Bildung. Erziehung

Stärke und Schwäche unserer Augen ist eine Gabe der Natur; aber zu welchen Aussichten, zu welcher Nähe, zu welchem Sehwinkel wir uns gewöhnen, von welcher Seite und sogar oft in welcher Farbe wir die Gegenstände erblicken wollen, dies kommt auf die frühe Bildung an.

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Verzweifle nicht im Hafen des Zeitalters, was dich auch bedrohe und behindere, erziehe! Erziehe um so besser, sichrer, fester, — für alle Stände und Trübsale, wohin er geworfen werde! für Stürme, die auf ihn warten! Untätig sein kannst du doch nicht; böse oder gut erziehen musst du; gut — und wie größere Tugend! wie größerer Lohn, als in jedem Paradiese leichterer Zwecke und einförmigerer Bildung. Wie nötiger hat jetzt die Welt einen der simpeln Tugend Erzogenen, als sie es jemals hatte! Wo alle Sitten gleich und alle gleich eben, recht und gut sind was braucht es Mühe! Gewohnheit erzieht und Tugend verliert sich in bloße Gewohnheit. Aber hier! Ein leuchtender Stern in der Nacht! Demant unter Haufen Erde und Kalksteine! Einen Menschen unter Scharen Affen und politischer Larven — wieviel kann er weiterbilden durch das stille göttliche Beispiel! Wellen um und nach sich verbreiten vielleicht in die Zukunft! Zu dem denke, wie reiner deine Tugend und edler! Mehre und größere Hilfsmittel der Erziehung von gewissen Seiten, je mehr dir und deinem Jünglinge äußere Triebfedern auf der anderen Seite fehlen! Denke, zu welcher höhern Tugend du ihn erziehest, als zu der Lykurg und Plato erziehen konnten und durften! Das schönste Zeitalter für die stille, verschwiegene, meist verkannte, aber so hohe, sich so weit verbreitende Tugend!

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Eine Menschenseele ist ein Individuum im Reiche der Geister; sie empfindet nach einzelner Bildung, und denket nach der Stärke ihrer geistigen Organe. Durch die Erziehung haben diese eine gewisse eigene, entweder gute oder widrige Richtung bekommen, nach der Lage von Umständen, die da bildeten oder missbildeten. So wird also unsere Denkart geformt zu einem ganzen Körper, in welchem die Naturkräfte gleichsam die spezifische Masse sind, welche die Erziehung der Menschen gestaltet. Nach gewissen Jahren der Formung kann ein späteres Lernen selten, wie ich glaube, eine neue Schöpfung verursachen, selten Gestalt und Masse umändern, aber desto kenntlicher kann es durch vielfache Erscheinungen auf der Oberfläche wirken, Anstrich, Gewand und Miene und Anstand geben und nehmen und auszeichnen.

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Es war eine Zeit, da alles auf Erziehung stürmte und die Erziehung wurde gesetzt in schöne Realkenntnisse, Unterweisung, Aufklärung, Erleichterung, ad captum, und ja in frühe Verfeinerung zu artigen Sitten. Als wenn alles das Neigungen ändern und bilden könnte! Ohne an ein einziges der verachteten Mittel zu denken, wie man gute Gewohnheiten, selbst Vorurteile, Übungen und Kräfte wieder herstellen oder neu schaffen und dadurch allein „bessere Welt“ bilden könnte. — Der Aufsatz, der Plan wurde abgefasst, gedruckt, vergessen! Ein Lehrbuch der Erziehung, wie wir Tausende haben! Ein Codex guter Regeln, wie wir noch Millionen haben werden, und die Welt wird bleiben, wie sie ist.

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Der Mensch staunt alles an, ehe er sieht; kommt nur durch Verwunderung zur hellen Idee des Wahren und Schönen; nur durch Ergebung und Gehorsam zum ersten Besitze des Guten so gewiss auch das menschliche Geschlecht. Hast du je einem Kinde aus der philosophischen Grammatik Sprache beigebracht? Aus der abgezogensten Theorie der Bewegung es gehen gelernt? Hat ihm die leichteste oder schwerste Pflicht aus einer Demonstration der Sittenlehre begreiflich gemacht werden müssen? und dürfen? und können? Gottlob eben, dass sie es nicht dürfen und können! Diese zarte Natur, unwissend und damit auf alles begierig, leichtgläubig und damit alles Eindruckes fähig, zutrauend folgsam, und dadurch geneigt, auf alles Gute geführt zu werden; alles mit Einbildung, Staunen, Bewunderung erfassend, aber eben damit auch alles um so fester wunderbarer sich zueignend — ,,Glaube, Liebe und Hoffnung in seinem zarten Herzen, die einzigen Samenkörner aller Kenntnisse, Neigungen und Glückseligkeit“ — tadelst du die Schöpfung Gottes? oder siehst du nicht in jedem deiner Fehler Vehiculum, einziges Vehiculum alles Guten? Wie töricht, wenn du diese Unwissenheit und Bewunderung, diese Einbildung und Ehrfurcht, diesen Enthusiasmus und Kindessinn mit den schwärzesten Teufelsgestalten deines Jahrhunderts, Betrügerei und Dummheit, Aberglauben und Sklaverei brandmarken, dir ein Heer von Priesterteufeln und Tyrannengespenster erdichten willst, die nur in deiner Seele existieren!

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Wie wir sind, sind unsere Kinder; Niemand kann was besseres als sich selbst der Nachwelt geben. Zu früh erschöpfte Lebensgeister, von Weichheit, Üppigkeit und Müßiggang welke Fibern pflanzen sich fort: denn kein Abfluss springt höher als seine Quelle. Die berühmtesten Spekulanten und Empfindler werden also schon geboren. In dies zähe Mark, in dies verfließende Wachs, was kann hinein gedruckt werden, das da bleibe, das fortwirke? Wie Schleim und Gallert entschlüpft das Geschöpf den Händen seiner Bildung.

Also erzogen wächst es auf. Die Lehrer tun alle, als ob, was sie ihm sagen, nicht wahr wäre; ihnen ist's auch meistens nicht wahr, denn sie haben's eben so gelernt, und in ihrem Leben nichts davon gespürt und empfunden. So sind Eltern und Lehrer, Kanzeln und Katheder. Das Kind und der Knabe hört überall Geschwätz, Lüge, wo wenig fehlt, dass man nicht mitten in der Rede inne halte und sage, was jener über die Höllenstrafen sagte: ,,Fürchte dich nicht, liebes Kind, ich muss dir das nur sagen. Glaube nichts davon, denn ich glaube selbst nichts, wie du siebest." Die große Stimme des Beispiels sagt ihnen dies laut und unaufhörlich.

Erwachsen also unter lauter Wortkrämerei und tätiger Lüge lernt der Knabe nur eine Wahrheit erkennen, die er auch von ganzem Herzen glaubt, nämlich: ,,Krieche wie die, so vor dir sind durchs Leben, genieße und schwätze viel; tue aber wenig, alles nur für dich, damit du dir nichts abbrechest, und fröhne deinen Lüsten“. Aus jeder weichen, bösen Gewohnheit, aus jeder würzigen, süßen Tasse und warmen Schüssel, von jedem wallenden Busen und liebäugelnden, artigen Gesichte duftet und fliegt ihm die Lehre zu: er übt sie früh und wird sie lebenslang üben.

Wie gibt das nun feine Empfindungen und Spekulationen? Ihr warmen Stuben, ihr weichen Polster, ihr artigen Gesellschaften, und du lieber Wohlstand stummer und lauter Sünden, welche wilde Leidenschaften habt ihr vertilgt, welche schöne Romane von Empfindungen und Spekulationen habt ihr geboren! Das Auge ist verlöscht, der Körper welk, der Blick unstät, das Hirn sich selbst verzehrend. Es wallt auf und sinkt nieder; keine Eindrücke, weder Geliebte noch Freund haften. Am Wirklichen kein Geschmack, keine Hoffnung und keine Kraft mehr zu genießen; desto mehr romantische Träume und Pläne im Monde, Empfindungen; Systeme, Spekulationen mit einer liebenswürdigen Flüchtigkeit und Feinheit, an die kein Mensch weniger als ihr Urheber glaubt. Wie sollte er auch? Er kann an nichts mehr glauben, nichts anerkennen, nichts durchempfinden.

Wohl dir, unschuldiger Jüngling, auf keuschem Stamm, aus edlem Samen, eine gesunde, festgeschlossene Knospe. Nicht zu früh blühend und entfaltet, um bald zu verwelken, nicht üppig dich wiegend im Hauche lauer Zephyre! lieber von rauen Winden geschüttelt, in Not, Gefahr und Armut erwachsen, damit deine Erkenntnisse Tat, deine blöden, keuschen, verschlossenen Empfindungen Wahrheit, Wahrheit aufs ganze Leben werden.

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Sage jemand, dass Erziehung, wenn sie rechter Art ist, nichts fruchte! Der Mensch ist ja alles durch Erziehung; oder vielmehr er wird's, bis ans Ende seines Lebens. Nur kommt es darauf an, wie er erzogen werde? Bildung der Denkart, der Gesinnungen und Sitten ist die einzige Erziehung, die diesen Namen verdient, nicht Unterricht, nicht Lehre.

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Die Natur hat der edlen Keime genug: nur wir kennen sie nicht und zertreten sie mit den Füßen, weil wir das Genie meistens nach Unförmigkeit, nach zu früher Reife oder übertriebenem Wuchs schätzen. Ein wohlgebildeter, gesunder, kräftiger Mensch, lebend auf seiner Stelle, und daselbst sehr innig wirkend, zieht unsere Augen nicht so auf sich, als jener andere mit einem übertriebenen vorgebildeten Zuge, den ihm die Natur (in Gnade oder im Zorne) verlieh, und den von Jugend auf hinzuwallende überflüssige Säfte nährten. So wie, wenn ein Auge fehlt, das andere etwas schärfer sieht, wie sich am Holzhauer und Lastträger seine Arbeitsmuskeln am meisten stärken, wie es endlich Krankheiten gibt, da ein Glied, der Kopf z. B., aufschwillt und zum Riesen wächst, indes die anderen Glieder verdorren, so ist's mit dem, was die Pöbelsprache Genie nennt. Hier ein übertriebener Witzling ohne gesunden Verstand und Herzenstreue, dort ein fliegendes Sonnenross und verbrennet die Erde. Hier ein Spekulant ohne die mindeste Anschauung und Handlung, der mit den wichtigsten Dingen, wie mit unbedeutenden Zahlen spielt; ein Held mit Leidenschaft bis nahe der Verrückung; ein guter Kopf endlich, wie man's nennt, d. i. ein Sprudler und Schwätzer über Dinge, von denen er kein Wort versteht, über die er aber mit den Modeformeln spielet. Ist das Genie? Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern, und webst und tanzest gleich einem Irrlichte auf sumpfigen Wiesen, oder rollest als ein schädlicher Komet daher: vor dir Schrecken und hinter dir Pest und Leichen. Ist das Genie? Wer wollt's haben? Wer nicht lieber wünschen, dass die Natur außerordentlich selten solche Höcker und Ungeheuer bilde!

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Jede edle Menschenart schläft, wie aller gute Same im stillen Keime: ist da und erkennt sich selbst nicht. Was in Absicht auf Seelenkräfte Genie heißt, ist in Absicht auf Willen und Empfindung Charakter. Woher weiß der arme Keim, und woher soll er's wissen, welche Reize, Kräfte, Düfte des Lebens ihm im Augenblick seines Werdens zuströmten? Das Siegel Gottes, die Decke der Schöpfung ruhet auf ihm, er ward gebildet im Mittelpunkt der Erde.

So viel sehen wir, dass ein Kind, wie die Gestalt seines Körpers und Angesichts, auch die Züge seiner Art zu denken und zu empfinden mitbringt; es ist ein gebildeter ganzer Mensch, obschon im kleinen. Du kannst kein Glied hinzutun, das ihm fehlet; keine Leidenschaft, keinen Hauptzug hinwegtun, der da ist. Wer das zarte Saitenspiel junger Kinder und Knaben zu behorchen, wer nur in ihrem Gesichte zu lesen weiß: welche Bemerkungen von Genie und Charakter, d. i. einzelner Menschenart wird er machen! Es klingen leise Töne, die gleichsam aus einer andern Welt zu kommen scheinen; hie und da regt sich ein Zug von Nachdenken, Leidenschaft, Empfindung, der eine ganze Welt schlafender Kräfte, einen ganzen lebendigen Menschen weissagt, und es ist, dünkt mich, die platteste Meinung, die je in einen Papierkopf gekommen, dass alle menschlichen Seelen gleich, dass sie alle als platte leere Tafeln auf die Welt kommen. Keine zwei Sandkörner sind einander gleich, geschweige solche reiche Keime und Abgründe von Kräften, als zwei Menschenseelen, oder ich hätte von dem Worte Menschenseele gar keinen Gedanken. Auch das Leibnitzische Gleichnis von Marmorstücken, in denen der Umriss zur künftigen Bildsäule schon daliegt, dünkt mir noch zu wenig, wenigstens zu tot. Im Kinde ist ein Quell von mancherlei Leben, nur noch mit Duft und Nebel bedeckt. Eine Knospe, in der der ganze Baum, die ganze Blume eingehüllt blühet.

Nicht zu früh reiße sie auf, diese lebensschwangere Knospe, lass sie sich ins Laub der Bescheidenheit und oft Dumpfheit, wie wir sagen, verstecken. Es ist unersetzlicher Schade, wenn man die liebe jungfräuliche Blume aufbricht, dass sie lebenslang welke. Fühlst du die Freuden der Morgenröte, ihren lieben ersten Dämmerungsstrahl nicht? Warte, die große Sonne wird schon hervorschreiten.

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Kaum vermag der Anschauende den anderen auf den Weg zu führen, auf dem er zu seinen unnennbaren Schätzen gelangte, und muss es ihm selbst und seinem Genius überlassen, inwiefern auch er dieser Anschauungen teilhaftig werde.

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Oft sind dem jungen Schiffer schon unterm Angesicht der Morgenröte Stürme beschieden. Er verschlägt, kommt ins Land der Ungeheuer und Riesen oder gerät in die Gärten der Armida. Glücklich, wenn ihm die Göttin mit dem Spiegel der Wahrheit bald erschien, dass er sich selbst sehe und wieder ermanne! Alsdann, wenn er zeitig genug entkommt, waren ihm die Stürme und Wallfahrten sehr nützlich, die sein unversuchtes Schiff übten. Jeder edle Widerstand, jedes tiefe und stille Leiden prägt treffliche Züge uns in Gesicht und Seele : die ersten Triumphe unserer Jugendzeit werden das Punctum saliens unseres ganzen leidigen Lebens. Jammer aber, wenn der Jüngling unterliegt, wenn er drückenden oder hinüberziehenden Gegenständen zu nahe weilet! Er verbildet sich, wird hart und dürre, oder weich und lüstern und verhaucht sein Leben im Lenz der Jahre. Zu früh geliebkoset, liebkoset er wieder und versteht nichts anderes. Zu früh und zu lange befeindet, überzieht er alles mit Menschenhass und Galle: so sind viele gute Menschen ganz oder halb verloren.

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Der erwachende Jüngling findet sich an der Wegscheide seines Lebens, wenn sich Knaben- und Jünglingsalter trennen; oft erscheint ihm da ein Genius und zeigt ihm Weg und Höhen seiner Zukunft; aber nur in dunklem Traume. Indessen auch einem Greise am letzten Tage seines Lebens ist der Traum der Jugend der erste Pulsschlag all seines künftigen Lebens, prophetische Entzückung.

Wer zu seinem künftigen Werk und Wesen nur wenig Entwicklung braucht, findet seinen Entwickler auch leicht. Ein Euklides, eine Uhr, ein Gemälde, ein Blatt unbekannter Ziffern weckte manche auf, als ob's Apollo selbst mit der Leier wäre: für andere ist viel Gefahr, Erfahrung, oft ein Rubikon nötig. — Cäsar an Alexanders Bildsäule, Alexander an Achilles' Grabe weinend— welch ein weissagender rührender Anblick! Da schläft’s in der Seele, oder vielmehr es schläft nicht mehr, kann aber jetzt nur in Tränen heraus, einst wird's anders heraus strömen.

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Wer der Vernunft dient, kommt der Notwendigkeit zuvor.

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Jeder einzelne Mensch trägt, wie in der Gestalt seines Körpers, so auch in der Anlage seiner Seele das Ebenmaß, zu welchem er gebildet ist und sich selbst ausbilden soll, in sich. Es geht durch alle Arten und Formen menschlicher Existenz von der kränklichsten Unförmlichkeit, die sich kaum lebend erhalten konnte, bis zur schönsten Gestalt eines griechischen Gottmenschen. Durch Fehler und Verirrungen, durch Erziehung, Not und Übung sucht jeder Sterbliche dies Ebenmaß seiner Kräfte, weil darin allein der vollste Genuss seines Daseins liegt. Nur wenige Glückliche aber erreichen es auf die reinste, schönste Weise.

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Das ist eben die größte und gute Einrichtung der menschlichen Natur, dass in ihr, wenn ich so sagen darf, alles im Keim da ist und nur auf seine Entwickelung wartet. Erschließet sich die Blüte nicht heute, so wird sie sich morgen zeigen. Auch alle möglichen Antipathien sind in der menschlichen Natur da, jedem Gift ist nicht nur sein Gegengift gewachsen, sondern die ewige Tendenz der waltenden lebendigen Kraft geht dahin, aus dem schädlichen Gift die kräftigste Arznei zu bereiten. Ach, die Extreme liegen in unserer engbeschränkten Natur so nahe, so dicht beieinander, dass es oft nur auf einen geschickten Fingerdruck ankommt, aus dem Einfalls- den Absprungswinkel zu machen, da, unabänderlichen Gesetzen nach, beide in ihrem Verhältnis einander gleich sind, Gedanken zu hemmen, dies Kunststück hat noch keine irdische Politik erfunden, ihr selbst wäre es auch sehr unzuträglich. Aber Gedanken zu sammeln, zu ordnen, zu lenken, zu gebrauchen, dies ist ihr für alle Zeiten hinaus, unabsehlich großer Vorteil.

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Der kommt am weitesten, der anfangs selbst nicht weiß, wie weit er kommen werde, dafür aber jeden Umstand, den ihm die Zeit gewährt, nach festen Maßregeln gebraucht.

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Alles zieht sich, du kannst der allgewaltigen Kette nicht entweichen. Wohl dem, der willig folgt: er hat den süßen täuschenden Lohn in sich, dass er sich selbst bildete, obwohl ihn unablässig Gott bildet.

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Wie einst die Pythagoräer, so sollte jeder Rechtschaffene am Abend sich selbst fragen, was er, vielleicht unter vielem Nichtswürdigen, heute wirklich Nützliches gelesen und bemerkt habe? Jeder gebildete Mensch wird sich auf diesem Wege in kurzem nach einem andern sehnen, dem er sein Merkwürdiges mitteile; denn das einsame Lesen ermattet, man will sprechen, man will sich ausreden. Kommen nun verschiedene Menschen mit verschiedenen Wissenschaften, Charakteren, Denkarten, Gesichtspunkten, Liebhabereien und Fähigkeiten zusammen, so erwecken, so vervielfachen sich unzählbare Menschengedanken. Jeder trägt aus seinem Schatze, vom Wucher seines Tages etwas bei, und in jedem andern wird es vielleicht auf eine neue Art lebendig. Geselligkeit ist der Grund der Humanität, und eine Gesellung menschlicher Seelen, ein wechselseitiger Darleih erworbener Gedanken und Verstandeskräfte vermehrt die Masse menschlicher Erkenntnisse und Fertigkeiten unendlich. Nicht jeder kann alles lesen; die Frucht aber von dem, was der andere bemerkte, ist oft mehr wert als das Gelesene selbst.