare.(Aus: Kurt Bernhard, Die Zeitungs- und Zeitschriften –Verlage in Mecklenburg, 1982/83) F. Herholz

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Wenn man im Zuge von Hamburg nach Berlin fährt, und aufmerksam die Wandelbilder deutscher Landschaft an sich vorüberschweben lässt, dann hat man im Lande Mecklenburg seine Freude an schonen Gütern, stattlichen Dörfern, wogenden Saatenfeldern, grünen Wiesen vor dämmernder Waldesbucht. Hinter Hagenow aber ändern sich die Eindrücke: dürftiger Sandboden, kümmerliche Kiefernwälder. „Griese Gegend“ meint geringschätzig der Mecklenburger, der auf der schweren Lehmscholle wohnt und dort seine reichen Rüben- und Weizenernten hält. Und fragt man ihn, was jener Ausdruck bedeutet, so antwortet er: „Sand und Dannen, Dannen so hoch“, und hebt dabei die rechte Hand ein wenig über Kopfhöhe hinaus. Und eine Miene macht er dazu, wie der Marschbauer, wenn er von dem hart angrenzenden Geestbewohner spricht, den er nimmermehr für seinesgleichen achtet. Der Zug eilt indessen weiter, er hat das Heidegebiet des südwestlichen Mecklenburg nur gestreift, das rechts der Elbe mit den Randstädten Hagenow und Neustadt etwa von Boitzenburg bis Parchim sich erstreckt. Griese Gegend! es klingt so trostlos, so hoffnungslos grau in grau! Krüppelkiefern auf wehender gelber Sandscholle tanzen am Fenster vorüber, dann wieder zarte Birkengänge, Heidekraut, blühend in dichten, üppigen roten Polstern, feuchte Wiesen, überall in den grünenden Gründen schwebende Wasserläufe mit schwimmenden Seerosen.

Es sind die alten Lande Jabel und Wehningen, die der Zug durcheilt. Hier hielt sich wendische Sprache und wendisches Wesen noch bis in die Tage der Reformation. Hier fristete mühselig und beladen der Wende sein Dasein, als ringsum aus den fruchtbaren Äckern längst der deutsche Eroberer saß.

Der Zug hält in Ludwigslust. Vergessen ist das ferne Reiseziel, ich steige aus. In aller Frühe geht es hinaus in die Heide. Beruhigende Kleinbahnfahrt, beruhigende Mitreisende. Kein Drängen, Sorgen um Gepäckstücke wie gestern, kein Achten auf die bösen Langfingermacher, überall höfliches, freundliches Vertrauen. Abteil dritter Klasse, Menschen erster Klasse.

Sonne kämpft noch mit Nebeln. Wieder wechseln weiße Birkenstämme, dunkelgrünes Uferngebüsch mit weiten wehenden Sandfeldern, grauenhaft ödes Dünengelände mit farbenfroher morgenfrischer blühender Heide. Scharf abgesetzte Hochtannenwände schieben sich überall vor und zwischen die wechselnden Bilder. Weit und breit kein Dorf, kein Schuppen, kein Haus. Weite Arbeitswege, aber man spürt den Fleiß der abseits wohnenden Menschen. Reich blühende Kartoffelfelder, duftig grüne Spargelpflanzungen treiben von allen Seiten bald ihre breiten Flächen, bald spitze Keile in das Ödland hinein. Die Nebel sind zerflattert. Sonnenfleckige, taufunkelnde Wege verlieren sich im Waldgebüsch. Aussteigen möchte man auf der Strecke, jedem lockenden Waldweg nachgehen.

In Malliß hält der Zug. Ein Höhenrand ist bald erreicht. Nach Süden hin dehnt sich die Heide, weit, rätselhaft, verhalten, schweigend. Behaglich strecke ich mich in den warmen, reinlichen Sand, um diese weltverlorene Einsamkeit recht zu genießen. Den lockeren Boden haben die Kaninchen durchsiebt mit ihren Schlupflöchern. Unruhige Gäste. Sie hoppeln vorüber, als wäre ich nicht vorhanden. Im Birken- und Eichenbusch huscht und zirpt es. Zwei weiße Rauchsäulen zeichnen sich links vom Kiefernbusch gegen den lichtzarten Sommerhimmel ab.

Das ist der Elbstrom, die Lebensader deutscher Wirtschaft, der gen Süden das mecklenburgische Heidegebiet abschließt. Dem Hamburger Hafen entgegen schweben die schimmernden Rauchfahnen.

Endlich erreiche ich wieder eine Landstraße und komme zum Reuterkrug. Ein weites behagliches Wirtshaus mit guter Unterkunft für Einsamkeit und Natur liebende Menschen. Freundlicher Empfang. Im Garten die Reuterlinde. Denkstein mit Inschrift: „Uns'n leiwen Fritz Reuter tau Ihren is an’n 7. November 1910 (dem hundertjährigen Geburtstag des Dichters) diß Linn’ plant. Plattdütsche Verein tau Mallitz“. Ja, wir wandeln hier auf den Spuren des jungen, verbitterten Menschen, der als Häftling im nahen Dömitz noch nicht ahnte, was er später seiner Heimat bescheren sollte.

Gedankenvoll gehe ich nach Conow, Pfarrdorf. Deutlich erkennbar noch als Kern der Siedlung die alte wendische Ringdorfanlage. Inmitten des Ringes die Kirche mit dem ernsten, von alten Bäumen überrauschten Friedhof. Hier ruht der wackere Pastor Joachim Friedrich Reuter, der in der Neujahrsnacht auf das Jahr 1810 „nach einem wahrhaft frommen Lebenswandel entschlief“. Es ist der Kantorssohn aus Pritzwalk, der als Kandidat der Theologie unter gefährlichen Abenteuern aus seiner Vaterstadt vor den preußischen Werbern mit Not über die nahe mecklenburgische Grenze entfloh, und als Pastor in Dehmen, dann in Conow, seinem neuen Vaterlande sechs tüchtige Söhne schenkte, darunter auch Georg Johann Jakob Friedrich, den Bürgermeister von Stavenhagen und Vater Fritz Reuters.

Nach gemächlicher Mittagsrast wieder auf die Landstraße, die nach Dömitz führt. Schöne Baumreihen, wohlbestellter Acker zu beiden Seiten des Weges. Ein wenig abseits lockt wieder erhabene, schwermütige Düneneinsamkeit, weite Sandflächen, gewellt, leicht gekräuselt, flüchtige Spur des letzten Windwehens, die der nächste Sturmstoß, der nächste Platzregen zerstören wird. Flüchtig wie die Spur der Menschen, die ihren Fuß in diese Einsamkeit setzten. Kein noch so roher Tempelbau, kein Grabdenkmal, keine Steinsetzung erzählt mir von Lust und Leid des Wendenvolkes, von seiner Arbeit, seiner Gastlichkeit, die selbst der Todfeind, der rassenfremde Deutsche, rühmen musste, von der Siwa, der lichten Frühlingsgöttin, von den weißen wallenden Gewändern ehrwürdiger Priester. Ist das alles dahin? Oder lebt geheimnisvoll im Blut der Menschen, die ihre Sprache, ihre Volksart aufgeben mussten, geheimes Leben weiter?

Und hier ist Fritz Reuter gewandert im Juli 1840. Als freier Mann konnte er endlich aus dem Dömitzer Festungstor gehen, frei, aber verbittert, betrogen um sieben Jahre reichster Menschenentwicklung. „Trostlose Gegend! Sand und Dannenbusch un Haid’krut un Knick (Wacholdergestrüpp) so wid bat Oog reckt“.

Auf Um- und Irrwegen nach Findenwirunshier. Seltsamer Name! deutsam, romantisch, also schön, heute abgekürzt zu Venzir. Zwei Gebrüder von fürstlich mecklenburgischen Geblüt, lange verfeindet, treffen sich im einsamen Tannenwald gerührt; „Finden wir uns hier.“ umarmen und versöhnen sich, gründen zur Erinnerung an die Aussöhnung eine bescheidene Ansiedlung, ein Jagdhaus oder Waldwärterhaus, in dem die gefundene Ortsbezeichnung weiterlebt. Lange hallte hier dann das Geklapper einer Mühle in dem stillen, schönen, herandrängenden Tannenhochwald.

Und dann kommt Dömitz. Anheimelnd, vertrauenerweckend empfängt es uns mit seinen Straßenlinden, seinen reinlichen stattlichen Häusern. Dömitz will zwar einmal eine Festung gewesen sein, die den Elbübergang verteidigte. Gegen wen? Gegen die auswärtige Macht Hannover? Man glaubt nicht recht an die kriegerische Mission der von dem Herzog Johann Albrecht um 1550, erbauten Elbfestung, vor deren Eingangstor wir jetzt stehen, trotz der Kanonenkugeln, die hier und dort im roten Ziegelmauerwerk stecken. Mein gemütlicher Führer behauptet, die Kugeln seien bei der Säuberung des Festungsgrabens im Sumpf gefunden und nachträglich, gewissermaßen zur Verdeutlichung des kriegerischen Zweckes der Anlage in das Mauerwerk eingesetzt. Nach anderer Überlieferung hätte [b]Schill[/i], als er im Jahre 1809 „aus dem festen Haus Dömitz die Schelmfranzosen hinauswarf“, ein paar Geschützladungen auf die Festung losgebrannt.

Schön träumt es sich von der Bastion über die stillen Gräben, über den stolzen Strom, über die Elbniederung hinaus in die dämmernde Ferne, die träumende Heide, über die „Griese Gegend“.

Reuter, Fritz (1810-1874) Mecklenburger, Dichter und Schriftsteller der niederdeutschen Sprache

Reuter, Fritz (1810-1874) Mecklenburger, Dichter und Schriftsteller der niederdeutschen Sprache

Griese Gegend, Binnenlanddüne an der Elbe bei Dömitz (Chpagenkopf)

Griese Gegend, Binnenlanddüne an der Elbe bei Dömitz (Chpagenkopf)