Die Kinder im Seebad

Mitteilungen aus dem Seebade Doberan
Autor: Kortüm, August Karl Friedrich Ludwig Dr. (1810-1884) Großherzogl. Mecklenb. Medizinalrat und Badearzt, Erscheinungsjahr: 1864
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Seebad, Ostseebad Heiligendamm, Dr. Kortüm, heilige Damm, Baderegeln, Doberan, Mecklenburg, Badekur, Badearzt, Kurbad, Seebadeanstalt, Kinder, Hygiene, Gesundheit, Reisen
Schon in meiner kleinen Schrift über den heiligen Damm (1858) habe ich mich über die Bedenken ausgesprochen, welche ich gegen das rücksichtslose Baden der Kinder in der offenen See hege. Der Gegenstand ist von besonderer Wichtigkeit für diejenigen Seebäder, welche, wie es gerade am heiligen Damm der Fall ist, vorzugsweise gern von ganzen Familien als Villeggiatur für eine längere oder kürzere Zeit während der Sommermonate benutzt werden. Ich halte es daher für zweckmäßig, dies Thema noch einmal wieder aufzunehmen, zumal da die Erfahrung gezeigt hat, dass die kalten Seebäder für grazile Naturen, zu denen ich die Mehrzahl der Kinder rechne, in der Tat noch immer nicht als so ernst angesehen werden, wie sie es verdienen.

Die Kinder, welche während der Saison an die See kommen, teilen sich in zwei Gruppen, in solche nämlich, welche ihrer Gesundheit wegen gebracht werden, und eine Kur gebrauchen wollen, und in solche, welche ohne krank zu sein, ihre Eltern dorthin begleiten.

Die zweite Gruppe hat teils die positive Aufgabe, gleichviel ob sie sich mit der Seeluft begnügen oder ob sie baden sollen: ihre Gesundheit noch zu kräftigen, teils die negative, wenigstens ihrer Gesundheit nicht zu schaden. Die erstere Gruppe besteht weitaus in den meisten Fällen aus solchen, welche überhaupt eine grazile Konstitution kräftigen sollen, ohne dass sie gerade bestimmte Krankheitsanlagen haben, oder aus solchen, bei denen bestimmte Krankheitsanlagen, wenn nicht ausgebildete Krankheiten vorliegen; so die schon im jugendlichen Alter Platz greifende „Neigung zu Erkältungen“. die Disposition zur Bräune, zum Asthma, zur Migräne, Inkontinenz des Urins, zu Skropheln und Rachitis. Nur selten waren es andere Gründe, um derentwillen ihnen das Seebad empfohlen war. — Diese kleinen Kurgäste sind es besonders, welche diese Zeilen veranlassten. Es kann mir nicht in den Sinn kommen, hier für die verschiedenen Leiden verschiedene Kurmethoden proklamieren zu wollen. Ihre Kuren werden vom Hausarzt angeordnet, welcher in richtiger Würdigung der klimatischen Verhältnisse an der nördlichen Seeküste, und die Unmöglichkeit, auch mit der größten Umsicht alle Eventualitäten an der Küste und im Verlauf des Befindens genau vorher zu berechnen, dem Badearzt die Grenze für die auszuführende Kur nicht zu eng ziehen wird. Ich will nur einige Gesichtspunkte von allgemeinem Interesse berühren, welche bei Kinder-Kuren an der See in ausgedehnter Weise berücksichtigt zu werden verdienen.

Der erste Gesichtspunkt bezieht sich auf die, für die Kur zu wählende Jahreszeit. Bei den Kindern, für welche: man an eine Kur, sei es eine klimatische oder eine Badekur zu denken genötigt ist, wird man ohne Frage im Winter oder zu Anfang des Frühlings am Lebhaftesten daran erinnert. Seltner sind es später aufgetretene Leiden, welche als Ausnahmen von der Regel nicht so sehr in Betracht kommen; z. B. langsame Rekonvalescenz nach schweren Krankheiten, für welche jede Zeit der Saison geeignet ist, wenn die nötige Kontrolle nicht fehlt. Für die eigentlichen Kinderkuren gilt ganz allgemein die Regel. dass der Frühling die beste und wichtigste Zeit für sie ist. Freilich nicht der Frühling, der im Kalender steht, und wenn die ersten Lerchen schwirren; der sicht im nördlichen Deutschland nicht immer ganz so verlockend aus, wie ihn die poetischen Gemüter schildern; er lässt ja auch im südlichen Teil unseres Vaterlandes noch manches zu wünschen übrig, namentlich in Betreff seiner Beständigkeit. Ich meine den Frühling im Juni und in der ersten Hälfte des Juli, also das Ende des Kalenderfrühlings und den ersten Teil des Sommers.

Diese Zeit stimmt zugleich am Besten mit den, nicht bloß auf das Klima bezüglichen Verhältnissen, welche für Kinder im Seebad wünschenswert sind. Die Natur ist allerdings während dieser Zeit an der See in ihrer üppigsten Schönheit. Oft ist im Süden das frische Grün dann schon dem glühenden Sonnenstrahl erlegen, wenn an der Küste die Buchenwälder noch in ihrem ersten Lüstre sind. Und nicht mehr, als anderwärts auch, treten dann hier Unterbrechungen der milden Witterung ein, ohne dass von der Schwüle der Sonne wesentliche Störungen zu erwarten sind. — Von Wichtigkeit ist für die Kurgäste im Seebad, und namentlich am heiligen Damm, dann der Umstand, dass in seinen Badelisten noch nicht Tausende von Namen aufgeführt sind, welche Wohnung und Raum beengen. Die Wohnungen sind in dieser Zeit noch nach Belieben zu wählen, und den Kindern gehört das Reich mehr wie später. Schwerlich finden sie einen Aufenthalt, wo ihnen mit mehr persönlicher Freiheit wie hier gestattet werden kann, sich rücksichtslos im Freien herum zu taumeln. Ihnen gehört der Strand, die Parks, der Wald und das Feld. Und was kann ihrer Kur wirksameren Vorschub leisten?

Auch in diätetischer Beziehung tritt eine Rücksicht ein, die nicht ganz außer Acht zu lassen ist. Alle Früchte reifen später an der Küste als im Binnenland. Die Erdbeere bleibt den Juli hindurch fast das einzige Obst, welches reichlich zur Verfügung steht: sie ist gewiss die zweckmäßigste Frucht für Kinder, die auf ihre Gesundheit Rücksicht nehmen müssen. Erst später treten die Verlockungen der übrigen Obstsorten ein, die dann reichlich feil sind, und stören nicht selten das Befinden, wenn die nötige Vorsicht und Kontrolle fehlt. Diese ist aber, wenn die stark gedrängte Bevölkerung und das bewegtere Badeleben eintritt, auch bei den kleinen Volontairs nicht mit der Konsequenz durchzuführen, welche unerlässlich ist.

So vereinigen sich viele Umstände, um für die Wahl der frühen Saison zu Kinderkuren an der See beachtenswerte Vorzüge in die Wagschale zu werfen. Am wenigstem empfehlenswert für Kinder, insbesondere für kleine Kinder, ist die letzte Zeit der Saison, der September, der wieder für selbstständige und eigentliche Kur- Gäste in vielen Rücksichten einen großen Vorzug vor der Mitte der Saison verdient. Für die Kinder ist hier schon der Umstand beachtenswert, dass die Abendluft, welche in den langen Tagen für sie fast gar nicht in Betracht kommt, um diese Zeit schon großen Anspruch auf Beachtung macht.

Ein anderer Gesichtspunkt bezieht sich auf die Kinder-Kuren selbst. Die Kur der kleinen Badegäste, welche in Berücksichtigung der quantitativen Abstufungen jener Disposition oder Leiden, deren ich gedacht habe, angeordnet zu werden pflegt, läuft bei Weitem in den meisten Fällen auf das Leben in der Seeluft und auf warme Seebäder hinaus. Je jünger die Kinder, desto mehr ist dies der Fall. Erst bei größeren treten wohl ähnliche Indikationen ein, wie bei Erwachsenen, und lassen dem offenen kalten Seebad den Vorzug.

Ich habe im vorigen Jahrgang dieser Blätter, Nro. 1 und 2, in dem Artikel die warmen Seebäder und der heilige Damm die Bedeutung ausführlicher besprochen, welche den warmen Seebädern zuerkannt werden muss. Ich habe, darauf aufmerksam gemacht, dass die warmen Seebäder nicht bloß nach ihrem Salzgehalt beurteilt werden dürfen, sondern, wenn man glaubt, nicht mit diesen und mit einer zweckmäßig gehandhabten Temperatur auskommen zu können, und wenn man auf eine konzentrierte Beimischung von Salz oder andern heilkräftigen Substanzen großen Wert legt, dass man wohl beachten möge, was aus ihnen mit demselben Rechte gemacht werden kann, was aus allen natürlichen Badewässern gemacht wird, welchen zu Kurzwecken Salzsoolen oder Mutterlaugen zugesetzt werden; - dass also das warme Seebad, sei es an und für sich ungemischt, oder mit jenen Zusätzen, ein vollkommen ebenbürtiges chemisches Äquivalent einer Reihe von Thermen ist; und dass die Kuren, welche mit diesen Bädern ausgeführt werden sollen, vor allen ihren Äquivalenten im Binnenland den großen Vorzug haben, dass sie in der Seeluft genommen werden, welche ja oft schon allein zur Kur genügt.

Ich habe seitdem die lebhafte Zustimmung vieler Kollegen zu den, in jener Abhandlung vertretenen Grundsätze erhalten, und kann die empirische Richtigkeit derselben wiederholt bestätigen.

Auch das kann ich wieder bestätigen, dass bei der Kur chronischer Affectionen im Seebad das alte Gesetz des: Festina lente von einem Wert ist, der nicht hoch genug angeschlagen werden kann, und dass namentlich der Gebrauch der warmen Seebäder als Kurbäder dann viel größere Erfolge hat, wenn er durch tempestive Pausen unterbrochen wird, als wenn in uno tenore eine vorgeschriebene Zahl von Bädern hintereinander gewissermaßen abgeleiert wird: dass es namentlich für Kinder zweckmäßig ist, nicht täglich zu baden, sondern in Pausen, welche nach den Umständen geregelt werden.

Sehr zweckmäßig verbindet sich in vielen Fällen, zumal bei kleinen Kindern, der Gebrauch der warmen Seebäder mit kalten Waschungen; nicht unmittelbar nach denselben, wie die kalten brauchen nach den warmen Bädern Erwachsener; diese sind den Kindern ebenso unangenehm, wie jenen willkommen, sondern Abends beim Schlafengehen. Bei kleinen Kindern, die noch auf dem Arm getragen werden, und auch bei älteren, glaube ich behaupten zu dürfen, dass diese Waschungen, ohne alle weiteren Bäder vorgenommen, die warmen und die kalten Seebäder sehr oft vollständig zu ersetzen im Stande sind. Gewiss sind sie in dem Falle vorzuziehen, wenn das Kind eine unüberwindliche Aversion gegen die kalten Bäder in der See hat, oder nach den ersten kalten Bädern bekommt; wenn es vor dem Bade in eine Angst und Aufregung gerät, dass kein unbefangenes Urteil ein solches Bad ein zweckmäßiges Kurbad für ein Kind nennen kann. Ja wenn es ein Erziehungsbad sein sollte, würde es ebenso sehr ein missverstandenes Erziehungsbad sein, als ein missverstandenes Kurbad; in jenem Falle wird die Erziehung, in diesem die Kur sehr zweifelhafte Triumphe feiern. Meines Erachtens darf in solchen Fällen ein Kind nicht in der See gebadet werden. Es gibt keine ärztliche Indikation, welche berechtigt wäre von solchen Umständen abzusehen, und es gibt keine Verteidigung für pädagogische Prinzipien, welche ein solches Zwangsverfahren rechtfertigen könnte.

Bäder für Kinder in offner See halte ich nur dann für empfehlenswert, wenn einerseits die Kinder gern hineingehen, und wenn ihre Passion dafür keine künstliche, also unwahre ist; und wenn andererseits die See hinlänglich warm und wenn sie ruhig ist. Die letzten beiden Verhältnisse zusammen dauern in der Regel nur kurze Zeit ununterbrochen fort, und sorgen dafür, dass die Kinder nicht lange ohne Unterbrechung weiter baden. Sind sie aber andauernd, so müssen, auch wenn die Kinder sich wohl befinden, und gerne baden, gebotene Pausen eintreten. Während bei den kurmäßig badenden kleinen Kindern diese Fragen selten eintreten werden, so kommen sie häufig bei den kleinen Volontärs vor, und bei ihnen, wie bei dem größten Teil der Erwachsenen sind es keine Kurbäder, um die es sich handelt, sondern es sind Vergnügungsbäder, und wie jedes Vergnügen, so soll auch das Vergnügen des Seebadens nur innerhalb solcher Grenzen genossen werden, dass es nicht zum Schaden ausschlägt, — eine Chance, die beim unvorsichtigen und ungenügsamen Gebrauch der Seebäder leider häufig genug eintritt. Ich warne deshalb vor der Befolgung von Ratschlägen, deren Ausführung schon mancher Familie, die zur Erholung mit ihren Kindern ins Seebad ging, das Seebad verleitet hat. Zwar weiden die üblen Folgen, die darnach entstehen, in der Regel und mit Vorliebe auf Erkältung geschoben; die Überanstrengung, welche der zu häufige und zu lange Genuss des Seebades als Vergnügensbad, mit seinem forcierten Schwimmen und Tauchen im Gefolge hat, wird nicht in Anschlag gebracht, wenigstens nicht für den Augenblick. Später aber gewiss kommt das offne Geständnis nach: ich habe nur durch das viele Baden geschadet. — Es gibt keinen Fall, in welchem es geraten sein könnte, bis zu 15 Minuten im Seebade zu bleiben (Fleischer), es gibt keinen Fall, in welchem das nüchtern Baden den Vorzug verdient.

Nach diesen Bemerkungen, die sich auf eine vieljährige unbefangene Beobachtung der Seebad-Vorgänge am heiligen Damm beziehen, kommt noch der Umstand hinzu, die frühere Zeit der Saison für Kinderkuren zu empfehlen, dass die kalten Seebäder, welchen die Temperatur der See während dieser Zeit selten besonders günstig ist, für Kinder noch seltner notwendig sind; dass also die Kinder, oder vielmehr ihre natürlichen Vormünder, nicht so stark wie später tentirt sind, den oft überraschenden und glänzenden Erfolg der warmen oder kombinierten Badekuren durch die Heldentaten im kalten Bad schließlich noch zu unterbrechen, oder wenigstens in Frage zu stellen. Das Kind bedarf der Wärme zu seiner Genesung und zum fröhlichen Gedeihen. Darum vielleicht bestätigt sich so bestimmt der günstige Erfolg der abendlichen kalten Waschungen, weil hier die nachträgliche Erwärmung im Bett und die Unterhaltung der Wärme durch längere Zeit viel gewisser ist, als wenn die kalten Waschungen des Morgens geschehen, zumal bei rauem Wetter und einer nur theoretisch ausreichenden Sommerbekleidung. Und der nachträglich notwendigen Erwärmung wegen bewährt sich auch von diesem Gesichtspunkt aus der Vorzug des Frühstückens vor dem Bade.

Nur Eines Punktes will ich noch gedenken: es ist unersprießlich für den Erfolg der Kur bei kranken Kindern, und unersprießlich für das Gedeihen der badenden kleinen Volontärs, wenn zu viel Wert auf die strenge und konsequente Durchführung der wissenschaftlichen Beschäftigung der Kinder gelegt wird. Ich kann es nicht genug betonen, dass der Unterricht der Kinder im Seebad weit mehr auf angenehme lehrreiche Unterhaltung, als auf ernsthaftes selbsttätiges Arbeiten sein Augenmerk zu richten hat.

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