Die geblendeten Leute und das behexte Mädchen zu Neubrandenburg

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 1
Autor: Von F. C. W. Jacoby in Neubrandenburg, Erscheinungsjahr: 1858
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sage, Volkssage,
Was in Neubrandenburg geschehen
Zur Zeit, als Geister man gesehen,
Als Zauberer und Hexen lebten;
Die Menschen all' in Ängsten schwebten
Ob Teufelsbann und Hexerei,
Ob Augenblenden und derlei,
Davon will ich jetzund erzählen
Ein Stück — ob's wahr — soll mich nicht quälen.

Auf freiem Markte rief ein Mann:
„Ihr Leute kommet näher 'ran,
Seht diesen starken, langen Baum,
Der hier jetzt steht auf offenem Raum
Und nicht durchbohrt im Innern ist,
Durchkrieche ich in kurzer Frist;
Passt auf, jetzt geht das Schauspiel an.
Jetzt schaue recht auch Jedermann!"

So Viele auch da um ihn stehen,
Sie ihn den Baum durchkriechen sehen.
Vor ihren Augen wunderbar
Stellt sich das selt'ne Schauspiel dar.

Da kommt die Straß' von ungefähr
Ein Mädchen mit dem Krautsack her.
Das hat gefunden bei dem Pflücken
Ein Kleeblatt mit vier Blätterstücken.

Und als sie's hielt in ihren Händen
Ward sie verschont vom Augenblenden;
So sah sie ohne Trug und klar,
Dass jener Mann ganz offenbar
Den Baumstamm lang kroch obenhinn
Und sprach's auch aus mit off'nem Sinn:
„Was steht Ihr hier und gafft das an,
Was der tut, das kann Jedermann,
Er kriecht ja oben nur herum,
Oh lieben Leut', was seid Ihr dumm!"

Doch Jener hört kaum ihre Stimme,
Als er in fürchterlichem Grimme
Sie öffentlich behext, verflucht,
Dass eilig sie das Weite sucht.
Von Stund an ward sie krumm und lahm,
Zu Füßen nie sie wieder kam,
Was man an Mitteln auch ersann,
Sie blieb behext, im Teufelsbann;
Und ist erst durch den späten Tod
Befreit von aller Leibesnot.

Mecklenburgs Volkssagen - Band 1

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