Literatur
Man sollte jedes Buch als den Abdruck einer lebendigen Menschenseele betrachten können; je lebendiger und wahrer der Abdruck ist, je weniger der Verfasser hofierte und ein elendes Allgemeingeschwätz zwischen den vier Ecken des Randes gab; wie sonderbar und einzeln dünkt es uns öfters! Oft ist's ein Rätsel ohne Auflösung, eine Münze ohne Umschrift: die flachsten Leser und meistens die hohlesten, daher auch die lautesten von allen, die respekt. Kunstrichter, messen nach ihrem unmaßgeblichen wenigen Selbst, schreien und verdammen. Der bescheidene Weise urteilt, wie Sokrates über Heraklits Schriften, suchet mehr im Geiste des Urhebers, als im Buche zu lesen: je mehr er da hineindringt, je lichter und zusammenhängender wird alles. Das Leben eines Autors ist der beste Kommentar seiner Schriften, wenn er nämlich treu und mit sich selbst eins ist, nicht einer Herde an Wegscheiden und Landstraßen nachblöket.
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Unsere klassische Literatur ist Paradiesvogel, so bunt, so artig, ganz Flug, ganz Höhe und ohne Fuß auf die deutsche Erde.
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Einem großen Manne kleine Fehler abzulauern, uns höckerigte Auszüge seiner Gedanken zu geben, ihn wie durch ein Vorurteil seines Namens zu preisen; freilich das sind leichte und rühmliche Verrichtungen, die aber nichts helfen und öfters schaden. Was kann es einem Leser helfen, dass er durch solch einen regelmäßigen oder krüppelhaften Auszug durchwischet? Der Geist des Autors ist weg aus diesem Gerippe! Was kann es helfen, dass ich meinem Autor ein paar eigene Gedanken anflicke, und sie ihm wie Höcker aufbürde? Muss es nicht äußerst schaden, das Auge eines Lehrlings daran zu gewöhnen, dass er zuerst Fehler sucht; sein Gefühl für die Schönheiten zu verhärten und seine Seele damit zu verstümmeln, dass er tadelt, statt nachzueifern? Muss es nicht schaden, wenn wir, geleitet vom Vorurteile des Namens, alle Gedanken in guten Büchern für göttlich und gute Gedanken in mittelmäßigen Büchern für schlecht halten? — Und siehe, dies sind die Vorteile unserer Gelehrsamkeit aus Journalen! Wir laufen durch Auszüge hin : sehen viel und nichts ganz und erwerben uns ein Kompendium des Verstandes. Wir lesen Urteile, die uns entweder irreführen, oder doch gemeiniglich leer lassen; so wie der Schein des Mondes leuchtet, aber nicht erwärmt. Wir lernen Fehler finden statt Schönheiten zu kosten, und erreichen es also, gelehrt scheinen zu können, ohne ein Sohn der Weisheit zu sein. In der Tat, so wie in der bürgerlichen Welt der artige Umgang, sich von nichts unterhalten zu können, das wirkliche Kommerzium menschlicher Geister und Herzen merklich geschwächt hat: so geben sich unsere Kunstrichterseelen auch alle Mühe, durch ihre Gelehrsamkeit und Scharfsinn die süßen Augenblicke uns zu rauben, da wir den Geist des andern sehen und uns nach ihm bilden.
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Man achtet die Verlassenschaft eines vortrefflichen Schriftstellers oft zu wenig, wenn man die Schätze desselben mit seiner Urne einscharret. In der gelehrten Geschichte stellt man ein mageres Skelett seiner Lebensumstände auf, und verschlingt die Titel seiner Schriften und die Anekdoten seines Lebens wie trockene und unverdauliche Schalen. Darüber vergisst man, dass seine Schriften einen Abdruck seines Geistes enthalten, und die schätzbarste Reliquie sind, die wundertätig sein könnte, uns zu seinen Schülern und Nacheiferern zu machen. Man vergisst, an sie als an eine Quelle zu eilen, aus welcher man sich Stärke in die Nerven und Heiterkeit ins Auge trinken könne.
Wenn überdem solche Männer aus unvollendeten Plänen gerissen werden, so wie jener wilde Römer den Archimedes niederstieß: alsdann sollte auf ihrem Grabe die himmlische Stimme schallen, die andere aufriefe, zu vollenden diese verlassenen Entwürfe und da in die Laufbahn einzutreten, wo sie dem andern abgekürzt wurde, um mit einem Male näher dem Ziele zu sein. Ein Salböl sollte man aus ihren Schriften ziehen, das uns zu ihren Nachfolgern einweihete; so hat man von ihnen das große Erbteil, dass ihr Geist auf uns ruhe. Denn das, glaube ich, ist die wahre Metempsychosis und Wanderung der Seele, von der die Alten in so angenehmen Bildern träumen, wenn uns ein Genius oder ein Sokratischer Dämon daran zu erinnern scheint, dass der Geist dieses verstorbenen Weisen uns belebe: wenn uns, wie dort dem Agamemnon, ein Traum vom Jupiter, in Gestalt des weisen Nestors, erscheint, noch wachend seine Stimme in unserem Ohre tönet, und uns aufruft, in ihre Fußstapfen zu treten; wenn alsdann unser Herz schlägt und in unsern Adern ein Feuerfunken sprühet, wie sie zu sein! Dies, glaube ich, ist das einzige Mittel, dem Tode zu trotzen, wenn er die Blüten eines Landes zuerst abschlägt, damit stets neue hervorkeimen, und er doch endlich sagen müsse, was der Tyrann Tiberius bei einem andern Falle sagte: Siehe! der ist mir doch entronnen.
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In Zeiten, da man viel hörte, viel erzählte und wenig las, schrieb man am besten; so ist's noch in allen Materien, die aus lebendiger Ansicht menschlicher Dinge entspringen müssen und dahin wirken. Schrift und Rede ist bei uns oft zu weit voneinander getrennt; daher sind Bücher oft Leichname, oder Mumien, nicht lebendig beseelte Körper. Griechen und Römer, auch unter Galliern und Briten die erlesensten Schriftsteller, waren sprechende oder gar handelnde Personen; der Geist der Rede und Handlung atmet auch in ihren Schriften. Überhaupt äußert sich in den entscheidendsten Fällen der wahre Geist der Humanität mehr sprechend und handelnd als schreibend. Wohl dem Menschen, der in lobwürdiger und angenehmer lebendiger Geschichte lebet.
Warum wollen wir der Natur widerstreben und nicht jede Kunst tun lassen, was sie allein und am besten tun kann?
Eine Epopöe, worin Allegorien handeln, und ein Drama, worin Abstraktionen agieren, und eine Geschichte, worin sie pragmatisch tanzen, und ein Staat, worin sie idealisch ordnen, sind herrliche Meisterstücke; kaum aber herrlicher als eine bildende Kunst, die sie, in Fels gehauen, hinstellt, damit sie doch ja nicht aus der Welt verschwinden.
Am meisten ist nötig, dass man von einem Autor abzieht, was seiner Zeit oder der Vorwelt zugehört, und was er der Nachwelt übrig lässt. Er trägt die Fesseln seines Zeitalters, dem er sein Buch zum Geschenk darbeut: er steht in seinem Jahrhunderte, wie ein Baum in dem Erdreiche, in das er sich gewurzelt, aus welchem er seine Gliedmaßen der Entstehung entdeckt. Je mehr er sich um seine Welt verdient machen will, desto mehr muss er sich nach ihr bequemen, und in ihre Denkart dringen, um sie zu bilden. Ja, da er selbst nach diesem Geschmack geformt ist, und sich die erste Form nie ganz zurückbilden lässt, so muss ein jeder große Schriftsteller die Muttermale seiner Zeit an sich tragen. Du kunstrichterlicher Tor! der du sie ihm rauben willst, du nimmst ihm die Züge seiner Eigenheit, Stücke seiner Schönheit, Narben seiner Verdienste.
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,,Den Gästen soll mein Gericht schmecken, nicht der Koch gefallen!“ so sagt ein Schriftsteller, der sich auf sich selbst verlassen kann. Erzeugen will ich dem andern Gedanken: aufrufen in ihm Bilder, in ihm Ideen schaffen ; in ihm Empfindungen aufregen nicht aber ihm meine Gedanken bloß erzählen, meine Bilder vorkramen, meine Empfindungen vorgaukeln. Genies will ich wecken, Leser lehren, nicht Kunstrichtern genügen! Wenn ich einen Autor von dieser Art einmal in die Hände bekomme, so danke ich der Muse feierlich; dieser Mann lehrt mich vergessen, dass ich Kunstrichter bin! Er hat nicht jenen regelmäßigen toten Stil, bei dem ich schleichen und jeden Fehltritt bemerken muss. Freilich hier sind Auswüchse; aber dank seinen Freunden, dass sie ihm diese Auswüchse nicht raubten, ihm seine Gestalt ließen, wie sie ist.
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Genauigkeit (Präzision). Ordnung, Klarheit sind die Eigenschaften eines guten Geschmacks, denen sich das Verborgene der Anmut unmittelbar aufschließt. In jedem Aufsatz, was er auch betreffe, in jeder Gedankenfolge reizet uns nichts so sehr als: Genauigkeit, Ordnung, Klarheit.
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Unsere klassische Literatur ist Paradiesvogel, so bunt, so artig, ganz Flug, ganz Höhe und ohne Fuß auf die deutsche Erde.
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Einem großen Manne kleine Fehler abzulauern, uns höckerigte Auszüge seiner Gedanken zu geben, ihn wie durch ein Vorurteil seines Namens zu preisen; freilich das sind leichte und rühmliche Verrichtungen, die aber nichts helfen und öfters schaden. Was kann es einem Leser helfen, dass er durch solch einen regelmäßigen oder krüppelhaften Auszug durchwischet? Der Geist des Autors ist weg aus diesem Gerippe! Was kann es helfen, dass ich meinem Autor ein paar eigene Gedanken anflicke, und sie ihm wie Höcker aufbürde? Muss es nicht äußerst schaden, das Auge eines Lehrlings daran zu gewöhnen, dass er zuerst Fehler sucht; sein Gefühl für die Schönheiten zu verhärten und seine Seele damit zu verstümmeln, dass er tadelt, statt nachzueifern? Muss es nicht schaden, wenn wir, geleitet vom Vorurteile des Namens, alle Gedanken in guten Büchern für göttlich und gute Gedanken in mittelmäßigen Büchern für schlecht halten? — Und siehe, dies sind die Vorteile unserer Gelehrsamkeit aus Journalen! Wir laufen durch Auszüge hin : sehen viel und nichts ganz und erwerben uns ein Kompendium des Verstandes. Wir lesen Urteile, die uns entweder irreführen, oder doch gemeiniglich leer lassen; so wie der Schein des Mondes leuchtet, aber nicht erwärmt. Wir lernen Fehler finden statt Schönheiten zu kosten, und erreichen es also, gelehrt scheinen zu können, ohne ein Sohn der Weisheit zu sein. In der Tat, so wie in der bürgerlichen Welt der artige Umgang, sich von nichts unterhalten zu können, das wirkliche Kommerzium menschlicher Geister und Herzen merklich geschwächt hat: so geben sich unsere Kunstrichterseelen auch alle Mühe, durch ihre Gelehrsamkeit und Scharfsinn die süßen Augenblicke uns zu rauben, da wir den Geist des andern sehen und uns nach ihm bilden.
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Man achtet die Verlassenschaft eines vortrefflichen Schriftstellers oft zu wenig, wenn man die Schätze desselben mit seiner Urne einscharret. In der gelehrten Geschichte stellt man ein mageres Skelett seiner Lebensumstände auf, und verschlingt die Titel seiner Schriften und die Anekdoten seines Lebens wie trockene und unverdauliche Schalen. Darüber vergisst man, dass seine Schriften einen Abdruck seines Geistes enthalten, und die schätzbarste Reliquie sind, die wundertätig sein könnte, uns zu seinen Schülern und Nacheiferern zu machen. Man vergisst, an sie als an eine Quelle zu eilen, aus welcher man sich Stärke in die Nerven und Heiterkeit ins Auge trinken könne.
Wenn überdem solche Männer aus unvollendeten Plänen gerissen werden, so wie jener wilde Römer den Archimedes niederstieß: alsdann sollte auf ihrem Grabe die himmlische Stimme schallen, die andere aufriefe, zu vollenden diese verlassenen Entwürfe und da in die Laufbahn einzutreten, wo sie dem andern abgekürzt wurde, um mit einem Male näher dem Ziele zu sein. Ein Salböl sollte man aus ihren Schriften ziehen, das uns zu ihren Nachfolgern einweihete; so hat man von ihnen das große Erbteil, dass ihr Geist auf uns ruhe. Denn das, glaube ich, ist die wahre Metempsychosis und Wanderung der Seele, von der die Alten in so angenehmen Bildern träumen, wenn uns ein Genius oder ein Sokratischer Dämon daran zu erinnern scheint, dass der Geist dieses verstorbenen Weisen uns belebe: wenn uns, wie dort dem Agamemnon, ein Traum vom Jupiter, in Gestalt des weisen Nestors, erscheint, noch wachend seine Stimme in unserem Ohre tönet, und uns aufruft, in ihre Fußstapfen zu treten; wenn alsdann unser Herz schlägt und in unsern Adern ein Feuerfunken sprühet, wie sie zu sein! Dies, glaube ich, ist das einzige Mittel, dem Tode zu trotzen, wenn er die Blüten eines Landes zuerst abschlägt, damit stets neue hervorkeimen, und er doch endlich sagen müsse, was der Tyrann Tiberius bei einem andern Falle sagte: Siehe! der ist mir doch entronnen.
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In Zeiten, da man viel hörte, viel erzählte und wenig las, schrieb man am besten; so ist's noch in allen Materien, die aus lebendiger Ansicht menschlicher Dinge entspringen müssen und dahin wirken. Schrift und Rede ist bei uns oft zu weit voneinander getrennt; daher sind Bücher oft Leichname, oder Mumien, nicht lebendig beseelte Körper. Griechen und Römer, auch unter Galliern und Briten die erlesensten Schriftsteller, waren sprechende oder gar handelnde Personen; der Geist der Rede und Handlung atmet auch in ihren Schriften. Überhaupt äußert sich in den entscheidendsten Fällen der wahre Geist der Humanität mehr sprechend und handelnd als schreibend. Wohl dem Menschen, der in lobwürdiger und angenehmer lebendiger Geschichte lebet.
Warum wollen wir der Natur widerstreben und nicht jede Kunst tun lassen, was sie allein und am besten tun kann?
Eine Epopöe, worin Allegorien handeln, und ein Drama, worin Abstraktionen agieren, und eine Geschichte, worin sie pragmatisch tanzen, und ein Staat, worin sie idealisch ordnen, sind herrliche Meisterstücke; kaum aber herrlicher als eine bildende Kunst, die sie, in Fels gehauen, hinstellt, damit sie doch ja nicht aus der Welt verschwinden.
Am meisten ist nötig, dass man von einem Autor abzieht, was seiner Zeit oder der Vorwelt zugehört, und was er der Nachwelt übrig lässt. Er trägt die Fesseln seines Zeitalters, dem er sein Buch zum Geschenk darbeut: er steht in seinem Jahrhunderte, wie ein Baum in dem Erdreiche, in das er sich gewurzelt, aus welchem er seine Gliedmaßen der Entstehung entdeckt. Je mehr er sich um seine Welt verdient machen will, desto mehr muss er sich nach ihr bequemen, und in ihre Denkart dringen, um sie zu bilden. Ja, da er selbst nach diesem Geschmack geformt ist, und sich die erste Form nie ganz zurückbilden lässt, so muss ein jeder große Schriftsteller die Muttermale seiner Zeit an sich tragen. Du kunstrichterlicher Tor! der du sie ihm rauben willst, du nimmst ihm die Züge seiner Eigenheit, Stücke seiner Schönheit, Narben seiner Verdienste.
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,,Den Gästen soll mein Gericht schmecken, nicht der Koch gefallen!“ so sagt ein Schriftsteller, der sich auf sich selbst verlassen kann. Erzeugen will ich dem andern Gedanken: aufrufen in ihm Bilder, in ihm Ideen schaffen ; in ihm Empfindungen aufregen nicht aber ihm meine Gedanken bloß erzählen, meine Bilder vorkramen, meine Empfindungen vorgaukeln. Genies will ich wecken, Leser lehren, nicht Kunstrichtern genügen! Wenn ich einen Autor von dieser Art einmal in die Hände bekomme, so danke ich der Muse feierlich; dieser Mann lehrt mich vergessen, dass ich Kunstrichter bin! Er hat nicht jenen regelmäßigen toten Stil, bei dem ich schleichen und jeden Fehltritt bemerken muss. Freilich hier sind Auswüchse; aber dank seinen Freunden, dass sie ihm diese Auswüchse nicht raubten, ihm seine Gestalt ließen, wie sie ist.
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Genauigkeit (Präzision). Ordnung, Klarheit sind die Eigenschaften eines guten Geschmacks, denen sich das Verborgene der Anmut unmittelbar aufschließt. In jedem Aufsatz, was er auch betreffe, in jeder Gedankenfolge reizet uns nichts so sehr als: Genauigkeit, Ordnung, Klarheit.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Gedanken und Aphorismen aus der Feder von Johann Gottfried Herder