Die Schreckensnacht am Ostseestrand - Ein Bild aus der Sturmflut des 13. Novembers 1872

Aus: Daheim. Ein deutsche Familienblatt mit Illustrationen. IX. Jahrgang. 21. Dezember 1872.
Autor: Engelcke, H., Erscheinungsjahr: 1872

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Ostseesturmflut, Ostseestrand, Ostseeküste, Schleswig-Holstein, Mecklenburg, Vorpommern, Rügen, Deiche, Überschwemmung, Flut, Springflut, Sturm, Lebensretter, Hochwasser,
Still – totenstill war es im Wald.
Leise kräuselt die Ostsee ihre Fluten, sanft bespülten die Wellen die runden Steine, die weißen Muscheln am Strande, Hinter den Dünen, die in dreifacher Reihe bis zu einer Höhe von 30 bis 40 Fuß durch das unausgesetzte Anschlagen der Wellen sich gebildet, lag unter alten Buchen und Eichen, die des herbstlichen Schmuckes bereits beraubt waren, das stille friedliche Dorf. Dort hatten sich Fischerfamilien, deren Glieder, so lange sie stark und rüstig waren, wöchentlich auf die See hinausgezogen, um in ihren schmucken flüchtigen Fahrzeugen Netze und Angeln auszuwerfen und die Kinder des Meeres, den elastischen Aal, den schmucken Bars, den silberweißen Lachs zu berücken und zu fangen, Ende des vorigen Jahrhunderts angesiedelt. Die Wohnungen lagen vereinzelt und zerstreut, die Hütten und Häuser der Fischer mit blankem rotem Ziegeldach, teils aus Lehm oder aus Fachwerk, teils massiv und weiß getüncht, waren alle mit kleinen Gärten versehen und schauten so freundlich und lieblich zwischen den Bäumen hervor. Aber im Laufe der Zeit hatten auch wohlhabende Familien sich dort niedergelassen. Schiffskapitäne hatten das Dorf zu ihrer Heimat, oder wenn sie nicht mehr „fuhren“, sondern sich zurückgezogen hatten, zu ihrem Ruhesitz gewählt. Was sie in stetem Ringen mit dem Meere in fremden Weltteilen sich erworben, hatten sie hier in Grund und Boden angelegt; ein kleiner Viehstand gab ihnen ihre täglichen Bedürfnisse, das weite Meer – die wahre Heimat des Schiffers – breitete sich täglich vor ihren Augen in seiner Unermesslichkeit aus.

In der Mitte lag die kleine Kirche mit dem schlanken weißen Turm und dem goldenen Hahn, nach welchem die Bewohner des Dorfes täglich ausschauten, um zu erspähen, welche Richtung der Wind einschlagen, der Wind, für den Fischer der treueste Freund, der furchtbarste Feind.

Neben der Kirche lag der Friedhof mit seinen einfachen schwarzen Kreuzen oder mit weißen kunstvollen Steinen, je nachdem der, der darunter den ewigen Schlaf schlummerte, der See minder oder mehr zu Lebzeiten abgerungen hatte. Daneben befand sich das freundliche Pfarrhaus. Um die Kirche, durch den Wald zerstreut, in weitem Bogen lagen die übrigen Häuser, unter denen das Forsthaus, das Posthaus und das des Schiffskapitäns Gerhard sich besonders auszeichneten. Wie die Gebäude sich vorteilhaft abhoben gegen die übrigen kleineren Wohnungen, so auch deren Bewohner. Der Pfarrer war schon 50 Jahre in dem Ort. Er hatte fast sämtliche Bewohner getauft. Das Wort Gottes ihnen verkündet, sie am Altar für das Leben verbunden, und die meisten jener Grabhügel auf dem kleinen Friedhof hatten seinen letzten Segen vernommen.

Auch der Förster war ein alter Mann, ein Jugendfreund des Pfarrers und fast so lange als dieser im Dorf. Beide Männer hatten ihr Leben lang gar wacker gestrebt und gerungen; fest an einander geschlossen durch persönliche Freundschaft kettete sie noch ein doppeltes Band. Die beiden Söhne des Försters hatten die beiden Töchter des Pfarrers geheiratet. Die Alten hatten ihre Vermögen zusammengeworfen und den beiden Brüdern, die Schiffer waren, einen Schoner gebaut, auf dem nun der ältere als Kapitän, der jüngere als Steuermann fuhr. Die „Johanne Marie“ war ein gar schmuckes und schnelles Schiff und brachte reichlich Fracht. Auch der Postmeister, ein ehemaliger Schiffskapitän, der bereitwillig jene ihm angetragene Stellung vom Reich angenommen, und Kapitän Gerhard reedete mit in dem Schiff, das für die beiden Alten, den Pfarrer und den Förster zu teuer geworden war. Der Postmeister und Kapitän Gerhard hatten jeder einen Sohn, die auch das Schifferwesen erlernen wollten. Die beiden jungen Leute, 16 und 17 Jahre alt, fuhren als Jungmänner auf der „Johanne Marie“. Aber auch der Pfarrer und der Kapitän sollten durch die Bande der Familie verknüpft werden. Der Kapitän hatte noch einen älteren Sohn, der den Rock seines Kaisers getragen. An der Loire hatte er den rechten Arm verloren. Mit dem Kreuz geschmückt, mit reichlicher Pension vor Not geschützt, aber freilich als Krüppel, war er in das Vaterhaus zurückgekehrt. Und als er die heimische Schwelle zuerst wieder betreten und der Vater ihn in seine Arme schloss und der Pfarrer ihm zurief: „Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, der Name des Herrn sei gelobt“, da hatte der Sohn in einer Ecke der Stube am Fenster ein leises Schluchzen gehört. Und als er sich nach jener Stelle gewendet, da hatte sein Auge die blonde Elise, die jüngste Tochter des Pfarrers gewahrt, und er war auf sie zugetreten und hatte ihr, deren Bild ihn in dem Getümmel der Schlachten nicht einen Augenblick verlassen, zagend und zögernd die einzige Hand gereicht, die ihm übrig geblieben war. Sie aber hatte, keines Wortes mächtig, ihren Arm um den Hals des Geliebten geschlungen, und der alte Pfarrer und der Kapitän hatten daneben gestanden und die Hände betend für das Wohl ihrer Kinder gefaltet. Hauptmann Gerhard besaß neben seiner Pension ein eigenes, wenn auch geringes Vermögen, dass ihm einer seiner Paten hinterlassen, und von diesem Geld hatte er sich im Dorf einen kleinen Acker- und Waldhof gekauft, dessen Ertrag in und Elise ernähren sollte.

So waren die vier alten Männer, die ihre Frauen schon vor Jahren verloren, teils durch die Bande der Verwandtschaft und Freundschaft, teils durch vermögensrechtliche Beziehungen eng aneinander gekettet und auf sich angewiesen. Niemals, weder unter den Eltern noch den Kindern, hatte je ein Zwist gewaltet, und der herrliche alte Wald barg unter seinen grünen Bäumen vier der glücklichsten Häuser.

Fischer, Garnspinnen, beim Netzeflicken in Saßnitz

Fischer, Garnspinnen, beim Netzeflicken in Saßnitz

Fischer, Auf Heringsfang bei Rügen

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Klima, Der Untergang des Ostseebades Niendorf im Fürstentum Lübeck

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Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, auf dem Priwall bei Rosenhagen in Mecklenburg-Schwerin

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Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Das Fischerdorf Hasthagen in Mecklenburg-Schwerin

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Das Fischerdorf Hasthagen in Mecklenburg-Schwerin

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Die Landesbrücke in Travemünde

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Die Landesbrücke in Travemünde

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Rettung zweier Menschenleben im Hafen von Stralsund

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Rettung zweier Menschenleben im Hafen von Stralsund

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Seebad Niendorf_

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Seebad Niendorf_

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Seebad Niendorf, 1

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Seebad Niendorf, 1

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Seebad Niendorf, Die Sturmflut

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Seebad Niendorf, Die Sturmflut

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Seebad Niendorf, Nach dem Sturm

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Seebad Niendorf, Nach dem Sturm

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Travemünde_

Klima, Die Sturmflut am Ostseestrand, 13. November 1872, Travemünde_