Die gegenwärtige politische Lage. 1853

Aus: Ein Neujahrsgruß aus Mecklenburg an Deutschland. 1853
Autor: anonym, Erscheinungsjahr: 1853
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Europa, Amerika, Politische Lage, 1848
Bald fünf Jahre sind es, auf die zurückblickend wir heute oft zweifelnd zu fragen geneigt sind: haben wir denn wirklich diese ganze Zeit, diese ganze Kette großer Begebenheiten durchgemacht, von denen jetzt so wenig übrig geblieben ist? Regierung nach Regierung haben wir umfallen sehen und unter dem begeisterten Jubelruf der freien Völker waren es Parlamente, die an deren Stelle traten. Wir schwärmten für Recht und Freiheit; wir waren stolz darauf, Kinder einer so großen Zeit zu sein.

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Das Recht und die Freiheit, von der wir träumten, sie sind dahin, und wenn wir noch an die damalige „große Zeit“ denken, so ist’s wahrlich nicht mit dem Gefühl des Stolzes. Aber was viel trauriger ist, was vielleicht als das schwerste Hindernis zur Erreichung einer bessern Zukunft bezeichnet werden muss, das ist die Mutlosigkeit, die Verzagtheit im Herzen von so Vielen. Da gehen Manche herum, und lachenden, scherzenden Mundes erzählen sie uns: es ist vorbei mit der Welt, mit Europa oder mindestens mit Deutschland. „Ihr habt’s gesehen, was Alles man wollte und wie Nichts man erreicht hat.“ Das ist eine Weisheit, die man jetzt sehr billig hören kann; aber man mag sich nur darauf verlassen, dass von den Leuten, die so reden, auch in den vergangenen Jahren wenig geleistet worden ist, dass auch für die Zukunft von ihnen nicht mehr zu erwarten ist. Ihre eigene Trägheit sucht nach einer Beschönigung; ihr Mangel an Ideen lässt sie jede Freiheitsbestrebung als Torheit und Zeitverlust schelten; ihr Mangel an Opfermut hält sie von jeder, auch der geringfügigsten Anstrengung ab.

Nun wohl, mögen sie denn als friedliche Bürger hinter dem Ofen sitzen und über die Nichtigkeit alles politischen Tuns reden; mögen sie ihre Geschäfte besorgen und ihre Steuern bezahlen, es ist das Beste, was sie tun können, denn als politische Halbmenschen wären sie doch nur einer jeden vernünftigen Tätigkeit im Wege; ist die Zeit da, man wird sie schon zu finden wissen. Aber es gibt noch andere Leute, die es ernst mit sich und der Welt meinen, die Beweise ihres Willens und ihrer Einsicht gegeben haben, und die dennoch mindestens in der Vertrauenslosigkeit auf die Zukunft mit jenen übereinstimmen. Freilich, das Herz blutet ihnen, wenn sie sich an das Grab so teurer Hoffnungen stellen. Sie weisen nicht bloß auf die Erfolglosigkeit aller früheren Bestrebungen hin, sie zeigen auch die ungeheure Macht, deren die Gegner der Freiheit habhaft geworden sind, der Mangel an tüchtigen Charakteren, sie weisen hin auf das massenhafte Auswandern aus dem, wie sie sagen, an Altersschwäche unheilbar darnieder liegenden Europa. Wie gesagt, solche Äußerungen kommen von Männern, die gering zu stellen wir kein Recht haben. Es ist daher eine Pflicht für uns selbst, diese ganze Anschauung näher zu prüfen, damit wir wissen, wer vernünftiger handle, der, welcher noch immer Raum gegeben sieht für die Erwartung einer bessern Zukunft, oder der, welcher sich in das nun einmal Unvermeidliche mit bitterer Resignation fügt.

Wir wollen denn einmal zunächst das große Fazit der Errungenschaften der Reaktion seit dem Schluss des Jahres 1848 ziehen. Es ist wahr, die Freiheit hat sie niedergeworfen, so weit die Spitze ihrer Bajonette reicht; von den Freiheitskämpfern sind die Einen tot, die glücklicheren auf dem Schlachtfelde, die Opfer vor den Kriegsgerichten; die Andern sind wohlverwahrt hinter Schloss und Riegel; sie sind mindestens tot für die Welt und auch für Alles das, was der menschlichen Existenz einen Wert verleihen kann. Noch Andere sind flüchtig geworden vom heimischen Boden, und sehnsuchtsvoll möchten sie die Minuten beschleunigen, welche sie dem Vaterlande zurückgeben sollen. Es sind nicht die schlechtesten Kräfte, welche Existenz und Freiheit in der Fremde gesucht haben; aber die Menschen gleichen dem Antäus, von welchem jene Fabeldichter erzählen, der seine Kraft verlor, so bald er nicht mehr in Berührung stand mit der Mutter Erde. Der Heimat entrissen, hören fast alle Berührungspunkte auf, von denen aus sie, für die Heimat wirken können. Und wieder Andere gehen zwar noch frei umher, atmen noch die Luft der Heimat, aber sie sind nicht frei, die Gegenwart bietet so wenig ihrer Liebe zum Vaterlande. Sie bewachen das Wort, das sie sagen, und den Gedanken, den sie auf dem Papier ausdrücken, den untersuchen sie sorgfältig, ob Form oder Inhalt nicht die Machthaber verletze.
Wie mächtig aber ist die Reaktion auf dem ganzen europäischen Kontinent! Wir, als wir die Freiheit erstrebten, haben uns abgesondert nach politischen und Völkergrenzen und es jeder einzelnen Gruppe überlassen, für sich selbst zu sorgen; aber es ist ein großer geschlossener Ring, in dem die Reaktion jede Regung nach Freiheit auf jeder auch der kleinsten Stelle Europas bewacht und niederhält. Sie stehen Alle für Einen. Der Kaiser von Russland und der Kaiser von Frankreich im Osten und Westen und in deren Mitte der Kaiser von Oestreich, dessen Politik die beiden Ländergruppen, die man Deutschland und Italien nennt, mehr oder minder beherrscht, der Absolutismus in den verschiedensten Formen, sie lasten auf Europa. Eine Insel freilich im westlichen Europa, das große, mächtige England, steht noch frei da; aber droh’n ihm nicht die Gefahren des vereinigten Europa, und selbst wenn sie ihm nicht drohen, ist es nicht ein teilnahmsloser Zuschauer bei den Freiheitskämpfen der letzten Jahre gewesen? Amerika, das jugendlich frische, freiheitkräftige, reiche, mächtige Amerika, ach das liegt so fern, das kann und wird uns wenig helfen!

So nach den beiden Richtungen klingt der Klageruf der Resignation: „Es ist vorbei; gegen die vereinte Macht der Reaktion vermögen die schwachen Kräfte der Demokratie Nichts.“ Es ist wunderbar, wie viel die Menschen vergessen und wie wenig sie lernen. Vor uns liegt das große Buch der Geschichte, die uns den steten Kampf aller Zeiten für eine bessere Zukunft zeigt, und die uns lehrt, mit wie unendlichen Mühen, unter wie vielfachen Rückschlägen ein jeder Fortschritt sich Bahn gebrochen hat. Das ist der Fall, so lange Menschen gewirkt haben, und wird wohl immer so bleiben. Aber Kämpfe und Mühen haben noch niemals das Bessere unmöglich gemacht; nein, indem sie die Menschen läuterten und die Zustande in ein helleres Licht stellten, haben sie dem wirklichen Fortschritt denjenigen festen Bestand gegeben, der ihm allein die Dauer sicherte.

Das war’s, woran wir 1848 scheiterten: wir hatten ein Paar Jahre vorher eine billige, bequeme Opposition getrieben. Wir waren damals freilich nicht weniger unfrei als jetzt; aber einige Luftlöcher waren uns geblieben, denen wir begierig uns zuwandten. Und die Regierungen sahen es gern, wenn wir anstatt der wirklichen Freiheit eine Gasse zu brechen, allerhand zwar an sich nicht unwichtige Sachen, aber doch Nebendinge im Verhältnis zum großen Ganzen trieben, als da sind: Zollverein, Differentialzölle, Freihandel, ständische Vertretung, Repräsentativverfassung, Pressefreiheit, Schleswig-Holstein usw. Der tiefere Kern aller dieser vor 1848 so eifrig diskutierten Fragen mochte allerdings in ihrer Richtung auf die Freiheit selbst liegen; aber so fassten die wenigsten der Streiter sie auf; sie blieben meist bei der äußern Erscheinung stehen. Da kam denn der März 1848: was unsere kühnsten Hoffnungen noch vor Kurzem für unmöglich gehalten hatten, das fiel wie Manna vom Himmel. Wir schliefen mit dem Bundestag ein, und fast ohne unser Zutun wachten wir mit der Nationalversammlung auf. Wir hatten ohne alle unsere Mühe Freiheit die Menge erlangt, so viel, dass sie ganz unerschöpflich schien, so schnell, dass wir auf deren Erreichung kaum einen Wert legen konnten. Die Engländer haben ein Jahrhundert für ihre Freiheit gestritten, die Nord-Amerikaner haben sie sich mit den Waffen in der Hand erobern müssen; wir, wir glücklichen Deutschen hatten sie im Handumdrehen erlangt. Aber der Mensch weiß nur das zu schätzen, was ihm Mühe gemacht hat zu erreichen; er verjubelt die Hunderttausende, die das große Los in seine Taschen geschüttelt hat, er hält ängstlich die Tausende zusammen, das Resultat jahrelanger Arbeiten. So ging’s uns Deutschen. Wir hatten ohne allen Einsatz das große Los gewonnen.

Aber die Folgen blieben nicht aus. Denn als wir, wie Verschwender, nicht das Kapital sicher zu belegen wussten, um von den Zinsen zu leben, verloren wir davon einen Teil nach dem andern, und als wir dann halb unwillig, halb träge, einen Einsatz versuchten, um den Verlust wieder zu decken, da war’s, wenn auch vielleicht noch nicht zu spät, doch jedenfalls nicht in der rechten Art und Weise. Wir büßten allmählich Kapital und Zinsen ein, und unsere Gegner sind jetzt dabei, auch den Verlust für die Zwischenzeit wieder gut machen zu wollen. Aber erst jetzt fangen wir an zu begreifen, was wir einst besessen haben; erst jetzt, wo wir in Schmerzen und in Kummer das wieder erobern wollen, was schon einmal unser Eigen war, werden wir auch verstehen, den Besitz zu wahren.

Weil wir aber früher Alles ohne Kampf erreichten, weil der jetzige Kampf um Völkerfreiheit so große Schwierigkeiten bietet, darum soll derselbe fruchtlos sein? Wo ist denn die in Felsenmauer gegründete Ewigkeit des reaktionären Baues? Ist sie etwa auch nur in der Meinung der Machthaber selbst? Wie sie ängstlich auf jedes Lüftchen der Freiheit lauschen, wie sie ihm den Zugang versperren, gleich als ob es das ganze Gebäude umwerfen müsste. Ist das Sicherheit?

Liegt die Sicherheit der Reaktion etwa in den materiellen Zuständen, die in deren Gefolge aufgetreten sind? Sie schmähen das Jahr 1848, als das der Unruhe, als das des mangelnden Erwerbs. Aber seht doch die Zehntausende von Leuten, die mit gieriger Hast das Vaterland verlassen, gleich als brenne der Boden unter ihren Füßen? Mit ihnen wandert ein Kapital aus, das für jeden Auswanderer durchschnittlich um vieles größer ist, als für jeden der Zurückbleibenden. Und ein so wurmstichiger Zustand sollte den Machthabern Sicherheit gewähren?

Oder wollt Ihr sie in den Gemütern der Menschen suchen, in ihrem Vertrauen zu den herrschenden Gewalten, ihrer unerschütterlichen Treue zu Fürst und Vaterland? Die da mitessen an dem großen Tische, den die Reaktion ihren Freunden gewährt, die haben den Mund voll von der unerschütterlichsten Anhänglichkeit. — Die Andern müssen den Mund halten, wollen sie nicht als nutzlose Märtyrer ihrer Meinungen fallen. Aber fragt Euer Gewissen, Ihr Fürsten und Ihr Minister, glaubt Ihr selbst an die treubündlerischen Versicherungen, womit man schmeichlerisch Euer Ohr betören will, habt Ihr den mindesten Verlass, dass Eure Zukunft feststehe in den Meinungen und in den Gesinnungen der Menschen?

Wo also sollen wir diese Gewähr für den Bestand der Reaktion suchen? In den Bajonetten, dort beim Kaiser von Russland, dem großen Vater, und dem Kaiser der Franzosen, dem kleinen Neffen? Wenn Bajonette jemals gegen Ideen etwas vermocht hätten, so wäre noch keine Bewegung im politischen oder religiösen Leben gelungen, das Bestehende hat sich immer die rohe Gewalt untertan zu machen gewusst. Ihr meint, man habe gelernt, mit der Revolution und den Revolutionären jetzt rücksichtsloser zu verfahren, in Paris sei das Vorbild gegeben, wie man ohne Schonung jeglichen Widerstand zu beseitigen wissen werde. Die Zeit der Überraschungen und Missverständnisse habe ausgespielt. Aber wir sagen umgekehrt, die Bekämpfung der Revolution hat soviel geleistet, dass eine Wiederholung vergeblich, ein Übertreffen unmöglich geworden ist. Ein zweiter Dezember kann nicht beliebig wieder improvisiert werden.

Aber der Kaiser von Russland und der Kaiser von Frankreich im Osten und im Westen, wie sie uns arme Deutsche zusammenpressen! Russland ist einem freien Volk noch niemals gefährlich geworden, es kann den Kaukasus nicht einmal besiegen — und Polen und Ungarn fielen durch eigenen Verrat. Kein Wort des Angriffs kam von den russischen Lippen, als das westliche Europa frei dastand, in Petersburg vielmehr Alles von einem Angriff Europas zu fürchten war. Der russische Kaiser fürchtet, mehr als Pest und Cholera, die Berührung seiner Untertanen mit dem zivilisierten Europa. — Russland ist bei Weitem nicht so gesund, wie sie es uns vorlügen wollen und darum auch viel weniger mächtig, als es sich selbst hinstellt.

Und Frankreich? Das Ungeheuerliche, das so Fabelhafte, was dort geschieht, dass man die Wirklichkeit für einen Traum ansehen möchte, das sollte Bestand haben? Das sollte der Reaktion die gewünschte Sicherheit geben? Napoleon der Dritte ist der erklärte Feind des kontinentalen Europas, er muss es sein, darin liegt seine Kraft. Sie haben ihn, den „Retter“ der Reaktion, gehoben und gestützt, haben mitgeholfen, um ihm Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen und sind dadurch selbst zu seinen Werkzeugen geworden, die er, wie andere benutzen und bei Seite werfen wird. Nicht eine Stütze der Reaktions-Politik ist der neue Kaiser, er ist vielmehr mit und gegen seinen Willen der große Stein, über den die Reaktion in ihrem Eifer fallen und stürzen wird.

Aber wenn wir dann nach den äußern Mächten uns umsehen, welche bestimmt zu sein scheinen, die Zukunft des Absolutismus zu sichern, sahen wir nicht dort jenes herrliche Eiland, von dem alle Freiheit auf Erden ausgegangen, sahen wir im Westen nicht jene große Republik, die, ach, schon so viele der Unseren unter ihren Bürgern zählt. Man lasse sich doch nicht durch die eitlen Rodomontaden eines Derby zu der Ansicht verleiten, als sei auch in England der Modergeruch der Staatsrettung nah, als werde England weiter und weiter die europäische Reaktion gewähren lassen. Wir, die wir 1848 die Freiheit erstrebten, haben Englands Gunst verscherzt, nicht weil England uns unfrei sehen wollte, sondern weil es dem Tun und Treiben in Deutschland keine Seite abgewinnen konnte die einer Unterstützung wert schien. Wir wollen hier nicht untersuchen, wo der Fehler lag. Aber wer jetzt England sorgfältig beobachtet, der kann einen Rückschlag der öffentlichen Meinung dort in Betreff der Ansichten über kontinentale Verhältnisse nicht verkennen. Man ist jetzt auch dort auf dem besten Wege, eine richtigere Einsicht in das zu erlangen, was von Oben herab als ,.Ruhe und Ordnung“ angepriesen und anbefohlen wurde. Diese bessere Einsicht und das damit eng verbundene eigene Interesse Englands berechtigen uns zu ganz andern Hoffnungen, als das Jahr 1848 bot. Man hat in England den Hass der absoluten Herrscher gegen englische Freiheit, gegen die Ansteckungsfähigkeit englischfreier Zustände für den Kontinent, ein Hass, der sich als gegen Englands Existenz selbst gerichtet erwies, nicht übersehen.

Auch die große, westliche Republik, Fleisch von unserm Fleisch, wie sie zu einem großen Teile jetzt geworden ist, wird nicht immer die untätige Zuschauerin in dem großen Zivilisationskampfe bleiben können, die sie bis jetzt gewesen ist. Unantastbar und unbesiegbar, mit unermesslichen Hilfsquellen begabt, ist sie für die Freiheit ein noch viel mehr zuverlässiger Hort, als Russland für die Sklaverei. Hält die russische Regierung mit eisernem Zepter widerwillige Völkerschaften zusammen und treibt sie hinaus zum Kampfe gegen Europa, so besitzt Nord-Amerika im Verein mit England den zündenden Blitzstrahl des freien Worts. Als die Römer vor den Deutschen fielen, da warf eine Barbarei die andere nieder; es musste erst eine neue Zivilisation geschaffen werden. Aber die freien Länder der anglobritischen Völkerstämme haben die Kraft erobert, welche der Wiederkehr der Barbarei vorbeugt. Nehmt mir, sagte jener Engländer, nehmt mir alle meine staatsbürgerlichen Rechte und lasst mir nur die Pressefreiheit, mit ihr erobere ich jene Schritt für Schritt wieder. Wir gehen noch weiter und sagen, so lange noch auf der Erde irgend ein Fleck existiert, wo die Wahrheit ungeschminkt auftreten, wo Alles, was Menschen Großes und Freies denken können, unverzagt ans Tageslicht treten darf, so lange ist noch der Punkt des Archimedes da, von dem aus die Welt der Despotie aus den Angeln gehoben werden kann. Das ist der ungeheure Unterschied, der jene alte Welt von der unsern trennt. Die Druckerpresse hat den Untergang der jetzigen europäischen Zivilisation unmöglich gemacht.

Und sie wissen es wohl in Nordamerika, dass man wie auf England, so auch auf sie scheel Hinabsieht, und dass europäischer Intrigengeist wohl das Basilisken-Ei in die Union hineinwerfen möchte, um deren Einheit und damit deren Macht zu vernichten. Der freieste Staat der Welt gerade die auf den sichersten Grundlagen beruhende „Großmacht“ ein schreiender Missklang in den Ohren des „Von Gottesgnadentums“! Wir sehen daher im natürlichen Gegensatz dazu die Politikern alten Schlags vielleicht unbegreifliche Erscheinung, wie England und Nordamerika, Mutter und Tochter, nach Zwiespalt und Abneigung wieder in Anerkennung und verwandtschaftlicher Zuneigung einander nähern. Es ist der gemeinsam klare Blick in die Zukunft, der dies wirklich „herzliche Einverständnis“ herbeigeführt hat. Es liegt darin der Anknüpfungspunkt einer wenn auch zunächst vielleicht nur moralischen Beteiligung der nordamerikanischen Staaten-Union an den Völker-Geschicken Europas.

Aber nicht draußen, in uns selbst lebt die Zukunft, in unserer Kraft, in unserer Einsicht, in unserm moralischen Mute haben wir den Verstand zu begreifen, dass der künstliche Zustand, der jetzt besteht, in sich den Keim des Untergangs trägt — und wer hätte diesen Verstand nicht? — haben wir Vertrauen zu unserer Idee, zur Demokratie, können wir aus vergangenen Fehlern lernen, um nicht wieder zu sündigen, so ist die Zukunft unser. Wer noch in den Halbheiten und Unklarheiten des Jahres 1848 befangen ist, wer noch über den konstitutionellen Formen die wesentlichen Interessen der staatlichen Gesellschaft selbst vergisst, wer noch sozialistisches Phrasentum uns anstatt der Freiheit geben will, wen Selbstinteresse oder Selbsttäuschung dahin führt, irgend welches Gebot der Freiheit zu verkennen, der gehört nicht zu denen, die uns im Kampfe für eine bessere Zeit zur Seite stehen. Und die werden es auch gerade sein, die am wenigsten Vertrauen zu sich und der Freiheit haben, die am Schnellsten Alles verloren geben. Wer aber mit uns in der Freiheit die Vollendung geistiger und materieller Größe sieht, wer es erkennt, wie die Menschheit durch alle Hindernisse hindurch sich entwickelt, der kann nicht verzweifeln.

Von diesem Standpunkte aus betrachten wir die Zukunft. Die Ereignisse, wie und wann sie auch eintreten, in welcher Weise sie uns zunächst auch berühren werden, sie können das feste Ziel der Wahrheit und der Freiheit von unserm geistigen Sinn nicht lösen, sie können aus uns die Triebfeder einer schon auf die Jetztzeit gerichteten Tätigkeit nicht entfernen. Wir denken nicht an Konspirationen, überhaupt an Nichts, das uns mit der Polizei in irgend unfreundliche Berührungen bringen könnte, — wir sehen in Zeiten, wie die jetzigen, in Bestrebungen solcher Art nur eine Zersplitterung und Vergeudung besserer Kräfte; — aber es ist die geistige Regsamkeit im Erkennen und Bessern, die uns vorschwebt, für die noch ein unendlich weiter und, wie wir meinen, fruchtbarer Boden gegeben ist. Es gibt keine Macht in der Welt, die uns daran hindern kann und hindern wird. Und sprechen wir nicht, so handeln sie; unsere Gegner und ihre Taten wirken für uns so mächtig und oft noch mächtiger, als unsere Worte. Wir waren 1848 noch zu sehr politische Kinder, wir wussten das Rechte wohl, unsere politische Bildung jedoch verstand nicht, demselben Leben zu verleihen. Die eigene Erfahrung musste uns klug machen und zwar nach einer doppelten Richtung, einmal in der Selbsterkenntnis und dann in der richtigen Anschauung, wo unsere Freunde und Feinde zu suchen seien. Wir haben, und das war vielleicht der größte Fehler der deutschen Demokratie, wir haben den Absolutismus des französischen Sozialismus uns nicht vom Leibe gehalten, wir haben neben einer Partei gestanden, die uns nur benutzen wollte, und vor welcher der auf die individuelle Freiheit gerichtete Sinn des deutschen Volkes zurückbeben musste. Wir hatten in verkehrter Diplomatie unsere politische Selbstständigkeit schon lange vorher weggegeben, ehe der Absolutismus mit allen seinen Reaktionsschrecken hereinbrach. Daher die wunderliche Irrfahrt, auf die wir zweifelnd und staunend zurückblicken.

Doch können wir uns trösten und können eine Beruhigung gewinnen in den ganz ähnlichen Schicksalen anderer Völker. Werfen wir einen prüfenden Blick auf jenes Volk, das so hoch dasteht an wahrer Gesittung, auf England. Die Engländer haben ihre Freiheit auch nicht an einem Tage erobert, sie haben Zeiten durchgemacht, die an Jammer jeder Art hinter der unseren nicht zurückstehen. Die Zahl ihrer Könige, die ihr Wort gegeben und es gebrochen, ist nicht zu zählen; die Unterdrückungsversuche, wodurch eine Klasse des Volks die andere niederzuhalten strebte, können ganze Bibliotheken ausfüllen; die tyrannischen, harten Maßregeln gegen die Vorkämpfer der Freiheit haben dort schon Alles erschöpft, was menschlicher Scharfsinn erdenken kann. Und doch ist England an Freiheit so hoch gestiegen. Es waren dort Zeiten, wo fast dem Kühnsten bange ward, wie ihr Vaterland zu retten, das Volk schien eingeschlummert oder verderbt zu sein. Es kamen wieder andere Zeiten, — der Spuk war verschwunden. Revolutionen, wie sie in Frankreich vorkamen, hat England eigentlich wenige oder gar keine gemacht, denn selbst Cromwell hat nie die bisherigen Volksgewohnheiten vom Grunde auf durchschüttert und so für jeden Abenteurer reines Haus gemacht; Cromwell rächte seine Vorzeit, und die Fehler, die er machte, die wurden unter späteren Regierungen nicht vergessen. Und hier ist es denn, wo wir an dem Ausgangspunkte stehen, der den Weg, auf welchem England frei geworden ist, von allen andern trennt, die man anderswo eingeschlagen. Es ist dies der Geist, den von jeher das eigentliche Volk gehabt hat, an Alles, was durch die Erfahrung als fehlerhaft nachgewiesen war, sofort das sühnende Maß der Besserung zu legen, erst sich selbst zu erkennen und dann die Zustände zu schaffen.

Das Jahr 1848 ist an der in Deutschland herrschenden unglaublichen Unkenntnis in national-ökonomischen und politischen Dingen zuletzt stecken geblieben, nachdem die Bewegung schon längst in den Sand gefahren war. Ein Erbkaiser, ein Haupt- und einige Dutzend Nebenparlamente, wohl stilisierte sogenannte Grundrechte und eine Flut von Phrasen für alle Parteien und alle Zwecke, dahin hatte man sich verirrt. Selbst die Linke der Frankfurter Nationalversammlung war von dem Sozialismus der Schutzzölle noch nicht frei, hatte die Formen und Bedingungen des unfreien Staatslebens noch nicht ganz abgeworfen. Das Parlament vergrößerte vielmehr die Armee, stützte die Regierungen, gab neuen Schutz einer herrschsüchtigen Bürokratie, vor der weder freie Gemeindeverfassungen noch freie Verbindungen, noch sonst etwas Gnade fand, was aus der eigenen Tätigkeit der Beteiligten hervorging. Aber nicht das freie Parlament, sondern die freie Gemeindeverfassung ist die Grundlage des freien Staats. Freie Parlamente haben wir in Frankreich genug gesehen, aber sie haben die stete Wiederkehr des Despotismus nicht verhindern können. War dieser eine Mittelpunkt, seiner Natur nach nie in sich einig, gewonnen oder vernichtet, so war das Volk geknechtet. Anders in England. Als Jakob II. nach Einführung der absoluten Herrschaft trachtete, strebte er eifrig nach Vernichtung der Gemeindeselbstständigkeit. Aber selbst der Rest, der geblieben, war die Leiter, auf welcher der Freiheitssinn des Volkes wieder emporstieg. Die wahre Selbstständigkeit der Gemeinden garantiert nicht bloß die beste Wahrnehmung ihrer Interessen, sondern noch vielmehr eben so viele Mittelpunkte des Widerstandes gegen Gewaltanmaßungen von Oben. Die unrechtmäßigsten Befehle einer jeden Exekutivgewalt in Frankreich, wo die ganze Verwaltung, selbst des kleinsten Dorfes, in den Händen der Regierung liegt, werden stets ihre willigen Beförderer finden. In England ist kein Beamter, der nicht in seiner Verantwortlichkeit vor einem besonderen unabhängigen Kreise die Kraft des Widerstandes gegen die leiseste verfassungswidrige Anmutung findet.

Wenn aber auch hier und da in Deutschland die Anfänge zur Herstellung einer freien Gemeindeverfassung gemacht wurden, so hat man doch fast nirgends den Gedanken an die Herstellung eines hierarchisch gegliederten Beamtenwesens aufgegeben. Die Verantwortlichkeit des Beamten sollte nach Oben bleiben; sie hätte aber nach Unten gerichtet werden müssen. Nächst der freien Gemeindeverfassung ist die zweite Grundlage eines freien Staats die eigene persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit jedes Beamten für seine Handlungen. Wo diese nicht vorhanden ist, wird der Gehorsam immer nur ausschließlich dem Oberen gelten, ist der Unterdrückung, dem Absolutismus der Weg gebahnt.

Wir setzen diese beiden Punkte für die Herstellung eines freien Staatslebens allen andern voran. Erst unter ihrem Schutz kann sich die freie Presse, die freie Vereinigung, so wie jegliche andere Freiheit entwickeln. Es sieht auch darnach aus, als ob das politische Bewusstsein in Deutschland solche Fortschritte gemacht hat, um einmal diese Entwickelung anerkennen und durchführen zu können. Freilich, fügen wir hinzu, absolut unverträglich damit ist der Militärstaat, der aus dem Heer einen den Befehlen der Exekutivgewalt unbedingt unterworfenen Körper schafft. Die Beamtenverantwortlichkeit muss wie in England auf jeden selbst militärischen Befehlshaber ausgedehnt werden, so dass er für jede Handlung, die nicht rein militärisch ist, die irgendwie die Interessen der anderen Staatsbürger antastet, unbedingt für seine Person den gewöhnlichen Gerichten des Landes unterworfen ist. Ein englischer Offizier, der ohne die gesetzlichen Vollmachten oder Erfordernisse einen Engländer erschießen lassen wollte, ist nicht durch den Befehl eines Oberen gedeckt, sondern wird, er und seine Leute, unfehlbar wegen Todschlags angeklagt und verurteilt werden. Unverträglich damit sind ferner Schutzzölle, welche den Erwerb und den Besitz der Staatsbürger dem Ermessen der Staatsgewalt anheimgeben. Frei muss der Mann sein in Allem, was seine eigenen Rechte betrifft, so frei, dass er allein sich und Anderen die Rechenschaft über das zu geben hat, was er vollbringt.
Wir glauben nun zuversichtlich, dass diese Ideen einen um so festeren Boden für Deutschlands Zukunft haben, als sie den Eigentümlichkeiten des eigentlichen deutschen Wesens in so hohem Grade entsprechen. In Allem, was in den Jahren der Bewegung von den Massen am Bereitwilligsten aufgefasst wurde, findet sich dies Streben nach Selbstverwaltung wieder. Ein Wirrwarr, wie er über ein halbes Jahr in Deutschland herrschte, würde Frankreich, das von jeher hat regiert sein wollen, ganz auseinander haben fallen lassen. Die Deutschen haben das stürmische Meer durchschiffen können, weil ihr Charakter sie mehr nach individueller Selbstständigkeit drängt. Sie wussten sich selbst zu helfen, wenn auch oben keine maßgebende Autorität mehr war. Das aber war gerade der Hauptmangel der Verfassungskünstler in Frankfurt, dass sie auf fremdländischem, nicht auf deutschem Boden standen. Sie verstanden Deutschland nicht. Wo irgend der Drang nach freier Selbstständigkeit zu Umgestaltungen führte, da schickten sie ihre Reichsheere hin und stellten die Autorität wieder her. Die „Ordnung“ war ihnen dermaßen in die Glieder gefahren, dass sie jede selbstständige Regung des Volkes bekämpften. Sie verließen erst die kleineren Staaten und später Preußen, dessen Steuerverweigerern sie im Voraus den Prozess machten. Sie verließen endlich sich selbst. Hier ist die eigentliche Mausfüllbare Kluft zwischen den Konstitutionellen und den Demokraten. Die „Ordnung“ stellten sie wie die „Autorität“ voran, wir die Freiheit. Der „Ordnung“ wegen ließen sie endlich in feiger, schimpflicher Weise das deutsche Volk in Stich.

So haben wir gelernt und so lernen wir noch immer. Das ist die Hoffnung der Zukunft. Auch die Anderen, unsere Gegner, haben gelernt. Sie wissen aus eigner Erfahrung, wohin das Paradies der Ruhe und Ordnung sie geführt hat und ahnen mit uns, welche Schrecken noch weiter bevorstehen. Darum verzweifeln wir auch nicht. Wie der einzelne Mensch durch Drangsal und Entbehrungen zur bessern Erkenntnis und zur bessern Tat geführt wird, so auch ein ganzes Volk. Es ist wahr, wir können nicht übersehen, welche Prüfungen noch in nächster Zukunft dem deutschen Volke bevorstehen. Und wird es auch vielleicht nicht trauriger unter uns aussehen, als schon jetzt, so mögen wir doch bedenken, dass der Freiheit noch auf andern Teilen des Erdenrunds eine Stätte geblieben ist, von der aus ihre Strahlen uns wieder beleben und kräftigen werden. Rom ging unter, weil es in Barbarei versunken war, Polen ging unter, weil es nicht Freiheit, sondern nur Ungebundenheit des Adels kannte, Frankreich geht vielleicht unter, wenn es fortfährt, der individuellen Selbstständigkeit keinen Raum zu geben. Deutschland wird aber nicht untergehen, so lange es sich selbst treu bleibt, d. h. das wahre Wesen der Einheit zu hegen und zu entwickeln vermag, so wenig wie England oder Nordamerika ihren Bedrängern unterlegen sind. Die unendliche, ewig sprudelnde Kraft des deutschen Volksgeistes beweist gerade sich darin, dass es trotz einer dreihundertjährigen Wirtschaft, wie die Geschichte keines anderen Volkes sie zeigt, sich doch, sowie man ihn nur eben etwas freier gewähren ließ, mit so wunderbarer Schnellkraft emporarbeitet. Noch vor einem Jahrhundert war es uns kaum vergönnt, in irgend einer Beziehung einer andern Nation uns zur Seite zu stellen. Wir haben jetzt in vielen Punkten erreicht, in einzelnen selbst überholt. Die Pflege des auf freier, geistiger und sittlicher Entwicklung gerichteten deutschen Volksgeistes ist daher auch die erste Aufgabe eines jeden Deutschen, der weder sich noch sein Vaterland aufgeben mag. Verzweifeln, die Hände in den Schoß legen, heißt Selbstmord; auch der einzelne Mensch kämpft, so lange noch Leben in ihm ist, für seine Existenz, und der Ruhm-Bedürftige erhält sie sich da, wo der Kleinmütige untergeht. Wohl ist es hart für uns, die wir zum Leiden und zum Kämpfen bestimmt sind; aber das Leben des Einzelnen zählt nicht in der Weltgeschichte. Unsere Väter haben für uns gekämpft, bahnen wir unfern Nachkommen den Weg zu neuen Taten. Und so, mitten aus dem Dunkel der Zeit, mitten aus dem tiefen Schacht, in dem wir Alle wühlen und streben, um das Gold der Freiheit ans Tageslicht zu fördern, rufen wir freudig Allen zu, die uns zur Seite stehen in Gesinnung und in Willen und in demselben Streben:
„Glück auf“

Rostock, Universität

Rostock, Universität

Wismar, Alter Schwede

Wismar, Alter Schwede

Wismar, Rathaus

Wismar, Rathaus

Schwerin, Theater

Schwerin, Theater

New York - Hudson-River-Kanal

New York - Hudson-River-Kanal

New York - Hafen 1

New York - Hafen 1

004. Somerset House in London. Strandfront. Mitteltrakt. Erbaut von Sir William Chambers 1776 Aus A. E. Richardson. Monumental classic architecture in Great Britain. London 1914

004. Somerset House in London. Strandfront. Mitteltrakt. Erbaut von Sir William Chambers 1776 Aus A. E. Richardson. Monumental classic architecture in Great Britain. London 1914

013. Wahlvergnügen 1 Nach dem Stiche von Hogarth. 1755

013. Wahlvergnügen 1 Nach dem Stiche von Hogarth. 1755

014. Wahlvergnügen 2 Nach dem Stiche von Hogarth. 1755

014. Wahlvergnügen 2 Nach dem Stiche von Hogarth. 1755

015. Wahlvergnügen 3 Nach dem Stiche von Hogarth. 1735

015. Wahlvergnügen 3 Nach dem Stiche von Hogarth. 1735

016. Wahlvergnügen 4 Nach dem Stiche von Hogarth. 1753

016. Wahlvergnügen 4 Nach dem Stiche von Hogarth. 1753