Die Seekrankheit

Den einen trifft sie immer, den anderen nie.
Autor: Redaktion, Pfennig-Magazin, Erscheinungsjahr: 1849
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Seekrankheit, Seereise, Schiffsreise, Kreuzfahrt, Seemann, Passagier, Übelkeit, Gleichgewichtsstörung, Meer, See, Ostsee, Nordsee, Ozean
Aus: Pfennig-Magazin für Belehrung und Unterhaltung. Neue Folge VII. Band. Nr. 314-365. Leipzig, Brockhaus 1849.

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Eine Seereise wird jetzt öfter gemacht, als man sonst die Donau oder den Rhein befuhr; jedoch eine Seefahrt hat für Viele eine kleine Unbequemlichkeit, die mit einer Fluss- oder Landreise niemals verbunden ist. Kaum ist man nämlich ein paar Faden oder Knoten über Stettin oder Cuxhaven hinaus, so verändert sich die ganze Gesichtsfarbe; Einer sieht den Andern an; Einer nach dem Andern wird gelb und weiß; Einer nach dem Andern guckt über die Galerie hinab ins blaugrüne Meer, als wolle er die Sirenen und Tritonen belauschen; jedoch er denkt nicht an die Sirenen oder Tritonen, er denkt an gar nichts, er hat höchstens nur den stillen Wunsch: O wärst du doch diesmal wieder zu Hause, oder überhaupt lieber zu Hause geblieben, und ehe er noch den Wunsch ausgedacht hat, bringt er stöhnend dem Neptun ein Opfer dar!

Es ist sonderbar! Die Alten sagen von der Seekrankheit fast kein Wort; ihre Schiffe waren so klein, sie segelten, so lange es ging, an den Küsten; je kleiner ein Schiff ist, desto mehr schwankt es; je mehr man sich an den Küsten hält, desto unruhigeres Meer hat man, und das Eine wie das Andere regt die Seekrankheit viel stärker auf. Nichtsdestoweniger scheinen die Argonauten davon nicht ergriffen worden zu sein, als sie das Goldene Vließ in Kolchis holten: die griechischen Helden segelten nach Troja, ohne daran zu leiden! Odysseus irrte 10 Jahre umher, ehe er wieder nach Ithaka den Weg fand; sein lieber Sohn, Telemach, suchte ihn auf und litt auch nicht daran; und wenn man an die Fahrten des frommen Aeneas denkt, so muss man sich nicht minder wundern, dass er von Troja bis Tunis und von da bis nach Rom kam, ohne einmal von der Seekrankheit heimgesucht zu werden. Kurz, die alten griechischen und römischen Dichter erwähnen derselben so wenig wie die alten Geschichtsschreiber, und man mag die Sache sich denken wie man will, so ist es ein halbes Rätsel; denn in Allem, was die Natur betraf, sind sie meist wahrhaft naivtreue Beobachter und Erzähler. Falls Homer einen seiner Helden verwundet werden lässt, berichtet er über die Wunde fast so genau wie ein Amts-Chirurg, der einen Bericht an die hochlöbliche Behörde machen muss, wenn es in der Schenke eine Schlägerei gegeben hat, die mit einer gefährlichen Verletzung endete. Genug, die Alten sagen von der Seekrankheit so gut wie nichts, aber desto mehr liest man von derselben bei jedem unserer Reisenden, der übers Meer kam und dann das Übel aus eigener Beobachtung oder — der beste, aber seltenere Fall — durch Beobachtung Anderer kennen lernte. Es ist eine abscheuliche Krankheit! Podagra und kaltes Fieber, Zahn- und Kopfweh nehmen nicht so mit wie eine tüchtige Seekrankheit! Sie raubt dem Menschen alle Besinnung, alles Gefühl, alles Mitleid; sie erniedrigt ihn unter das Tier. Der Vater vergisst, dass er Kinder hat, der Sohn achtet nicht des Vaters, der Mann bekümmert sich nicht um die Frau mehr; der Mensch wird ein Scheit Holz; er lässt sich treten und über sich weggehen ohne ein Wort zu sagen; das zartsinnigste Mädchen vergisst den Anstand und was die Sitte heischt. Wer seekrank ist, lässt sich Grobheiten sagen, dass ein Rügengericht Jahre und Tage lang zu schlichten hätte, und lässt sich schütteln und rütteln, ohne dass er sich rührt. Als ich das erste Mal nach England reiste — erzählte mir einer meiner Bekannten — hatte sich ein Mann auf meinen Platz gelegt. Ich bat ihn, denselben mir wieder einzuräumen: er antwortete nicht; ich redete ihn derb an, ich sagte ihm Anzüglichkeiten, ich packte ihn „am Halse: es half Alles nichts. Zuletzt schritt ich zum Äußersten; ich legte mich, so lang ich war, über ihn hin, und so blieben wir 12 Stunden lang zusammenliegen, und waren schon in der Themse, ohne dass der gute Mann es bemerkt hatte.

Merkwürdig aber auch, dass selbst die ganze körperliche Beschaffenheit verändert wird. Mancher leidet Tage lang an dem Übel, und ebenso lange genießt er meist weder Speise noch Trank, und wenn er es tut, dient es nicht zur Erhaltung des Körpers; denn es findet noch schneller den Weg aus dem Magen, als es ihn in denselben fand. Der eben genannte Reisende brachte 17 Tage so mit leerem Magen zu. Wenn mir, sagt er, es ein Anderer erzählte, ich glaubte es nicht. Als wir auf der Rhede in Havre den Anker lichteten, war es kalt und das Meer ging schrecklich hoch. Ich legte mich, wie ich war, in mein Bett, mit Pelzstiefeln, Winterrock, Pelzhandschuhen, den Hut in die Augen gedrückt. Gut! Der Sturm hörte nicht auf, und ich verlangte nach nichts. Ganz vernichtet wie ich war, brachte ich 17 Tage und Nächte mit meinem Hute, mit meinen Handschuhen, Winterrock und Stiefeln zu. So macht's die Seekrankheit !

Man spricht gar viel von Mitteln gegen dieselbe. Der Eine nimmt Bischofessenz, und der Andere isst eine Apfelsine; der Dritte fastet und der Vierte isst sich recht voll; doch der Erste wie der Zweite, Dritte und Vierte ist dadurch so wenig gesichert wie ein Fünfter, der gar Nichts brauchte, und der Sechste, welcher ein Stück Tabak, wie eine Wallnuss groß, kaute, „denn jeder echte Normann kaut Tabak, sagte ein Solcher, und kein echter Normann wird seekrank.“ Es dauerte aber nur wenige Stunden, so stolperte der echte Normann, der nie seekrank wurde, leichenblass umher und verschwand nach einigen plötzlichen Anfällen unter Deck. Ein Mittel will ich noch mitteilen, denn es ist mindestens so gut wie jedes andere. Sechs bis acht Bogen graues Fließpapier, mit starkem Krausemünzenbranntwein getränkt, über den Unterleib gelegt, dass sie die ganze Herzgrube bedecken, werden ebenso erwärmen als die Reizbarkeit des Magens mäßigen. Aber freilich: wodurch die Seekrankheit erzeugt wird, wissen wir so wenig; darf es uns wundern, wenn wir auch von den Mitteln dagegen wenig oder nichts wissen? Eine Ursache scheint vorzugsweise dabei zu wirken: das Steigen und Fallen und Schwanken des Schiffs von einer Seite zur andern erzeugt Schwindel; je unruhiger das Meer geht, desto mehr findet das Eine oder das Andere statt, und daher auch die Seekrankheit in höherem Grade, als es sonst der Fall gewesen sein würde. Selbst Solche, die sonst ganz von ihr verschont wurden, werden dann von ihr ergriffen. Am wenigsten suche man sich durch Essen von dem Übel zu befreien. Der Magen ist nicht im Stande, es bei sich zu behalten; man mutet ihm also immer neue krampfhafte Anstrengungen zu, und schon indem man sich zwingt zu essen, reizt man ihn dazu, denn nichts ist für den Seekranken widerwärtiger als der Dampf von Speisen und das Klirren von Tellern und Schüsseln. Diät, Ruhe und Geduld sind die Hauptmittel, das Übel wenigstens erträglich zu machen. Es gibt Menschen, welche davon ganz verschont bleiben; Kinder und Greise leiden wenig dadurch; Andere werden schnell davon befreit; Andere leiden daran, so oft sie aufs Meer kommen; noch Andere erfahren nur bei anhaltendem Sturme einen neuen Anfall. Mancher Seeoffizier fährt 40 Jahre übers Meer und hat stets einen solchen Kampf mit ihm zu bestehen, und als die berühmte Tänzerin Fanny Elßler ihre Reise nach und von Amerika aus auf dem Dampfschiffe des Great Western machte, konnte sie auf dem Verdecke ihre Battements einüben und bei Tafel essen, trinken, singen und lachen, während alle andern Damen stöhnend und ächzend den Neptun und seine Gaben verwünschten.

Alsatian

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Auf hoher See

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Dar Hafen von Kalkutta

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Hafentage

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Segelschiffe treffen Dampfschiff. Zwei Generationen

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