Das innere Leben

Unser Denken hängt ab vom Empfinden. — Die Innigkeit, Tiefe und Ausbreitung, mit der wir Leidenschaft empfangen, verarbeiten und fortpflanzen, macht uns zu den flachen oder tiefen Gefäßen, die wir sind. Oft liegen unter dem Zwerchfell Ursachen, die wir sehr unrichtig und mühsam im Kopfe suchen; der Gedanke kann dahin nicht kommen, wenn nicht die Empfindung vorher an ihrem Orte war. Wie fern wir an dem, was uns umgibt, teilnehmen, wie tief Liebe und Hass, Ekel und Abscheu, Verdruss und Wollust ihre Wurzel in uns schlagen, das stimmt das Saitenspiel unserer Gedanken, das macht uns zu denen Menschen, die wir sind.

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Welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, ohne den Geist des Menschen in ihm? und auch dieser kennt sich nur, so wie wir unser Gesicht kennen, anschauend, aber nicht deutlich. Mit einem lebendigen, aber verworrenen Bewusstsein unser selbst, gehen wir einher wie in einem Traum, von welchem uns nur bei Gelegenheit ein oder das andere Stück einfällt, abgerissen, mangelhaft ohne Verbindung. Selbst geben wir oft nicht auf unsere Gedanken acht; allein den Augenblick erkennen wir uns, wie in der platonischen Erinnerung aus dem Reiche der Geister, wenn ein anderer vorzeiget, die unserer Seele entwandt scheinen. Selbst können wir nicht vollständig darauf antworten, wie die Gestalt unseres Antlitzes sei, wohl aber werden wir aus uns erfahren, wenn uns ein Bild unserer selbst, ein zweites Ich aufstieße. So fand sich Sokrates getroffen, da der Gesichtsdeuter in seiner Seele las ; er schüttelte aber den Kopf, da er sah, was Plato in ihm finden wollte. Ich übergehe den ganzen dunkeln Grund unserer Seele, in dessen unabsehbarer Tiefe unbekannte Kräfte, wie ungeborne Könige schlafen, in welchem, wie in einem Erdreiche, das mit Schnee und Eis bedeckt ist, der Keim modert zu einem Frühlinge paradiesischer Gedanken ; in welchem wie in dunkler Asche der Funke zu großen Leidenschaften und Trieben glimmte. Wie erhebt sich hier auf einmal die Idee, in der ich mir das Bild der Gottheit gedenke; er, der die Morgensterne und die Geister mit Namen ruft, den Gedanken von ferne kennt, ehe er geboren wird; nur Er, der Schöpfer, kennt eine von ihm erschaffene Seele.

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Es ist kein Bösewicht auf der Erde, dem nicht, wenn sein schuldloser oder gar edler Gegner mit hingestreckten Armen daliegt, und die Totenglocke über ihm ertönte, das, wodurch er ihm im Leben wehe tat, jetzt im Herzen stehe und nage. Die Schlangen der Rache, des Neides, des Undankes entschlafen am Grabe des Toten und wenden sich gegen den lebenden Verbrecher.

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Wer ins Tollhaus geht, findet alle Narren auf verschiedene Art, jeden in seiner Welt, rasen; so rasen wir alle sehr vernünftig, jeder nach seinen Säften und Launen. Der tiefste Grund unseres Daseins ist individuell, sowohl in Empfindungen als Gedanken. Bemerkt nur in einzelnen Fällen, aus wie sonderbaren Keimen und Samenkörnern jenem und diesem die Saat seiner Leidenschaften wachse? wobei der eine kalt bleibt, dabei glüht der andere: alle Tiergattungen untereinander sind vielleicht nicht so verschieden, als Mensch vom Menschen.

Würde ein Mensch den tiefsten individuellen Grund seiner Liebhabereien und Gefühle, seiner Träume und Gedankenfahrten zeichnen können, welch ein Roman! Jetzt tun es nur etwa Krankheiten und Augenblicke der Leidenschaft; und oft welche Ungeheuer und blaue Meerwunder wird man gewahr!

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Aus Leidenschaften wird die Tugend geboren, sagt Archytas: wiederum bestehet sie auch mit ihnen, wie eine wohlklingende Modulation aus scharfen und tiefen Tönen, wie ein gesundes Temperament aus Hitze und Kälte, wie das Gleichgewicht aus dem Schweren und Leichten. Man muss also nicht Leidenschaften aus der Seele ausrotten wollen! Dies wäre auch nicht nützlich, harmonisch zuordnen muss man sie dem Verhältnis dessen, was sich gebührt, dem Mittelmaße.

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Hätte ein einzelner Mensch die Aufrichtigkeit und Treue, sich selbst zu zeichnen ganz wie er sich kennet und fühlt, hätte er Mut genug, in den tiefen Abgrund platonischer Erinnerung hinein zu schauen und sich nichts zu verschweigen; Mut genug, sich durch seinen ganzen belebten Bau, durch sein ganzes Leben zu verfolgen, mit allem, was ihm jeder Zeigefinger auf sein inneres Ich zuwinket; welche lebendige Physiognomik würde daraus werden, ohne Zweifel tiefer als aus dem Umriss von Stirn und Nase; kein Teil, glaube ich, kein Glied wäre ohne Beitrag und Deutung. Er würde uns sagen können: ,,Hier schlägt das Herz matt; hier ist die Brust platt und ungewölbt; dort der Atem kraftlos; hier keucht die Lunge, dort dumpft der Geruch. Hier fehlt lebendiger Atem, Gesicht, Ohr, dämmert der Körper, diktiert mir hier schwach und verworren, so muss also auch hie oder da meine Seele schreiben. Das fehlt mir, da ich jenes und aus solchem Grunde habe“. — Verfolgte der treue Geschichtsschreiber sein selbst, dies sodann durch alle Folgen, zeigte, dass keine Kraft und kein Mangel an einem Orte bleibe, sondern fortwirke und dass die Seele nach so gegebenen Formeln unvermutet fortschließe, zeigte, wie jede Schiefheit und Kälte, jede falsche Kombination und fehlende Regung notwendig immer vorkommen und in jeder Wirkung man den Abdruck seines ganzen Ich mit Kraft und Mangel liefern müsse welche lehrende Exempel wären Beschreibungen von der Art! Das werden philosophische Zeiten sein, wenn man solche schreibt; nicht da man sich und alle Menschengeschichte in allgemeine Formeln und Wortnebel einhüllet.

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Wer verzeiht sich nicht vieles, sobald man sich eins verziehen hat? und wie so manche Täuschungen gibt's, mit denen uns der Wahn, unentbehrlich zu sein, die Hoffnung, mit der Zeit nützlicher zu werden, die Sucht zu gefallen, die Furcht vor einem Ärgern, als das jetzige schon ist, endlich die Liebe zur Gewohnheit, die Anhänglichkeit an Ehre, Rang, Freunde, Bekannte, an uns selbst und alle Buhlerinnen unseres Herzens und Lebens von Tage zu Tage sanft und unsanft hintäuschen?

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Bei mancher Gedankenreihe, die auch unser ganzes Leben durchläuft, können wir uns kaum selbst vom ersten Moment oder der Wurzel ihres Daseins Rechenschaft geben. Viel zu unbeachtet ist die Wirkung der Mitlebenden auf zarte Gemüter. Wir finden Beispiele, dass Menschen lebenslang in der Weise und Art, ja kraft einer fremden Person handelten, ohne dass sie es wussten; welche sonderbare Besitzung nur in Krankheiten, in unvorhergesehenen Zufällen, am meisten im Alter an den Tag kommt; denn das Alter ist eine zweite schwächere Kindheit.

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Was wir Überleben unserer selbst, also Tod nennen, ist bei besseren Seelen nur Schlummer zu neuem Erwachen, eine Abspannung des Bogens zu neuem Gebrauche. So ruhet der Acker, damit er desto reicher trage; so erstirbt der Baum im Winter, damit er im Frühling neu sprosse und treibe. Den Guten verlasset das Schicksal nicht, solange er sich nicht selbst verlässt und unrühmlich an sich verzweifelt. Der Genius, der von ihm gewichen schien, kehrt zu rechter Zeit zurück und mit ihm neue Tätigkeit, Glück und Freude. Oft ist ein Freund ein solcher Genius, oft ist es ein unerwarteter Wechsel der Zeiten. Opfere diesem Genius, auch wenn du ihn nicht siehst; hoffe auf das zurücksehende, wiederkehrende Glück, wenn du es gleich entfernt glaubest. Ist die linke Seite dir wund, lege dich auf die rechte; hat der Sturm dein Bäumchen hierbei gebeugt, suche es dorthin zu beugen, bis es wieder seine aufstrebende Mitte erreiche. Du hast dein Gedächtnis ermattet; bilde deinen Verstand. Du hast dem Scheine zu emsig nachgestrebt, und er hat dich betrogen; suche das Sein für dich selbst; es kann dich nicht trügen. Unverdienter Ruhm hat dich verwöhnet, danke dem Himmel, dass du sein los bist und suche den, der dir nicht geraubt werden kann, in eigenem Werte. Nichts ist ehrwürdiger und edler als ein Mensch, der trotz des Schicksals in seiner Pflicht beharrt, und wenn er von außen nicht glücklich ist, es wenigstens zu sein verdiente; er wird es zu seiner Zeit gewiss werden. Die Schlange der Zeit wechselt oft ihre Häute und bringt dem Manne in der Höhle, wo nicht den fabelhaften Juwel auf ihrem Haupte, oder die Rose in ihrem Munde, so doch Kräuter der Arznei zur Vergessenheit des Alten und zur Wiedererneuerung.

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Obwohl gewöhnlicherweise keine Grab- und Lobschrift zu bemerken pflegt, wie lange ein Mensch sich selbst überlebt habe, so ist dies doch leider eine der größten und nicht seltenen Merkwürdigkeiten menschlicher Lebensläufe. Je früher das Spiel unserer Gaben und Leidenschaften anfängt, je rascher es fortgesetzt und durch äußere Zufälle auf mancherlei Weise bestürmt wird, desto häufiger wird man Fälle gewahr von jenen frühen Ermattungen der Seele, von Niederlagen der Kämpfer ohne Tod und sichtbare Wunde, vom männlichen, oft schon jugendlichen höchsten Alter. Lange kann ein Mensch wie die Gestalt seines Grabmonuments mit lebendigem Leibe umhergehen; sein Geist ist von ihm gewichen, er ist der Schatten und das Andenken seines vorigen Namens.

Vielerlei Ursachen können zu diesem frühen Tode beitragen. Eigenschaften des Geistes und des Herzens, zu große Wirksamkeit und zu träge Geduld, Erschlaffung sowohl als Überspannung, zu schnelles Glück und zu lange dauerndes Unglück. Denn überhaupt ist ja Gesundheit, Munterkeit, Vergnügen und Tugend allezeit die Mitte zweier Extreme. Sowohl am schroffen als am seichten Ufer des Stromes können Fahrzeuge ihren Untergang finden; mitten im Strome schiffet es sich leicht und fröhlich.

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Schwer sind die Augenblicke abzulauern, da sich die Seele entkleidet, und sich uns wie eine Schöne in bezaubernder Nacktheit darstellet: dass wir uns an die Denkart des andern anschmiegen und wie durch einen Kuss Weisheit lernen. Einige Züge von der Art, wo man unmittelbar lernen kann, sind nützlicher als große Gelehrsamkeit, die wir aus dem toten Buchstaben fürs Gedächtnis lernen, und dabei in unserer eigenen Seele alt und grau werden. Daher hören wir so gerne Erfinder und Denker und Originalköpfe von der Methode reden, in der sie denken, sollten sie uns auch nur Embryonen von Begriffen, unausgebildete, halbentworfene Gedanken liefern; daran liegt mir nicht, was Baco ausgedacht hat, sondern wie er dachte. Ein Bild von der Art ist nicht tot, es bekommt Leben, es redet in meine Seele.