Die Jungfrau im Pinnower See unweit Schwerin.

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 1
Autor: Von L. Pechel, Organist und Lehrer zu Röbel, Erscheinungsjahr: 1858

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sage, Volkssage,
Es war einer jener stürmischen Novemberabende im Jahre 1812, wo es dem Menschen am gastlichen häuslichen Herde so wohl ist, als um den Kamin eines Ludwigsluster Hauses mehrere Männer saßen. Der Ernst der Zeit, des engeren und weiteren Vaterlandes Schmach und tiefe Erniedrigung lastete auf allen Gemütern und machte auch diesen Männern das Herz schwer. Aber gerade in so trüber Zeit tritt die Erinnerung an die Vergangenheit lebendig vor die Seele; Jedem ist das, was ihre friedlichen Tage ihm Frohes und Trübes brachten, doppelt wert; er fühlt sich zu offener Mitteilung angeregt , durchlebt in der Teilnahme Anderer noch einmal sein eigenes Leben und vergisst über der Vergangenheit die Leiden der Gegenwart.

So hatte auch dieser Abend jene Männer vereint. Unter ihnen ist der Fischer aus dem Kirchdorfe Pinnow, ein ehrwürdiger Greis, über dessen Haupt fast 70 Jahre dahingegangen sind. Das von ihm an jenem Abende erzählte Erlebnis ward mir von einem Ohrenzeugen mitgeteilt, und ich gebe dasselbe hier getreu wieder.

Das Kirchdorf Pinnow liegt an der Straße, die von Criwitz nach Schwerin führt. Es ist von schönen Wiesen und Laubwaldungen prächtig eingefasst und hat in seiner Nähe einen nicht großen Landsee, der fast ringsum von hohem Schilf umgeben ist; die Ufer sind mit Weiden und Birken geschmückt, die ihre langen Zweige auf den Wasserspiegel herab hängen lassen. Aus seiner Mitte erhebt sich eine Insel, Borgwerder genannt, nicht gar hoch über das Wasser, von einem schönen, weichen Rasen überzogen, von Bruchweiden und anderem niedrigen Gesträuch umstanden.

Zu den Bewohnern Pinnows gehört auch ein Fischer, der die Fischerei des Sees gepachtet hat. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war es eben jener Mann, dessen schon vorher Erwähnung geschah, und der damals in dem Alter von etwa 26 Jahren stand.

Schon von frühester Jugend an war das Fischen auf dem See seine tägliche Beschäftigung, und es gehörte zu den täglichen Vorkommenheiten seines Berufes, am Abend die Netze über das Gebüsch des Borgwerders zum Trocknen auszubreiten.

Es war an einem Abende im Spätsommer, als er mit eben dieser Arbeit beschäftigt war. Die Sonne ist so eben untergegangen; der Himmel erglüht im Westen noch in der Pracht des Abendrots; Frieden und Schweigen ruhet auf der Natur. Da lässt sich ein leises Plätschern und Rauschen in dem Schilf des Borgwerders hören; die schlanken Halme des Rohres neigen sich tief herab, und hervor steigt aus des Wassers Tiefen ein schönes, liebliches Frauenbild. Furcht und Grauen bemächtigen sich des Fischers, als er so in stiller Abenddämmerung dem See ein menschliches Wesen entsteigen und vor sich stehen sieht. Er will in den Kahn springen, um schnell dem unheimlichen Orte zu entfliehen, wird aber von einer sanften, klagenden Stimme angeredet, die ihn beruhigt und zum Bleiben nötigt. Der Fischer, nicht ohne Furcht, aber angezogen von der sanften Gewalt der Worte und von der tiefen Wehmut, die aus ihnen spricht, legt das schon ergriffene Ruder nieder und tritt näher. Er sieht vor sich, beleuchtet von dem matten Schimmer des Abendrots, eine jugendlich schöne weibliche Gestalt in weißem Gewande, das den Leib bis auf die Fußspitzen einhüllt und in weiten Falten umwallt. Das dunkle Haar ist aufgelöst und fällt vom Nacken und Schulter auf die Brust herab. Das Gesicht hat den Ausdruck großer Lieblichkeit, ist aber umdunkelt von Trauer und dem Gefühle großer Wehmut. Das Auge ruht fragend und bittend auf dem Fischer. Nachdem sie ihn einige Augenblicke unverwandten Blickes angesehen, hebt sie also an:

„Auch ich lebte einst, wie Du, unter frohen, fleißigen Menschen und hatte Teil an ihrem Leid und ihrer Lust. Vater und Mutter liebten mich, und ich war glücklich in dieser Liebe. Aber eine unselige Macht, deren Namen ich nicht nennen darf, stürzte mich in namenloses Elend und führte mich in die Tiefe dieser Insel, wo ich, fern von allen menschlichen Wesen, freudlos meine Tage vertrauern muss. Ein Zauber lastet auf mir und hat mich in die Gestalt einer Kröte verwandelt. Nur alle hundert Jahre wird an dreien Abenden der schreckliche Zauber gelöst, und ich darf zu dieser Zeit in meiner früheren Gestalt auf der Insel einige Stunden verweilen. Jeden Abend während dieser drei Tage werde ich nach jenen Stunden wieder in eine Kröte verwandelt, kann dann aber bis zum nächsten Abend auf der Insel bleiben; sind die drei Tage aber zu Ende, dann muss ich wieder hinab in die Tiefen der Insel. Nur Ein Mittel gibt es, den Zauber auf immer zu bannen und mich zu befreien, und ich will es Dir nennen: Kommt zu jener Zeit, wo ich auf der Insel sein darf, ein Mann, dessen Herz nie von sträflicher, sündlicher Leidenschaft entflammt ward, und entschließet sich, in einer von diesen drei Nächten, zur Mitternachtsstunde dreimal auf seinen Knien um die Insel zu kriechen und mich, die ich ihm jedesmal als Kröte begegne, zu küssen, so bin ich erlöset aus den Fesseln, die mich gefangen halten."

Die Jungfrau hielt nach diesen Worten ein und sah den Fischer forschend und fragend an. Dann fuhr sie fort: „Du weißt nun, in welchem Elend ich schmachte und wie meine Bande zu lösen sind. Lass Dich meine Not rühren und entschließe Dich zu meiner Befreiung. Du darfst für Leben und Sicherheit keine Furcht hegen; Dich umgibt eine schützende Macht, der auch mein Widersacher untertan ist. Ich werde Dir folgen auf Deinem Wege und die Hindernisse beseitigen helfen, die Dir entgegenstehen. Und hast Du mich gerettet, dann wird Dir ein reicher Lohn werden, in dessen Besitz Du großen Glückes genießen wirst."

Die Jungfrau schwieg. In dem jungen Fischer kämpften die verschiedensten Gefühle. Er war von tiefem Mitleid für das Schicksal der Unglücklichen erfüllt. Aber es schien ihm ihre Befreiung ein großes Wagnis zu sein, und fürchtete er, selbst in die Bande zu geraten, die er sprengen sollte. Deshalb weigerte er sich standhaft, und als er mit flehender Gebärde wiederholt gebeten ward, gab er das Versprechen, die Sache in stille Überlegung zu ziehen und am nächsten Abend wiederzukommen.

Der Abend dämmerte; das Abendrot umsäumte wieder den westlichen Himmel mit seinem Purpur. Der Fischer hängte mit banger Erwartung seine Netze auf das Gebüsch des Borgwerders. Da vernimmt sein Ohr wieder das leise Plätschern des Wassers; das Schilf flüstert und neigt sich, und hervor aus dem Wasser steigt die weiße Jungfrau, den Fischer mit ihrem sanften Auge anblickend. Das Antlitz ist nicht mehr so von Trauer umdunkelt, es wird belebt von einem Strahl von Hoffnung. Sie richtet an den Fischer die Frage, ob er sich entschließen wolle, in der nächsten Mitternachtsstunde das Werk ihrer Befreiung auszuführen. Er will es, aber nur unter der Bedingung, dass er einen Freund mitbringen dürfe, der ihm bei etwa drohender Gefahr helfend und schützend zur Seite stehe. Bei diesen Worten tritt sie mit rührender Gebärde vor den Fischer hin und spricht: „Deinem Leben drohet keine Gefahr, da es schützend von dem Arm eines Mächtigen umgeben wird, dem auch mein Peiniger weichen muss. Meine Errettung ist aber an die Bedingung geknüpft, dass Du allein kommst und ohne Furcht und Hülfe aufopfernden Sinnes Dich meiner Befreiung hingibst. Nur so kann der Zauber gelöst und mein Gefängnis gebrochen werden." Dem jungen Fischer ist's aber so bange ums Herz; gerne möchte er der flehenden Jungfrau helfen, — aber ein Grauen hält ihn ab, zur Geisterstunde die Insel zu umkriechen, wo es nach alter Sage um die mitternächtliche Stunde nimmer geheuer sein soll und Geister ihren Umgang halten. Er wiederholt seine Weigerung und die Bedingung, unter der er mit dem Schlage 12 auf den Borgwerder kommen will. Die Jungfrau lässt nicht ab mit dringender Bitte; sie schildert ihm wiederholt ihre Not und das entsetzliche Elend ihres Zustandes. „Hast Du das Werk ausgerichtet und mich der Hand meines Peinigers entrissen, dann harret Deiner großer Lohn: eine goldene Tafel wirst Du empfangen, die Dir und Deinen Nachkommen reichen Segen bringen wird bis in die fernste Zeit," Dem Fischer ist's so weh und so bange ums Herz; schon glaubt er, in der Abenddämmerung tanzende, drohende Kobolde auf dem Borgwerder ihr neckendes Spiel treiben zusehen; er spricht es zum letzten Male aus, nur in der Begleitung des Freundes kommen zu wollen.

Da füllt sich das Auge der Jungfrau mit Tränen und sie bricht in die Klage aus: „So muss ich denn wieder hinunter in Nacht und Grauen und darf nicht weilen im Licht der Sonne, darf nicht sein, wo Menschen sich freuen! Muss wieder 100 Jahre in Finsternis des Tages harren, wo es mir vergönnt ist, in meiner eigenen Gestalt zu erscheinen und nach einem Retter umzuschauen!" —

Das Abendrot ist verschwunden; der Frieden der Nacht hat seine stillen Flügel über Dorf und Feld ausgebreitet. Wieder lässt sich das Plätschern des Wassers und das Schwanken und Flüstern des Schilfes vernehmen. Die Jungfrau steigt unter das Wasser, und ihr letzter Klageton verhallt mit der zerrinnenden Welle.

Mecklenburgs Volkssagen - Band 1

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