Die Feldgemeinschaft in Russland

Ein Beitrag zur Sozialgeschichte und zur Kenntnis der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage des russischen Bauernstandes
Autor: Simkhowitsch, Wladimir Grigorievitch (?), Erscheinungsjahr: 1898
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Feldgemeinschaft, Russland, Leibeigenschaft, Emanzipation, Bauernbefreiung, Landmangel, Großfamilie, Landwirtschaft, Grundbesitzformen, Bauern, Gemeindebesitz, Privatbesitz, Volksmasse, Grundbesitzer,
Inhaltsverzeichnis
    Vorrede
    I. Abschnitt
    Der bäuerliche Grundbesitz im äußersten Norden Russlands
  1. Entstehung und Wesen des nordrussischen Anteilbesitzes. (Nach den Forschungen der Frau Alex. Jefimenko)
  2. Die Wolost
  3. Die Ausbildung des Privateigentums an Grund und Boden
  4. Die Entstehung der Feldgemeinschaft im äußersten Norden
  5. Der Anteilbesitz in Klein- und Großrussland
  6. Der Anteilbesitz in Kleinrussland
  7. Der Viertelrechtsbesitz in Großrussland
  8. Der bäuerliche Grundbesitz im Moskauer Staate
  9. Die Lage der Bauern vor der Leibeigenschaft. Spuren des Anteilbesitzes als Grundbesitzform
  10. Die ländlichen Proletarier
  11. Die Entstehung der Leibeigenschaft
  12. II. Abschnitt
    Die Ausbildung und Verbreitung der Feldgemeinschaft in der Periode der Leibeigenschaft
  13. Die Entstehung der Feldgemeinschaft auf dem gutsherrlichen Boden
  14. Die zwangsweise Einführung der Feldgemeinschaft bei den Staatsbauern
  15. Die Entstehung der Feldgemeinschaft in der Gegenwart
  16. Wesen und Merkmale der Feldgemeinschaft
  17. Der Übergang der Viertelrechtsbauern zur Feldgemeinschaft
  18. Die Entstehung der Feldgemeinschaft in Sibirien
  19. Die Entwicklung der Grundbesitzformen bei den Donschen Kosaken und in Neurussland
  20. III. Abschnitt
    Die Gestaltungsformen der Feldgemeinschaft
  21. Die Feldgemeinschaft und die solidarische Haft
  22. Die Rechnungseinheit und die Verteilungssysteme des Grundbesitzes
  23. Die Umteilungen
  24. Partielle Umteilungen
  25. Neuverlosungen
  26. Die Umteilungstechnik
  27. Die Feldgemeinschaftliche Nutzung der Wiesen, Weiden, Wälder und des Gehöftlandes
  28. Produktionsgenossenschaftliche Formen der Feldgemeinschaft
  29. Verteilung der Steuern und Lasten
  30. Zusammengesetzte, gemischte und geteilte Gemeinden
  31. Die Schäden der Feldgemeinschaft
  32. IV. Abschnitt
    Aufhebung der Leibeigenschaft
  33. Die Vorgeschichte der Emanzipation
  34. Die Abschaffung der Leibeigenschaft
  35. Normierung des Landanteils und der Pachtzahlungen
  36. Verwirklichung und Abschluss der Emanzipation der gutsherrlichen Bauern
  37. Die Emanzipation der Apanagenbauern
  38. Emanzipation der Staatsbauern
  39. Statistische Ergebnisse der Bauernbefreiung
  40. Das physiologische Existenzminimum und die Produktivität des bäuerlichen Anteillandes
  41. Der Landmangel und die Feldgemeinschaft
  42. Die Differenzierung des Bauernstandes und die Feldgemeinschaft
  43. Die Auflösung der bäuerlichen Großfamilie und die Feldgemeinschaft
  44. Die neuere Gesetzgebung über die Feldgemeinschaft
Vorrede

Das geltende Recht versteht unter Feldgemeinschaft „diejenige Grundbesitzform, bei welcher das Land durch einen Gemeindebeschluss unter die Bauern nach den Seelen oder nach irgend einem anderen Modus verteilt und umgeteilt wird, wobei die auf dem Grundbesitze lastenden Zahlungen unter solidarischer Haftpflicht entrichtet werden.“*) Die Feldgemeinschaft oder der bäuerliche Gemeindebesitz ist also jenes Rechtsinstitut, nach dem der Grund und Boden sich im Besitze des „Mir“, der Gesamtheit der Gemeindegenossen befindet und von den Einzelfamilien nur nach Verfügung des ,,Mir“ genutzt werden kann.**)

Ein halbes Jahrhundert dauert über diese Feldgemeinschaft in der russischen Literatur ein erbitterter Kampf; und nach der Stellungnahme zur Feldgemeinschaft gruppieren sich die russischen sogenannten politischen Parteien.

*) Großrussische Bauernordnung § 113, Anmerkung.

**) S. W. Fachmann in seinem „Bürgerlichen Gewohnheitsrechte in Russland“ (1897. Bd. I) definiert den Gemeindebesitz wie folgt: „Der Gemeindebesitz ist jene Form des Vermögensrechtes, kraft dessen das Nutzungs- und Besitzrecht der Gemeinde als dem Eigentümer und Besitzer des Grund und Bodens gehört, wobei ein jedes Gemeindemitglied als Hauswirt, das Nutzungsrecht verbunden mit dem Recht des Besitzes hat, oder nur das Recht der Nutznießung.“ — Kawelin definiert den Gemeindebesitz folgendermaßen: „unter dem bäuerlichen Gemeindebesitz versteht man den Besitz der Liegenschaft, die einer Gesamtheit von Familienhäuptern gehört, welche über dieselbe nach gemeinschaftlicher Übereinkunft verfügen und sie sich nutzbar machen.“ Kawelin, „der bäuerliche Gemeindebesitz in Russland“. Deutsche Übersetzung von Tarassoff, Lpz. 1887. p. 16.


Die einen erblicken in der gegenwärtigen Feldgemeinschaft die Grundlage einer sozialgerechten Wirtschaftsordnung, die anderen ein Übergangsstadium zur vergesellschafteten Produktionsweise, andere wiederum erkennen die Unhaltbarkeit der Feldgemeinschaft an.

Es ist bekannt; dass der Streit um die Feldgemeinschaft in den 40 er und 60 er Jahren den Kampf zwischen den Slavophilen und den Anhängern des westeuropäischen Liberalismus bedeutete. Die Slavophilen waren aber selber ein Produkt der ihnen so verhassten Westeuropäischen Kultur, ein Produkt der deutschen Romantik. Und nachdem die Quelle versiegte, verlor die slavophilische Richtung jede theoretische Bedeutung; aus einer Weltanschauung sank sie zu einer realpolitischen Doktrin herab; die metaphysische Überzeugung auserlesener Geister ist zum Schlagworte für die Interessenpolitik gewisser Kreise geworden.

Eine viel tiefere Wirkung als die Romantik und der Liberalismus hat auf das geistige Leben Russlands der westeuropäische Sozialismus ausgeübt.

In keinem Lande hat der Sozialismus einen tieferen Einfluss auf das geistige Leben gehabt, als in Russland, und das gesamte geistige Leben der russischen Gegenwart geht in dem Kampfe zweier sozialistischen Parteien gegeneinander auf, in dem Kampfe der Marxisten mit den Narodniki, und der Streitpunkt ist wiederum die Feldgemeinschaft.

Warum gerade in Russland fast die gesamte Intelligenz, die akademische Wissenschaft und die Kunst ein ausgesprochenes sozialistisches Gepräge aufweist, ist psychologisch sehr begreiflich. Unter der tiefen Kluft zwischen der Volksmasse und der Intelligenz leidet die letztere bei weitem mehr als das Volk; denn wenn auch das russische Staatswesen fiskalisch auf den Volksmassen lastet, so ruht doch der ganze eherne Druck desselben moralisch auf jenen Schichten der Bevölkerung, für welche der Absolutismus am wenigsten angemessen ist, auf der Intelligenz. Diese Intelligenz fühlt ganz richtig ihre Schicksale vollständig von der intellektuellen Entwickelung der Volksmasse abhängig. Und darin, und nicht in einer national-eigentümlichen „Humanität“ der oberen Schichten liegt der Grund für den exzeptionellen volksfreundlichen Radikalismus der russischen Intelligenz. Da aber die Veränderung des im engeren Sinne politischen Statusquo für die russische Volksmassen vorläufig nur höchst gleichgültig sein kann, musste die russische „Intelligenz“ die wirtschaftlichen Interessen der Volksmassen zu ihren eigenen Interessen erheben. Diese Interessen wurden vom Standpunkte des utopistischen Sozialismus betrachtet; imaginäre sozialistische Bestrebungen, deren Ausdruck man in der Feldgemeinschaft erblickte, wurden dem Volke zugemutet.

Und so wurde die relativ unbedeutende und kleinliche Frage nach dem Wesen der russischen Feldgemeinschaft zum Mittelpunkte, um den sich die sozialen Parteien Russlands gruppierten, zur Lösung einer großen sozialpolitischen Strömung, die Jahrzehnte hindurch das geistige Leben Russlands beherrschte. Diese Verquickung der Feldgemeinschaft mit den Theorien des Sozialismus wurde meines Wissens zuerst von Alexander Herzen ausgesprochen: „Eine Sache ist getan“, sagt er: „die junge Generation in Russland hat verstanden, dass die occidentale Idee des Sozialismus das bestimmte und verwirrte Ideal des russischen Volkes ist, die Verwirklichung und die logische Entwickelung seiner primitiven Einrichtungen.“

Herzens Hegelianische Betonung des nationalen Momentes gehört der entfernten Vergangenheit. Die späteren sozialistischen Anhänger der Feldgemeinschaft bilden ungefähr ein Analogen des deutschen Sozialismus der 40 er Jahre. Ich meine darunter den vormarxistischen Sozialismus.

Man lese und vergleiche die Schriften der älteren deutschen Sozialisten mit denen der Narodniki, und die prinzipielle Übereinstimmung in den wesentlichsten Fragen des sozialen Lebens ist auffallend. „Die Entwicklung des Kredits in unserem Vaterland, schreibt Michajlowski, wenn er nicht speziell für das Wohl des Volkes eingerichtet werden wird, wird nur Mittel gewähren, das Volk auszubeuten. Einem jeden ist bekannt, dass, wenn eine Aktiengesellschaft irgend einen Betrieb übernimmt, sie in ihrem Tätigkeitskreise alle Kleinbetriebe vernichtet und Armut verbreitet. . . Deshalb versteht ein jeder, dass die gesamte Publizistik, die für die Entwickelung des Kredits in unserem Vaterlande, für die Vermehrung der Aktiengesellschaften in Russland, die Entwickelung der heimatlichen Industrie kämpft, gleichzeitig für den Untergang und die Verarmung des russischen Volkes kämpft. *)

*) Michajlowski, Werke Bd. I (neue Aasgabe 1896). p. 833-839.

Gerade so dachten und urteilten die älteren deutschen Sozialisten. So lesen wir: „Unsere Nationalökonomen streben mit allen Kräften danach, Deutschland auf die Stufe der Industrie zu heben, von welcher herab England jetzt die anderen Länder noch beherrscht England ist ihr Ideal. Gewiss, England sieht sich gern schön an, England hat seine Besitzungen in allen Weltteilen, es weiß seinen Einfluss aller Orten geltend zu machen, es hat die reichste Handels- und Kriegsflotte, es weiß bei allen Handelskontrakten die Gegenkontrahenten immer hinters Licht zu führen, es hat die spekulativsten Kaufleute, die bedeutendsten Kapitalisten, die erfindungsreichsten Köpfe, die prächtigsten Eisenbahnen, die großartigsten Maschinenanlagen; gewiss, England ist, von dieser Seite betrachtet, ein glückliches Land, aber es lässt sich auch ein anderer Gesichtspunkt bei der Schätzung Englands gewinnen, und unter diesem möchte doch wohl das Glück desselben von seinem Unglücke bedeutend überwogen werden. England ist auch das Land, in welchem das Elend auf die höchste Spitze getrieben ist, in welchem jährlich Hunderte notorisch Hungers sterben, in welchem die Arbeiter an fünfzigtausend das Arbeiten verweigern, da sie trotz all ihrer Mühen und Leiden nicht soviel verdienen, dass sie notdürftig leben können. England ist das Land, in welchem die Wohltätigkeit durch die Armensteuer zum äußerlichen Gesetz gemacht werden musste. Seht doch, ihr Nationalökonomen, in den Fabriken die wankenden und gebückten und verwachsenen Gestalten, seht die bleichen, abgehärmten, schwindsüchtigen Gesichter, seht all das geistige und leibliche Elend, und ihr wollt Deutschland noch zu einem zweiten England machen? England konnte nur durch Unglück und Jammer zu dem Höhenpunkte der Industrie gelangen, auf dem es jetzt steht, und Deutschland könnte nur durch dieselben Opfer ähnliche Resultate erreichen, d. h. erreichen, dass die Reichen noch reicher, die Armen noch ärmer werden.“*)

*) „Triersche Zeitung“ Tageblatt. Herausgegeben von Walther. 4. Mai 1896. Abgedruckt auch in den „gesellschaftlichen Zuständen der zivilisierten Welt“ Herausgegeben v. Moses Heß. Bd. I. Iserlohn und Elberfeld 1846.

Die russischen wie die deutschen Utopisten waren der kapitalistischen Produktionsweise und dem Großbetriebe derartig abgeneigt, weil sie in derselben, im Gegensatz zu Marx, keine Förderung ihres sozialistischen Endzweckes erblicken konnten, weil sie in der freien Konkurrenz die Verkörperung jenes individuellen Egoismus sahen, den sie aus der Welt schaffen wollten. Als einen Gegensatz zu der kapitalistischen Wirtschaftsordnung stellt der Russe den bäuerlichen „Mir“ hin, den er nach dem Ebenbilde seines sozialen Ideals ausmalte. Als Kunstprobe diene folgendes Zitat: „Die Gemeinde ignoriert die Geschichte; weder kennt sie, noch kümmert sie sich um das äußere Recht, sie richtet sich ausschließlich nach der Idee der höchsten Gerechtigkeit. Die Ungerechtigkeit gehört dem äußeren Rechte, die Gerechtigkeit dem Mir, der Gemeinde, der Gromada (die kleinrassische Bezeichnung für den Mir). Das Grundmerkmal des Mir ist die Ignorierung des historischen Rechts innerhalb der Gemeinde und die Herrschaft des Naturrechts der Gerechtigkeit.“*) — Der deutsche Utopist unterscheidet sich begreiflicherweise vom Russen durch eine gebildete Sprache und durch die abstraktere Form seiner Ethik: „Der Zustand der Gemeinschaft“, lehrt Moses Hess, „ist die praktische Verwirklichung der philosophischen Ethik, welche in der freien Tätigkeit den wahren und einzigen Genuss, das sogenannte höchste Gut erkennt — sowie umgekehrt der Zustand des getrennten Besitzes die praktische Verwirklichung des Egoismus und der Unsittlichkeit ist, welche einerseits die freie Tätigkeit negiert und sie zur Arbeit des Sklaven herabwürdigt, andererseits an die Stelle des höchsten Gutes des Menschen den tierischen Genuss setzt als das würdige Ziel jener eben so tierischen Arbeit.“**)

Ist die Fähigkeit vorhanden, das Bestehende einer Kritik zu unterwerfen, kann es an Fähigkeiten nicht fehlen, diese Kritik im sozialen Leben ohne Rücksicht auf die konkrete Lage zu verwirklichen.***)

*) Jushakoff, Probleme des Gemeindelebens in der Zeitschrift „Die vaterländischen Annalen« 1883. Nr. 11. p. 96—97.

**) Sozialismus und Kommunismus (vom Verfasser der Europäischen Triarchie (Moses Hess) in Georg Herweghs „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz“. Zürich und Winterthur 1843. p. 83-84.

***) Vgl. Lawroffs Ansichten bei P. Struve, kritische Bemerkungen zur Frage über die ökonomische Entwickelung Russlands. St. Petersburg 1894. p. 5.


Auf demselben Heß’schen „philosophischen“ Standpunkte steht noch Karl Marx in seiner Schrift „Zur Judenfrage“, „die feudale Gesellschaft“, schreibt er, war aufgelöst in ihrem Grund, in dem Menschen. Aber in dem Menschen, wie er wirklich ihr Grund war, in dem egoistischen Menschen. Dieser Mensch, das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, ist nun die Basis, die Voraussetzung des politischen Staates. Er ist von ihm als solche anerkannt in den Menschenrechten. Die Freiheit des egoistischen Menschen und die Anerkennung dieser Freiheit ist aber vielmehr die Anerkennung der zügellosen Bewegung der geistigen und materiellen Elemente, welche seinen Lebensinhalt bilden. Der Mensch wurde daher nicht von der Religion befreit, er erhielt die Religionsfreiheit. Er wurde nicht vom Eigentum befreit. Er erhielt die Freiheit des Eigentums. Er wurde nicht vom Egoismus des Gewerbes befreit, er erhielt die Gewerbefreiheit.“ — Deutsch-Französische Jahrbücher. Herausgegeben von Arnold Ruge und Karl Marx 1. und 2. Lieferung. Paris 1844. p. 206.

Dieser Grundsatz ist die Existenzbedingung aller Utopie. Und brüderlich teilen ihn die russischen Utopisten mit den deutschen. Dass Westeuropa nicht längst die sozialistische Wirtschaftsordnung eingeführt hat, kann der Russe nur dadurch erklären, dass die „Wissenschaft“ d. h. die sozialistische Doktrin verhältnismäßig jungen Datums ist und infolgedessen den westeuropäischen Gang der Dinge noch nicht „reguliert“ hat. In Russland aber fängt ja der Ansicht der Narodniki nach „der Gang der Dinge“ erst an und deshalb kann es an „wissenschaftlicher“ Regulierung derselben in Russland nicht fehlen. Sich in dieser glücklichen Lage fühlend, zeigt der Russe seine Überlegenheit dem alten Europa auf Schritt und Tritt: „Dass der von der Wissenschaft nicht geleitete Gang der Dinge das alte Europa zu Missgeschicken gebracht hat, ist verständlich. Wir aber fangen jetzt an zu leben, wo die Wissenschaft gewisse Wahrheiten besitzt und eine gewisse Autorität hat.“*)

Gerade so urteilte der deutsche Utopist, nur war seine Stimmung elegischer, er machte seinem Volke Vorwürfe, dass es seine „Philosophie“ noch nicht verwirklicht hat, dass Deutschland sich als zu „unpraktisch“ erwiesen hat, seine sozialistische Doktrinen im Leben einzuführen.**)

*) Michajlowski Werke (1. Ausg.), Bd. II. p. 106 oder an anderer Stelle (Ibid. p. 50): „Die moderne ökonomische Ordnung in Europa ist schon damals entstanden, als die Wissenschaft von den ökonomischen Erscheinungen noch nicht existierte und als die moralischen Ideen noch sehr grob waren. Deshalb bildete sich das europäische Leben ebenso sinn- und sittenlos (?!) aus wie in der Natur ein Strom fließt oder ein Baum wächst. Ein Strom fließt in der Richtung eines geringsten Widerstandes, er schwemmt alles weg, was er wegschwemmen kann, wenn es auch ein Misthaufen ist. Die Initiative des menschlichen Verstandes und Gefühles baut Schleusen und Kanäle. Dieser Verstand und dies Gefühl waren sozusagen nicht anwesend bei der Entstehung der modernen Wirtschaftsordnung in Europa. Sie waren damals noch in embryonalem Zustande und ihre Wirkung auf den natürlichen elementaren Gang der Dinge war gering.“ —

**) „Ja, Deutschland ist in der Theorie am weitesten, aber leider nur in der Theorie. Der Deutsche ... ist so eminent unpraktisch, dass er nicht einmal den Versuch wagt, seine Ideen ins Leben einzuführen. Seine idealsten Gefühle, seine erhabendsten Gedanken betrachtet er als bloße Träume, als „Ideale“, und während andere Nationen durch ihre Taten oft ihre eigenen Ideen überflügeln — wie z. B. die französische in der ersten Revolution — wagt es die deutsche nicht, den Saum ihrer Gefühle und Gedanken mit praktischen Händen zu erfassen. — Während wir so die freiesten Menschen, die reinsten Demokraten, die radikalsten Kommunisten sind, ertragen wir daneben die Zerrissenheit unserer Wirklichkeit ganz friedlich. Wir dulden alles und sehen von unserem erhabenen philosophischen Standpunkte oder gar mit religiöser Resignation auf die schlechte Wirklichkeit herab. Indem wir uns nicht zutrauen, unsere Ideen ins Leben einzuführen, wenden wir unsere Äugten von der Gegenwart ab, der Zukunft zu.“ Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Hrsg. von Georg Herwegh. Teil I. Zürich und Winterthur 1843. p. 74—76.

Auch der junge Karl Marx in seiner sonst sehr bemerkenswert-realistischen Schrift: „Zur Kritik der Hegelschen Rechts-Philosophie“ grollt über Deutschland, weil es seine „Philosophie“ nicht „verwirklicht“ hat! „Wie die alten Völker“, schreibt er, „ihre Vorgeschichte in der Imagination erlebten, in der Mythologie, so haben wir Deutschen unsere Nachgeschichte im Gedanken erlebt, in der Philosophie. Wir sind philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, ohne ihre historischen Zeitgenossen zu sein. Die deutsche Philosophie ist die ideale Verlängerung der deutschen Geschichte. Wenn wir also die oeuvres incomplètes unserer realen Geschichte, die oeuvres posthumes unserer idealen Geschichte, die Philosophie kritisieren, so steht unsere Kritik mitten in den Fragen, von denen die Gegenwart sagt: that is the question. Was bei fortgeschrittenen Völkern praktischer Zerfall mit den modernen Staatszuständen ist, das ist in Deutschland, wo diese Zustände selbst noch nicht einmal existieren, zunächst kritischer Zerfall mit der philosophischen Spiegelung dieser Zustände. Die deutsche Rechts- und Staatsphilosophie ist die einzige mit der offiziellen modernen Gegenwart al pari stehende deutsche Geschichte.“

Deutsch-Französische Jahrbücher. Herausgegeben von Arnold Rüge und Karl Marx, 1. u. 2. Lieferung. Paris 1844. p. 76—77.


Die Intelligenz, die gebildete Jugend, hat nun die Aufgabe, die ,,Philosophie“ zu verwirklichen. Wenn in anderen Ländern das kämpfende Proletariat die sozialistische Wirtschaftsordnung zu erreichen glaubt, 80 glauben die russischen wie die deutschen Utopisten, dass ihre Methode sicherlich nicht die schlechtere ist; der Eifer der „zielbewussten“ Akademiker, die Hirntätigkeit der „kritischen“ Köpfe reicht völlig aus um den Himmel auf Erden zu etablieren.*) An dem Streben dies Ziel zu erreichen, lassen die Narodniki, die viel weitherziger sind als ihre deutschen Gesinnungsgenossen waren, auch die russische Regierung teilnehmen, sie fordern staatliche Beihilfe, deren erster Schritt die Legalisierung und Festigung der Feldgemeinschaft in alle Ewigkeiten sein sollte. (Michajlowski Werke, Bd. I. Ausgabe 1896, pag. 703.)

*) Vgl. (W. W.) Woronzoff „Unsere Richtungen“ , p. 25. ähnlich denkt der geistesverwandte Moses Heß: „Wenn in Frankreich die Masse des Volkes für die Zukunft des Sozialismus einsteht, so ist es in Deutschland eine durch ihre geistigen und materiellen Mittel einflussreiche Minorität von Gebildeten, welche ihm seine Zukunft sichert.“ Über die sozialistische Bewegung in Deutschland in der Zeitschrift „Neue Anekdota'*, herausgegeben von Karl Grün. Darmstadt 1846. p. 220. Über die Stellung Marx zu diesen kritischen Köpfen vgl. Friedrich Engels und Karl Marx, die heilige Familie Kritik der kritischen Kritik. Frankfurt a/M. 1846. p. 128.

Im festen Glauben an die Feldgemeinschaft ist auch der Verfasser dieser Untersuchung aufgewachsen. Und als die große russische Hungersnot verschiedenerseits Zweifel an der Vollkommenheit dieser Institution zeitigte, schritt ich ans Werk, um die Angriffe gegen die Feldgemeinschaft zu widerlegen.

Das Resultat ist allerdings anders ausgefallen. Ich gelangte zur Überzeugung, dass die Feldgemeinschaft in jeder Beziehung eine unberechtigte und unhaltbare Institution sei, eine Folge der russischen Zurückgebliebenheit und eine der Ursachen jener Zwergwirtschaft, die den russischen Bauern zum elendesten Proletarier der Welt machen, trotz seines „Grundbesitzes“, an den er gefesselt ist. Ich gelangte aber ferner zur Überzeugung, dass die sogenannte feldgemeinschaftliche Gleichheit ein Traum war, und dass die Feldgemeinschaft selber schon am letzten Stadium ihrer Zersetzung angelangt ist.

Ich stehe gegenwärtig in Russland mit dieser Überzeugung nicht allein. Seit vier Jahren hat eine neue sozialpolitische Richtung, von Peter von Struve eingeleitet, sich zu entwickeln begonnen und in dieser kurzen Frist einen außerordentlichen Anklang gefunden. *) Diese Neo-Marxistische Richtung sieht die Notwendigkeit der kapitalistischen Entwickelung Russlands und die Unhaltbarkeit der veralteten Produktionsverhältnisse ein. Bei der raschen Entwickelung des Kapitalismus in Russland ist es auch schwer, dies nicht einzusehen.

*) Vgl. N. J. Stone, Capitalism on trial in Russia. Political science Quarterly. Vol. XIII. Nr. 1. p. 91-118.

Die systematische Frage steht mit der genetischen in keinem Zusammenhange, aber mein individuelles Interesse für die slavische Rechtsgeschichte und die Sozialgeschichte des russischen Bauern einerseits, andererseits der Streit über die Entstehung der russischen Feldgemeinschaft lenkten meine Studien auf diese Frage. Die Untersuchung Keußlers kommt bekanntlich zum Schluss, dass die Feldgemeinschaft eine Weiterentwickelung der uralten, ursprünglichen russischen Markgenossenschaft ist. Dies ist auch, von einzelnen glücklichen Ausnahmen abgesehen, die allgemeine Ansicht.

Ich fand, dass die ursprüngliche Feldgemeinschaft eine Fabel ist. Dagegen aber fand ich, dass die verschiedensten Teile Russlands vollständig denselben Entwickelungsweg der Grundbesitzformen aufweisen, wie die bahnbrechenden Forschungen der Frau Alexandra Jefimenko es für den äußersten Norden Russlands unerschütterlich festgestellt haben. Die Hauskommunion ist der Ausgangspunkt, der Anteilbesitz ist die Ubergangsform zum Privateigentum und erst die Leibeigenschaft auf dem gutsherrlichen Boden und die Staatsgesetze auf den Kronländereien heben das Privateigentum an Grund und Boden auf und führen nach schwerem Kampfe mit dem bäuerlichen „Eigentumsfanatismus“ die Feldgemeinschaft ein.

Einzelne Stücke aus dem sozialen Leben eines Volkes lassen sich aber nicht beliebig herausgreifen, auch konnte ich bei dem nichtrussischen Leser manches nicht voraussetzen , was in Russland als allgemein bekannt gelten kann, besonders die Art und Weise der Abschaffung der Leibeigenschaft, und so musste ich auf die verschiedensten Momente der russischen Sozialgeschichte eingehen, die Geschichte und gegenwärtige Lage der russischen Feldgemeinschaft als Mittelpunkt beibehaltend.

Halle a/S., im Juni 1898. Der Verfasser.

Ein Sommertag auf dem Lande

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Bäuerinnen warten auf den Briefträger

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Bauernhäuser in Lowicz 2 (Polen)

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Bauernhäuser in Urzedow (Polen)

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Bemaltes Bauernhaus

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Bauernhaus in Kujavia

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Im Innern einer Bauernwohnung

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Dorfkirche in Smardzewice (Polen)

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Heuernte in Volhynia

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