Die Entdeckung Amerikas

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: H. R., Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Amerika, Entdeckung, Expedition, Kolonisation, Kolonisten, Indien, Indianer, Rothäute, Seeweg, Handel, Seefahrt, Seemann, Entdecker, Menschlichkeit, Humanität, Ausbeutung, Arglosigkeit,
Was bleibt noch zu entdecken? Das ist die Frage der Gegenwart, nachdem endlich auch der rätselhafte Nordpol erreicht ist. Zwischen dem Äquator und beiden Polen dürfte es kein größeres, noch nie von forschenden Menschen betretenes Gebiet mehr geben. Das dunkelste Afrika ist durchquert, das verschlossene Tibet hat den Europäern seine Geheimnisse preisgegeben. Durch die Wüsten wie über die Schneegebirge, durch die Urwälder und über die Meere ist die weiße Rasse vorgedrungen. Im Flugzeug kann der Weg von der Themse bis zum Ganges Indiens in wenigen Tagen zurückgelegt werden.

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Wie anders lautete die Frage, als im fünfzehnten Jahrhundert der Anbruch einer neuen Zeit von dem Bruch mit der mittelalterlichen Gebundenheit erwartet wurde! Was gab es damals alles zu entdecken, in welche unbekannten Fernen konnte der Wagemut vordringen! Als die Araber den Handelsverkehr zwischen Orient und Okzident auf dem Landweg und zur See von Indien durch den Persischen Golf nach Damaskus beherrschten, sannen die großen Handels- und Seestädte Venedig und Genua und, ihnen folgend, die Portugiesen und Spanier auf einen neuen Seeweg nach Indien, unabhängig von den verteuernden Arabern und geschützt vor den Türken, die erobernd bis nach Konstantinopel vorgedrungen waren. Der Bedarf an Gewürzen, Farben, Perlen und Seide und anderen Kostbarkeiten war in Europa ungeheuer gewachsen, seit die Bürger in den aufblühenden Städten an Luxus mit den Fürsten, dem hohen Adel und höchsten geistlichen Herren wetteiferten. Am drückendsten war der Mangel an Edelmetall trotz der großen heimischen Ausbeute, weil die Einfuhr viel mehr Summen verschlang, als Gegenwerte gegeben werden konnten, und weil die kriegführenden Fürsten, voran Kaiser Karl V., unermessliche Goldmengen benötigten.

Der Genuese Christoph Kolumbus (1451-1506), eines Webers Sohn, ausgerüstet mit hinreichenden wissenschaftlichen Kenntnissen der damaligen Erdkunde und ausgebildet als Seemann, erbot sich dem spanischen Königspaar, den westlichen Weg nach dem sagenhaften Goldland Zipangu und nach Indien zu entdecken, wenn ihm dafür die Erhebung in den Adelsstand und ein Zehntel der Einkünfte aus dem neuen Handelsverkehr zugebilligt würden. Die kluge und energische Isabella setzte die Unterstützung des kühnen Mannes durch, und in vier Seefahrten auf Karavellen, von denen nur einige ein Verdeck hatten, erzwang der starr auf seinem auf Berechnung beruhenden Glauben Beharrenden die Fahrt nach den Antillen und dann an die Küste Südamerikas, an die Mündung des Orinoko. Niemals hat er daran gedacht, einen neuen Kontinent zu entdecken, sondern nur einen neuen Weg zu dem bekannten fernen Osten.

Durch Zufall wurde er 1492 Entdecker Amerikas, das auch nicht nach ihm, sondern Amerigo Vespucci (1454-1512) benannt worden ist, und hat sich so wenig von seinem Irrtum überzeugen lassen, dass er die Rothäute als Einwohner Indiens „Indianer“ hieß. Rührend ist sein Zeugnis der Arglosigkeit und Gutwilligkeit der Eingeborenen, die ihn mit Demut empfingen, deren König ihn Bruder nannte. Erst die unersättliche Begehrlichkeit, die zügellose Eroberer-Rohheit der Nachfolgenden, vollends die tyrannische, bluttriefende Herrschaft der Konquistadoren hat die „Wildheit“ der roten Rasse herausgefordert. Kolumbus wollte Christen aus den Fremden machen und musste doch selbst am eigenen Leib erfahren, als er in Ketten von der dritten Reise heimgebracht wurde, wie weit entfernt die Weißen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit, von wahrer christlicher Humanität waren. Und heute? Droht sich nicht die jahrhundertelange Ausbeutung der farbigen Rassen furchtbar zu rächen? Wäre nicht vielleicht die wichtigste Entdeckung, die noch gemacht werden sollte, der Weg völkerverbindender Menschlichkeit?

Kolumbus nimmt die Huldigungen der Eingeborenen entgegen / Nach einem Gemälde von J. M. Garnelo

Die Entdeckung Amerikas, Kolumbus nimmt die Huldigung der Eingeborenen entgegen

Die Entdeckung Amerikas, Kolumbus nimmt die Huldigung der Eingeborenen entgegen