Die Wundereiche unweit der Landstraße zwischen Schwaan und Bad Doberan.

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 1
Autor: Gesammelt und herausgegeben von M. Dr. A. Niederhöffer, Erscheinungsjahr: 1858
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sage, Volkssage, Wunder, Wunderglauben, Aberglauben, Heilkraft
Nicht gar weit von der Landstraße, die von Schwann nach Bad Doberan führt, zwischen dem Hofe Fahrenholz und dem Dorfe Stäbelow steht ein altehrwürdiger Eichbaum; früher allgemein, ja weltberühmt, jetzt aber wohl nur noch in der nächsten Umgegend bekannt, unter den Namen „die Wundereiche".

In der Mitte ihres Stammes, ungefähr 12 Fuß von der Erde, befindet sich eine merkwürdige Öffnung, so groß, dass ein Erwachsener ganz gut hindurch kriechen kann. Diese Öffnung ist mit einem Geländer umgeben, welches auf zwei von unten hinaufführenden, starken Treppen ruht.

Ihren Namen verdankt die Eiche der Wunderkraft, welche ihr sonst innegewohnt haben soll. Wenn nämlich früher ein Kranker nach Sonnenuntergang, stillschweigend und mit gläubigem Herzen durch die erwähnte Öffnung kroch, so wurde er, der Sage nach, alsbald wieder gesund. Alle möglichen Krankheiten, Gebrechen und Leiden, welcher Art sie auch immer sein, welchen Namen sie auch immer führen mochten, kurz jegliches Übel ist durch das Hindurchkriechen sofort beseitigt und geheilt worden.

Deshalb war es denn auch zu damaligen Zeiten, als die Eiche noch ihre ungeschwächte Heilkraft besaß, in dortiger Gegend immer ein gar arges Leben und Treiben, namentlich in dem Dorfe Stäbelow; denn nicht nur allein aus der Nähe, sondern auch aus weitester Ferne eilten fortwährend Scharen von Kranken und Leidenden aller Art herbei. Arm und Reich, Vornehm und Gering, kurz Alle, welche sonst keine Hilfe und Heilung mehr erlangen konnten, kamen hierher und fanden jedesmal das Erhoffte, indem sie geheilt, frisch und gesund wieder von dannen zogen.

Weit und breit hin war schon der Ruf und Ruhm dieses Wunderbaumes gedrungen, und immer weiter noch, bis in die fernsten Gegenden dehnte er sich aus. Daher strömten auch immer mehr Hilfesuchende aus allen Ecken und Enden der Welt, aus allen Himmelsgegenden hier zusammen; viele darunter, die über hundert Meilen Weges hatten machen müssen.

Sobald die Sonne untergegangen war, sah man dann die armen Kranken sich still eine Leiter suchen, — damals existierte nämlich noch nicht das Geländer mit den beiden Treppen, — damit schlichen sie nach der Eiche, legten sie dort an, klommen hinauf und krochen gläubig durch die bewusste Öffnung. Waren sie hindurch, so fühlten sie sich sofort wie von Neuem geboren, neue Lebenskraft durchströmte ihre Glieder, und frisch und gesund kletterten sie dann gewöhnlich gleich auf der andern Seite wieder hinunter und eilten, Gott dankend und freudig jubelnd, fix und leichtfüßig davon.

Unter den Genesung Suchenden befand sich einmal auch die Frau eines mecklenburgischen Landdrosten, die schon Jahre lang fortwährend krank und leidend war. Obgleich dieselbe auch schon alles Mögliche getan und versucht hatte, so war's doch stets vergeblich gewesen; denn weder der Gebrauch der verschiedensten Brunnen und Bäder, noch alle die Kuren und Mittel der berühmtesten Ärzte hatten auch nicht das Mindeste gefruchtet, nicht die geringste Änderung und Besserung ihres leidenden Zustandes herbeigeführt, und schon hielt man sie für unheilbar. Da hörte die kranke Dame einmal zufällig die Heilkraft der Wundereiche rühmen und sofort beschloss sie, auch dort ihr Heil zu versuchen. Sie ließ sich also zur Stelle fahren, stieg aus, nahm eine Leiter, erklomm dieselbe mit Aufbietung ihrer letzten, wenigen Kräfte, kroch durch die Öffnung und war sofort geheilt. Gesund und munter kehrte sie bald darnach in die Arme ihres hocherfreuten Ehemannes zurück, dem sie denn auch erzählte, wie sehr schwer es ihr geworden die unsichere Leiter zu ersteigen, wie sie sich, als sie die Öffnung durchkrochen, dann wieder beim Hinunterklettern geängstigt und gefürchtet habe, kurz, dass die ganze Geschichte doch eine recht unangenehme und beschwerliche sei.

Als der Herr Landdrost sich später einmal in der Nähe des regierenden Landesfürsten, des noch damaligen Herzogs Friedrich Franz*), befand und gerade die Rede auf die Wundereiche kam, erzählte er sogleich von der fast unglaublichen Genesung seiner früher so sehr kranken Frau und sprach auch über ihre Furcht und Angst, die sie bei der unbequemen Prozedur ausgestanden habe. Recht herzlich lachte der hohe Herr über das Letztere und meinte in seiner allbekannten drolligen Weise, er hätte wohl zusehen mögen, wie komisch sich die gute Dame dabei angestellt habe etc. Dann aber setzte er lächelnd hinzu: „Na lass's nur gut sein, alter Freund**), das soll nicht wieder passieren; künftig soll das Experiment schon besser gehen!"

Auf Allerhöchsten Befehl wurde bald darnach die bereits erwähnte Galerie mit den beiden hinaufführenden Treppenangebracht, doch leider ging damit zugleich auch die wunderbare Heilkraft der Eiche zu Ende. Denn trotz des wiederholten Hindurchkriechens ist es nach der Zeit doch keinem Leidenden gelungen, darnach wieder wie früher gesund zu werden.

*) Friedrich Franz I. erster Großherzog von Mecklenburg-Schwerin wurde am 10. Dezember 1756 geboren, folgte seinem Onkel, dem Herzog Friedrich, am 24. April 1785 in der Regierung, trat den 14. Juni 1815 dem deutschen Bunde bei und nahm damit zugleich die großherzogliche Würde an; am 24. April 1835 feierte er sein 50jähriges Regierungsjubiläum und starb den 1. Februar 1837.
**) Bekanntlich nannte der Großherzog Friedrich Franz I. jeden seiner Untertanen „Du", gleichviel, ob vornehm oder gering.


Über das plötzliche Verschwinden des Wunders gehen zwar verschiedene Gerüchte, alle stimmen jedoch darin überein, dass ein Handwerker schuld daran sei. Derselbe soll nämlich, als er bei dem Anbringen und Aufstellen der Treppen und des Geländers mitbeschäftigt war, einmal in seinem Übermute die Eiche gröblich entweiht und geschändet haben, wonach denn sofort ihre Heilkraft für immer dahin war.

Jetzt wird der merkwürdige Baum nur noch selten, von zufällig in die Gegend Kommenden besucht, von Kranken aber schon längst nicht mehr, und höchstens aus Spaß schlüpft jetzt nur noch mitunter ein Gesunder durch die sonst soviel durchkrochene Öffnung. Mit dem Aufhören der Wunderkraft ist auch der frühere große Ruf der Eiche nach und nach immer mehr erloschen, so dass heutigen Tages wohl nur noch den Bewohnern der dortigen Gegend der ehemals weltberühmte Baum, sowie Das, was die Sage von ihm erzählt, bekannt ist. Denn schon über 40 Jahre sind's her, als das Geländer angelegt wurde, womit ja auch zugleich die Heilkraft verschwunden sein soll.

Die Landleute sagen sogar, dass es bei der Wundereiche oft gar nicht mehr recht geheuer sei, indem schon einige den Bösen in der Öffnung erblickt haben wollen, und deshalb meiden sie jetzt auch nach Sonnenuntergang möglichst ganz den Ort.

Mecklenburgs Volkssagen - Band 1

Mecklenburgs Volkssagen - Band 1

Der Kamp mit dem Herzoglichen Palais.

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Der Kamp in Doberan.

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Das Stahlbad zu Doberan.

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Die Kirche - Das Doberaner Münster.

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Das Großherzogliche Palais in Doberan.

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