Dritter Abschnitt

      Die argentinische Landwirtschaft hat mit einem Moment der Unsicherheit zu rechnen, das ist der Umstand, dass sie bei der noch geringen Bevölkerungszahl in der Hauptsache auf den Export angewiesen ist und somit vom Auslande abhängt. Da die Vereinigten Staaten als Versorger von Europa immer mehr in den Hintergrund treten, und andere gleichwertige Gebiete noch nicht Ersatz bieten, ist diese Abhängigkeit in gewissem Grade gegenseitig, immerhin trägt jede Maßregel, welche einen der Hauptabnehmer trifft, sei es Öffnung oder Schließung der Grenze gegen die Einfuhr von Vieh, Fleisch, Getreide oder irgendeine Zollerhöhung oder dgl. Momente Unsicherheit in das wirtschaftliche Leben der Republik. Auch dies würde kaum ein Grund sein, Anstoß zu nehmen, denn trotz der Erschließung Kanadas oder Sibiriens wird der Konsum stetig steigen, und Argentinien kann mit diesen Ländern vollkommen konkurrieren. Immerhin muss, wer in Argentinien Ackerbau treiben will, auch außer allen anderen Dingen, die man bei Erwerb eines Gutes zu beachten hat, besonderen Wert auf kurze und gute Verbindungen zum Hafen legen. Die argentinischen Bahnen sind fast alle Privatbahnen und meist in Händen englischer Kompagnien, die mit großen Privilegien ausgestattet sind. Auch wenn sie keine nennenswerten Dividenden, trotz großer wertvoller Landschenkungen, die sie früher erhielten, geben, so soll dies doch mehr in der Überkapitalisierung als in den billigen Frachten liegen. Letztere sind reichlich hoch und die Entfernungen meist sehr groß. Damit muss rechnen, wer produziert, auch wenn zeitweise, wie z. B. jetzt, die Dampferfracht nach Europa weit niedriger ist als die Selbstkosten.
      Die Landnutzung durch Vieh, Getreide und Futterbau, denn auch Luzernepressheu ist ein sehr gangbarer Artikel, wird für Argentinien stets dem ein wandernden Kapital das Naheliegendste sein. Nächstdem der Landkauf auf Spekulation. Der Staat hat im Wesentlichen alle besseren Terrains verkauft. Er hat deren noch genug zur Abgabe an Kolonisten, aber der Kenner weiß, dass auch der Kolonist besser vom Landspekulanten für 30 $ den Hektar kauft als vom Landamt offiziell für 3 $*)Im ersteren Falle kommt er rascher und auch schliesslich billiger zu dem, was er will. Fast alles Land in Argentinien ist in den Händen der Spekulation, denn jeder Kapitalist im Lande spekuliert in Terrains oder in Vieh, und von den Riesenmitteln, die Argentinien durch die vorgeschilderte Steigerung der Konjunktur erhalten hat, wird der größte Teil dazu verwendet. — Die Sache ist nicht ganz so gefährlich als sie für den Europäer erscheint, denn vorläufig ist der Wert der Ländereien im Verhältnis zum Ertrage noch ziemlich niedrig. Es hat sein Missliches, Musterbeispiele mit Ziffern zu geben, denn jedes Geschäft gestaltet sich, und zwar infolge verschiedener Kategorien von Umständen anders, aber man kann wohl annehmen, dass verständig eingerichtete ländliche Unternehmungen aus Landwirtschaft und Viehzucht heute noch zwischen 20 und 30 96 abwerfen können.

      *) Peso $ m/n = 1,80 M, $ m/n = Peso moneda nacional = Peso Papier; $ oro = Peso Gold = 4 M.


      Die Linie der Spekulationspreise steigt und sinkt ja auch infolge verschiedener Umstände, wie hoher Getreide- und Viehpreise oder Dürren, Zollmaßregeln im Auslande u. a. m., die die Spekulation animieren oder verdauen lassen. Im Durchschnitt kann man auf eine jährliche gesunde Steigerung des Bodenwertes von 10% rechnen, so dass in Landbesitz und Wirtschaft vernünftig angelegtes Kapital bei günstigen Umständen im Ganzen 30—40% bringen kann.
      Auf eine stetige Andauer und ein gleichmäßiges Wachsen wird kaum zu rechnen sein. Schreiber dieses war 1898, 1899, 1900 in Argentinien. Der größte Teil der Einwohner war bankerott. Die Kolonisten schuldeten Tausende an die Almaceneros (Ladeninhaber) in der Provinz, diese Zehntausende den Kaufleuten in Buenos Aires, letztere Millionen dem europäischen Kapital. 1904 waren alle diese Leute wohlhabend, reich, Millionäre, je nach dem Umfange ihres Besitzes im vollsten Sinne des Wortes. Weshalb, sahen wir bereits oben.       Der Direktor einer deutschen Bank erzählte damals folgendes Beispiel.       Einige Engländer im Süden der Provinz B. Aires hatten 300 Leguas (750.000 ha) Kamp und von einer englischen Bank 300.000 Lstr. (6.000.000 M) Hypotheken, 1900 ging es nicht weiter, die Engländer zahlten nicht; man einigte sich auf 10%. Um sie zahlen zu können, behielten die Engländer ihr Land, auf dem nach wie vor ihr Vieh herumlief. 1904 schätzte unser Gewährsmann das schuldenfreie Vermögen derselben Engländer, resultierend allein aus Wertsteigerung ihres Besitzes auf 30.000.000 $ = 54.000.000 M. Dies ein Beispiel für viele. Die Werte werden auch in Zukunft schwanken, doch wird der Landwert im Durchschnitt ständig steigen. Man muss abwarten können. Wir haben in Deutschland heute genau doppelt so hohe Getreidepreise wie sie in den 80er Jahren im Osten gezahlt wurden und damals den Landmann sicherem Ruin entgegenführten, denn gegen die Preise der drei vorhergehenden Dezennien waren jene um 35% gefallen, und wer nicht großes Vermögen zusetzen konnte, wurde bankerott. Übrigens finden sich Beispiele für alle die in Südamerika als außerordentlich und ungewöhnlich dem Deutschen erscheinenden Chancen auch hier. Sie sind nur nicht so allgemein, und man achtet weniger darauf. In Südpatagonien sind mit Schafzucht in den letzten Dezennien große Vermögen verdient. Indes, das gute Land nahe den Küsten und Häfen ist in festen Händen, und um das Innere ausnutzen zu können, mangelt es noch an Kommunikationen, an deren Herstellung gearbeitet wird. Die vermehrte Einwanderung hat Anlass zur Aufteilung großer Besitzungen gegeben. Großgrundbesitzer erlangen durch Parzellierung gute Preise und hohe Verzinsung. Die deutsche Firma Ströder beschäftigt sich speziell damit. Die Regierung wünscht nur gemischte Kolonisation in der Erwartung, dass die Kolonisten umso rascher ihr Nationalbewusstsein verlieren und gute Argentiner werden. Tüchtiger werden deutsche Kolonisten dadurch nicht werden. Es fehlt indes nicht an Bemühungen, das germanische Element hochzuhalten.
      Ein bedeutender Teil des Buenos Aires-Handels ist in deutschen Händen, speziell in denen von Hamburger und auch Berliner Firmen. Zwei deutsche Zeitungen, die stark rechts stehende La Plata-Zeitung und das noch weiter links stehende argentinische Tageblatt versorgen einen bedeutenden Leserkreis. Deutschtum und Germanentum gewinnen in Argentinien eine weitere Bedeutung; denn alle deutsch Sprechenden, auch Skandinavier, Deutsch-Belgier, Holländer, Deutsch-Österreicher und die eine hervorragende Rolle spielenden Deutsch-Schweizer stehen mit dem politisch deutschen Kern, je nach Ort und Umständen, in mehr oder weniger lockeren oder engeren Beziehungen. Jedenfalls bildet die Sprache ein nicht zu leugnendes Band zwischen allen diesen. Im Wesentlichen kolonisieren Italiener, Spanier, spanische und französische Basken, die als besonders tüchtig gelten, ferner Slawen aus allen Ländern, namentlich Österreicher, auch die ausgewanderten württemberger Russen, sowie einige Buren, und vor allem die russischen Juden, letztere durch die Fürsorge des verstorbenen Barons Hirsch. Die Kolonien gedeihen, wenn sie vernünftig angelegt sind. Die Hauptgesichtspunkte sind: ein Kolonist muss billig produzieren und stets leicht und zu lohnenden Preisen das, was er produziert, auch absetzen können. Dass diese beiden Punkte häufig mit großer Gründlichkeit übersehen werden, ist der Fluch vieler Kolonien geworden, namentlich derer in Paraguay, in Brasilien, auch in Argentinien, und anscheinend gibt es neue Unternehmungen, die auf dem besten Wege sind durch Wiederholung der alten Fehler totgeborene Kinder in die Welt zu setzen. Es gibt nichts Schlimmeres, als schlecht angelegte Unternehmungen in solchen Fällen, denn sie können auch die besten Sachen auf das gründlichste diskreditieren. Man kann Vieh jederzeit im Innern ziehen, Produkte, die gefahren werden müssen, allein da, wo deren Transportmöglichkeit es noch gestattet, noch eine Rentabilität übriglässt. Will man in Deutschland eine Kolonisation vorbereiten, so kann das nur auf dem Wege der Privattätigkeit geschehen, indem Gesellschaften Ländereien kaufen und Fürsorge treffen, dass der Ansiedler sich in den neuen Verhältnissen auch zurechtfindet. Es ist nicht nötig, dass jeder das, was er angreift, von Jugend auf gelernt hat, aber er muss wenigstens das Notwendige verstehen, und deswegen sollte der Kolonist nicht ohne Unterweisung, Anleitung und praktische Hilfe bleiben. Für jeden, ohne Unterschied, der selbst arbeiten will, auch den Kapitalisten, gilt in diesen Ländern, dass er eine Zeitlang praktisch in dem Fache arbeitet, ehe er sein Kapital einschießt. Es trägt ihm höhere Zinsen wie hier, denn auch heute noch bezahlen absolut sichere Hypotheken bis 9%, und die daran gewendete Zeit bezahlt sich durch die gewonnenen Kenntnisse und Erfahrungen mehr als reichlich.
      Landspekulation und Landnutzung durch Viehzucht und Ackerbau wird für den Einwanderer stets in erster Linie in Betracht kommen. Dies ist das landesübliche. — Mendoza, San Juan, Rioja repräsentieren den Weinbau. Für Winzer mit Kapital ist auch dieser Zweig hochlohnend, man muss aber drei Jahre auf den Ertrag warten können. Über diese hilft der nebenherlaufende Ackerbau hinweg. In kleinerem Maßstabe wird auch an anderen Orten Wein gebaut. Einen leichten Wein versucht man jetzt am Rio Negro zu ziehen. Das Rio Negrogebiet und Neuquen, in denen große Bewässerungen geplant sind, scheinen eine gute Zukunft, namentlich auch für deutsche Einwanderung, zu haben, wenn schon vorläufig nur für Viehzüchter. Neuquen hat reiche Metallschätze, der Absatz für Vieh nach Chile ist leicht. Es besteht Eisenbahnverbindung zur Küste, der Rio Negro ist schiffbar, auch dürfte die Eisenbahnverbindung nach Chile hergestellt werden, d. h. nach den Häfen des Stillen Ozeans. Das Klima nähert sich mehr dem deutschen. Die stets vom Norden des Landes kommenden Heuschrecken gehen meist nicht bis zum Rio Negro.