Die Erlösung eines Ruhelosen bei der Brücke zwischen Bargensdorf und Stargard

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 2
Autor: Von F. C. W. Jacoby zu Neubrandenburg, Erscheinungsjahr: 1862
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sage, Volkssage, Stargarder Brücke, Stargard, Müller, Mühle, Spuk, Aberglauben, Abendlied
Eines Abends im Spätherbst, die Uhr mochte neun sein, sagte eine Bauernfrau zu ihrem Mann, sie habe ganz und gar vergessen, ihm mitzuteilen, dass ihr hausbacken Brot alle und auch gar kein Mehl mehr vorrätig sei. Er müsse wohl noch heute Abend mit Korn nach der Stargarder Mühle fahren, damit sie Mehl kriege und morgen backen könne.

Der Bauer sieht die Notwendigkeit ein, macht sich zur Fahrt fertig und ist bald darauf unterwegs.

Stargard ist in kurzer Zeit erreicht, in der Mühle lässt er sein Korn mahlen und fährt dann zurück.

Auf dem Heimwege singt der Bauersmann das Abendlied: „Nun ruhen alle Wälder" usw. und als er bis zu der Stelle gekommen ist: „Meine Augen steh'n verdrossen, im Hui sind sie geschlossen", ist er gerade bis zu der Brücke gelangt, welche an der Grenzscheide zwischen dem stargardschen und bargensdorfer Felde liegt. Eine Stimme ganz in der Nähe — sie schien unter der Brücke herauszukommen — fährt fort zu singen: „Wo bleibt dann Leib und Seel'?" hält aber mit diesen Worten auch auf.

Den Bauer überfällt eine namenlose Angst, die Pferde werden unruhig und er vermag sie nicht über die Brücke zu bringen. Alles Hin- und Herzerren, alles gütliche Zureden bringt die Pferde nicht von der Stelle, er muss zuletzt zitternd an allen Gliedern vom Wagen steigen, die Pferde bei dem Gebiss anfassen und sie auf diese Weise über die Brücke leiten. Dann setzt er sich mit beklommenem Herzen und unbeschreiblicher Beängstigung wieder zu Wagen und seine Pferde laufen, was das Zeug halten will, mit dem Wagen nach Hause.

Im Schweiß gebadet und seiner Sinne kaum mächtig, tritt der Geängstigte in seine Wohnung und es währt eine lange Zeit, ehe er sich so weit gesammelt hat, um seiner Frau das Erlebte mitteilen zu können. Nachdem auch sie sich von ihrem Erstaunen erholt, meint sie, es wäre das Beste, wenn er am andern Tage zu ihrem Pastor in Stargard gehe, dem sein Erlebnis mitteile und ihn um Rat frage.

Dies geschieht denn auch. Der Pastor rät einfach, dass wenn der Bauer wieder einmal zur Abend- oder Nachtzeit die Brücke passieren müsse, er dieselben Worte singen solle, und im Falle wieder eine Stimme die bezeichneten Worte zu singen fortfahren würde, er mit den Worten des Liedes weiter singen und antworten solle.

Diesen Rat verspricht der Bauer zu erfüllen und es währt nicht lange, als sich ihm schon Gelegenheit dazu bietet.

In einer späten Stunde führt ihn der Weg wieder über die Brücke und er singt abermals: „Mein' Augen steh'n verdrossen, im Hui sind sie geschlossen;" da hört er jene Stimme zu singen fortfahren: „Wo bleibt dann Leib und Seel'?" Und ruhig singt er nun weiter: „Nimm sie zu Deinen Gnaden, sei gut vor allem Schaden, Du Aug' und Wächter Israel!"

Kaum hat der Bauer diese Worte beendet, so ruft die Stimme freudig einige Mal: „Erlöst! Erlöst!" Die Pferde gehen ruhig über die Brücke und nie zeigt sich, oder hört man dort etwas wieder.