Gelehrsamkeit und Menschensinn

Unter Gelehrsamkeit und Büchern wäre sie längst erlegen die menschliche Seele, wenn nicht durch mancherlei zerstörende Revolutionen die Vorsehung unserem Geiste wiederum Luft verschaffte.

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Schwach und kindisch wäre die schaffende Mutter gewesen, die die echte und einzige Bestimmung ihrer Kinder, ,,glücklich zu sein“, auf die Kunsträder einiger Spätlinge gebaut und von ihren Händen den Zweck der Erdeschöpfung erwartet hätte. Ihr Menschen aller Weltteile, die ihr seit Äonen dahingingt, ihr hättet also nicht gelebt, und etwa nur mit eurer Asche den Boden gedüngt, damit am Ende der Zeit eure Nachkommen durch europäische Kultur glücklich würden? Was fehlt einem Gedanken dieser Art, dass er nicht Beleidigung der Naturmajestät heiße? Wenn Glückseligkeit auf der Erde anzutreffen ist, so ist sie's in jedem fühlenden Wesen, ja, sie muss in ihm durch Natur sein, und auch die helfende Kunst muss in ihm zum Genuss Natur werden. Hier hat nun jeder Mensch das Maß seiner Seligkeit in sich; er trägt die Form an sich, zu der er gebildet worden, und in deren Umriss er allein glücklich werden kann. Eben deswegen hat die Natur alle ihre Menschenformen auf der Erde erschöpft, damit sie für jede derselben in ihrer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuss hätte, mit dem sie den Sterblichen durchs Leben hindurch täuschte.
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Ist es nicht sonderbar, dass in alten und neuen Zeiten die höchste und fruchtbarste Weisheit immer aus dem Volke entsprungen, immer mit Naturkenntnis, wenigstens mit Liebe zur Natur und Ansicht der Dinge verbunden, immer von ruhiger Unbefangenheit des Geistes, von heiterem Scherz begleitet gewesen und am liebsten unter der Rose gewohnt hat? Doch warum nenne ich dies sonderbar, da es Natur der Sache selbst ist. Nur wer die Menschen kennt, kann für sie sorgen; nur wer, durch das Bedürfnis geweckt, durch Not gereizt, in mancherlei Verhältnissen umhergetrieben, die süße Frucht der Mühe schmeckte, kann diese auf die bequemste Art andern zu kosten geben. Er hat sich die schwere Arbeit leicht gemacht; so macht er sie auch andern angenehm und fasslich.

Es ist ein Unterschied zwischen der Kultur des Gelehrten und der Kultur des Volks ... Ist nicht die Algebra noch jetzt eine geheime Wissenschaft? Es verstehen sie wenige in Europa, obwohl es keinem verboten ist, sie verstehen zu lernen. Nur haben wir zwar, unnütz und schädlich, beide Kreise verwirrt; die alten Staats-Einrichter dachten hierin menschlicher, klüger ... Hat eine Nation gute Sitten und Künste, hat sie die Begriffe und Tugenden, die zu ihrer Arbeit und dem gänzlichen Wohlsein ihres Lebens hinreichen, so hat sie die Aufklärung, die ihm genug ist; gesetzt, es wüsste sich auch nicht eine Mondfinsternis zu erklären, und erzählte darüber die bekannte Drachengeschichte. Vielleicht erzählte sie ihm sein Lehrer deshalb, damit ihm über die Sonnen- und Sternenbahnen kein graues Haar wüchse. Unmöglich kann ich mir vorstellen, dass alle Nationen in ihren Individuen dazu auf der Erde seien, um eine Metaphysik von Gott zu haben.

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Der Weltweise Europas kann keine einzige Seelenkraft nennen, die ihm eigen sei ... Bei manchen Wilden ist Gedächtnis, Einbildungskraft, praktische Klugheit, schneller Entschluss, richtiges Urteil, lebhafter Ausdruck, in einer Blüte, die bei der künstlichen Vernunft europäischer Gelehrten selten gedeiht. Eine sitzende Rechenmaschine, wäre sie das Urbild menschlicher Vollkommenheit? Der Wilde, wenn er sich in Wortziffern keine unsterbliche Seele erweisen kann, und glaubt dieselbe, so geht er mit glücklicherem Mute, als mancher zweifelnde Wortweise ins Land der Väter.

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Es ist beinahe unbegreiflich, wie unser Jahrhundert sich so tief in die Schatten, in die dunkeln Werkstätten des Kunstmäßigen verlieren kann, um das weite helle Licht der uneingekerkerten Natur in andern Jahrhunderten auch nicht erkennen zu wollen. Aus den größten Heldentaten des menschlichen Geistes, die er nur im Zusammenstoße der lebendigen Welt tun und äußern konnte, sind Schulübungen im Staube unserer Lehrkerker: aus den Meisterstücken menschlicher Dichtkunst und Beredsamkeit Kindereien geworden, an welchen greise Kinder und junge Kinder Phrases lernen und Regeln klauben. Wir haschen ihre Formalitäten und haben ihren Geist verloren; wir lernen ihre Sprache, und fühlen kaum die lebendige Welt ihrer Gedanken.

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Das Göttliche in uns wird geboren: Gelehrsamkeit, Bücher und Steine bringen’s nicht hinein, wo es nicht von Natur war. Wie viel Cicerone haben Altertümer beschaut und gewiesen! Wie viele vielleicht mit ungleich größerer Gelehrsamkeit und Minutienkenntnis, als Winkelmann haben konnte oder wollte? Wie wenige aber unter ihnen mochten, nach dem, was er war. Winkelmann sein oder werden? Mit keiner Kunst und Wissenschaft geht's anders: denn woher in der Welt wären sonst die Liebhaber des Vortrefflichen, die Kenner und Künstler der höchsten Schönheit in jeder Wissenschaft und Kunst so selten? Unzählig viel Maler rieben Farben und sahen, was Raffael sah; aber ohne sein Auge, ohne seine Empfindung; sie mussten's also wohl sein lassen, Raffaels zu werden, so strenge und genau sie übrigens das Mechanische der Kunst lernten, und in einzelnen Teilen derselben ihn übertreffen konnten. In der Idee, die Raffael, wie er sagte, in sich trug, und zu der er nur Beiträge aus Gegenständen um sich her stahl in dieser konnte und wird er nur von einem zweiten Raffael übertroffen werden.

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Wo bist du hin, Kindheit der alten Welt, geliebte, süße Knabeneinfalt, in Bildern, Werken und Gestalten? Du bist hinweg mit deinem Traume voll angenehmer Wahrheit; und keine Stimme, kein heißer Wunsch des Liebhabers kann dich erwecken aus deinem Staube. Aufs Rad der Zeit geflochten, rollen wir unaufhörlich weiter wohin? — und kommen nie auf die vorige Stelle wieder.

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Will man uns Nationalformen oder gar gelehrte Übereinkommnisse über Produkte eines Erdwinkels für Gesetze Gottes und der Natur aufbürden: sollte es da nicht erlaubt sein, das Marienbild und den Esel zu unterscheiden, der das Marienbild trägt?