Erster Abschnitt


      Die geradezu jammervolle Unkenntnis, welche im deutschen Publikum über den größten Teil Südamerikas mit gemäßigtem resp. Höhenklima herrscht, veranlassten eine Reihe von Artikeln, die nachstehend gesammelt wiedergegeben werden.
      In den in Frage kommenden Ländern bestehen heute noch nationale Gegensätze. Hier Chile, hier Argentina usw. ist die Losung. Einer ist eifersüchtig auf den andern. Grenzstreitigkeiten, Machtfragen sind an der Tagesordnung. Im Grunde genommen sind die Bewohner schon eine Nation, denn überall ist der Kern der Bevölkerung der spanische Criollo, der Kreole. Die nationalen Gegensätze haben sich vor 100 Jahren gebildet, als die Entfernung noch fast unüberwindliche Hindernisse schuf, als man vom spanischen Joche loskam und die Provinzen Staaten wurden, die, wie die Verhältnisse damals lagen, in der Tat nicht viel miteinander wirtschaftlich zu teilen hatten. Die neueren Verkehrsmittel schaffen Annäherung, lassen die Entfernung verschwinden und bei der Gemeinsamkeit des Blutes wird der Druck von außen diese verstärken und wieder zusammenschweißen, was einst zusammen war. Dabei nimmt die Einwanderung zu. Sie dringt durch den großen Hafen Buenos Aires ein, das Land, zunächst Argentinien, füllend und sich von dort weiterverbreitend.
      In diesen Ländern wiederholt sich der Vorgang, der vor 150 Jahren in den Vereinigten Staaten Nordamerikas begann. Es bildet sich ein neues großes Volk, vielleicht langsamer wie im Norden, wenigstens zunächst, das aber einmal 500 Millionen und mehr zählen wird. Die Einwanderung in Argentinien beträgt jetzt gegen 200.000 Köpfe, meist Spanier, Italiener, Slawen, wenig Germanen. In 50 Jahren werden die nationalen Unterschiede dieser Staaten gefallen sein. Ein Band wird sie alle umschließen und eine neue Nation entsteht unter viel leichteren und günstigeren Bedingungen als dies in Nordamerika vor sich ging.
      Es ist wohl möglich, dass kluge Leute, auch zünftige Diplomaten, zu dieser Prognose den Kopf schütteln. Richtig ist, dass, wie in Deutschland und Italien dynastische Interessen die Einigung verhinderten, auch hier gewissermaßen dynastische Interessen bestehen, nur nennen sie sich hier caudillos, d. h. die führenden Familien wollen Herren in ihren Bezirken bleiben. — Deutschland und Italien sind trotzdem zur Einigung gelangt, auch das spanische Südamerika wird einig werden. Der Druck des Auslandes, namentlich nordamerikanische Bestrebungen und wirtschaftliche Bedürfnisse werden dazu zwingen.
      Verfasser lebte und arbeitete seit fast 20 Jahren nicht in einem Lande, sondern in allen vier großen Staaten, die er genauer kennt als die Mehrzahl ihrer Einwohner und überlässt den Beweis für die Richtigkeit seiner Hypothesen vertrauensvoll der Zukunft. Aber schon heute wird ihm jeder Recht geben, der sich einmal die Mühe genommen hat, über diese Sache gründlich nachzudenken, die Verhältnisse kennt und die Vorgänge der letzten Jahrzehnte beobachtet hat. Außer Sprache und Abstammung haben die spanischen Südamerikaner auch die Religion gemeinsam und die trotz allem religiösen Liberalismus doch noch recht einflussreiche Kirche hat ein Interesse an dieser Lösung der südamerikanischen politischen Frage.
      Wie wird sich Deutschland zu diesem Vorgange stellen? Nordamerika hätte beinahe die deutsche Sprache angenommen. Es ist nicht geschehen. An die 16 Millionen oder mehr leben in den Staaten, die von Deutschen abstammen und Deutsche sein sollten. Sie sind Yankees, unsere Konkurrenten im Wirtschaftsleben, unsere Gegner in der Politik, falls erforderlich. Will Deutschland die neu entstehende südamerikanische Nation sich auch so gegenüberstehend wissen, wo man doch die Mittel in der Hand hat, sie sich dauernd uns zu verbinden?
      Dass die deutsche Auswanderung sich verstärken muss, liegt klar. Jede industrielle Krise kann sie zu ungeahnter Höhe anschwellen lassen. Wo bleiben diese Leute? Spricht man von Auswanderung, so werden sofort unsere Kolonien in den Vordergrund geschoben. Was können denn unsere Kolonien an Einwanderung aufnehmen? Nach Rohrbach ist in Süd west-Afrika noch Platz für etwa 40.000 Köpfe in der Landwirtschaft. Rechnet man auf Handel und Industrie, was vermutlich viel zu hoch, 60.000, so sind das 100.000 Menschen in vielleicht 20 Jahren, d. h. die Hälfte von dem, was in den 1880er Jahren in einem Jahre auswanderte. — In Ostafrika kommt der für Plantagen geeignete Hauptteil nur für Leiter oder Besitzer in Betracht. Für Kleinsiedelungen sollen die Bergländer in bedeutender Ausdehnung geeignet sein. Wer indes das Buch des Herrn Paasche liest, welches sicher diese Frage so treffend behandelt, als die Umstände es nur irgend zuließen, wird den Eindruck gewinnen, dass zwar vieles möglich, eigentlich aber noch alles unsicher ist. Die Produktionsbedingungen enthalten noch viele ungelöste Rätsel; wie sich der Absatz gestalten wird, weiß niemand. Die Viehkrankheiten erfordern, dass eine Milchkuh sozusagen unter Glas gehalten wird. Der Aufstand wütete gerade in der Kolonie und die Errichtung einer Landwehr schien dringendes Erfordernis. Selbst für eine solche Existenz aber ist ein kleines Kapital nötig. Der südafrikanische Farmer erhält 5.000 Hektar, aus diesen kann er bestenfalls jährlich 10.000 M herausholen. Die Familie bleibt also zur Existenz eines Kleinwirtes von vornherein bestimmt, und dazu braucht sie noch relativ viel Kapital. Was wird aus all den Leuten, die nichts haben als ein paar Arme? Diese Arme, vereint mit etwas Energie, sichern dem Manne drüben hundertmal eher die Anwartschaft auf den Millionär, als der napoleonische Soldat sie hatte, den Marschall zu erreichen. Gerade aus einfachen Arbeitern sind viele Multimillionäre, Dutzende von Millionären bereits geworden und noch mehr im Entstehen, sowie sehr viele in großem Wohlstand. Wir plädieren nicht für Millionärzucht, aber für das tägliche Brot und Sicherheit der Familiengründung. Diese ist drüben für jeden leicht, in den Kolonien für die Weißen ausgeschlossen.
      Was wird aus den Sozialisten? Sollen sie hier Revolution machen, während sie drüben, wohlhabend geworden, es wieder lernen, sich als reichstreue Deutsche zu fühlen? Selbst Pariser Kommunarden leben jetzt mit ihren drüben erworbenen Renten friedlich wieder in Paris als gute Bourgeois.
Man sollte also gerechterweise nicht alles unterdrücken wollen zugunsten der Kolonien, wie es manche Blätter in Deutschland aus falsch verstandenem Patriotismus tun.
      Doch zunächst nochmals die Frage: Wo wird unsere Auswanderung bleiben? Denn die Kolonien können höchstens vielleicht 10 000 Menschen jährlich aufnehmen. Soll der größte Teil wieder verloren gehen, unsere Gegner verstärkend?
      In Chile erhalten sich die deutschen Familien jetzt schon in der vierten Generation deutsch. Sie werden es in allen Teilen dieser Länder umso mehr tun, je mehr Deutsche hinzukommen, je weniger junge Männer genötigt sind, eingeborene Frauen zu nehmen, sondern deutsche Mädchen heiraten können.
Es gibt in Argentinien die Heuschrecken, auch wohl einmal Trockenheit oder Frost, die den einzelnen bis zum Ruin treffen können, wenn er gerade dahin geht, wo diese Erscheinungen häufig auftreten. In Chile, Bolivien, Peru existieren diese Plagen nicht. 99 % aller Arbeiter kann bald als Medianero, d. h. auf die Hälfte arbeitend, ein Kolonielos erwerben und für sich allein, wenn es einigermaßen gut geht, mehr verdienen als ein Südwestafrikaner mit Kapital nach jahrelangen Mühen. Alle Kapitalisten werden gut verdienen, wenn sie sich nicht unüberlegt in irgendein Abenteuer stürzen, wie dies häufig geschieht, sondern unter gebührender Berücksichtigung der Verhältnisse des Landes ihr Geld anlegen.
      Wäre die deutsche Auswanderung zielbewusst seit 1848 nach dem La Plata gegangen, so wären Länder, fast von der Größe Europas, zu den besten der Welt gehörend, heute deutsch. Geht auch nur ein Teil unserer Auswanderung in der Zukunft dorthin, so werden diese allerdings politisch Argentinien oder Chile oder später den Vereinigten Staaten von Südamerika angehören; aber sie werden eine deutschbleibende Minorität bilden und nicht nur selbst Abnehmer der deutschen Industrie bleiben, sondern durch ihren Einfluss auch derselben in der anderen Bevölkerung Absatz verschaffen. Sie werden im neuen Lande auch die Politik zugunsten Deutschlands beeinflussen.
      Das Minus, welches uns ein weiteres Verlorengehen unserer Auswanderung, sei es in Nordamerika oder Kanada, durch direkten Verlust an Menschen und Stärkung unserer Konkurrenten schafft, das Plus, welches uns die zielbewusste Hinleitung der Auswanderung nach Südamerika gewährt, lassen zweifellos die hiermit angeschnittene Frage als eine im nationalen Interesse erstklassig wichtige, und da es sich um einen sich fortlaufend abspielenden Prozess handelt, als eine brennende erscheinen. Es ist nicht die Auswanderung allein, sondern auch die Konkurrenz in jenen Ländern. Denn gewöhnlich kommen uns alle anderen Nationen zuvor in dem, was wir erlangen könnten.
      Es gibt in Deutschland kein Interesse, welches so stark wäre, dass seinetwegen die großen Vorteile in Südamerika zu vernachlässigen wären.
Was die Kolonien brauchen, füllen allein jüngere Söhne des Bauernstandes überreichlich aus, sie sind auch das geeignetste Material dafür. Die Kolonien beanspruchen gute Elemente, die minderwertigen bleiben uns. Handel, Schifffahrt, Banken, Industrie, haben den dringendsten Wunsch, ihre Milliarden umfassenden Interessen zu verstärken und ihnen eine breitere Basis zu geben. Dies geschieht durch Leitung der Auswanderung nach Südamerika, d. h. nach den gemäßigten Ländern des Erdteils und durch Investierung deutschen Kapitals in Unternehmungen. An in Papieren angelegtem Kapital verdienen sie nichts.
      Die Industrie könnte Konkurrenz befürchten. Sie ist in keinem Lande ernstlich möglich. Ehe die Einwohnerzahlen sich nicht vervierfacht haben, wird die Industrie stets in steigendem Maße Absatz finden. Einwanderer finden in Ackerbau und Viehzucht so lohnende Beschäftigung, dass sie gar nicht daran denken, Industriearbeiter zu werden, und das wird noch wenigstens 50 Jahre anhalten, und dann werden es nicht die Deutschen sein, sondern Italiener und Spanier, die ja heute schon neben russischen Juden fast ausschließlich die Einwanderung bilden, welche die Fabriken bevölkern.
      Am meisten befürchtet wohl die Landwirtschaft. Ich bin in meinem Herzen deutscher Agrarier, sogar Ostelbier, und wünsche nichts mehr als eine blühende deutsche Landwirtschaft. Ich kann aber nur Nachteile sehen, wenn die deutsche Landwirtschaft ihren Einfluss geltend macht, um gegen die Ausdehnung deutscher Interessen in Südamerika Stimmung zu machen. Die Entwicklung von Argentinien, Kanada, Sibirien ist nicht aufzuhalten, und ob jährlich zehn- oder zwanzigtausend Deutsche nach Argentinien gehen oder nicht, fällt dabei absolut nicht ins Gewicht. — Der Weltmarktpreis wird dadurch kaum beeinflusst werden. Es wird auch dadurch kein Arbeitermangel eintreten, denn der Preis für die Überfahrt ist so hoch, dass Arbeiterfamilien nicht daran denken können, für eigene Rechnung dorthin zu gehen. Die deutsche Landwirtschaft muss mit der Entwicklung jener Länder, speziell auch des Ackerbaues und der Viehzucht, als mit etwas Unvermeidlichem rechnen und das Klügste, was sie tun kann, ist, selbst aus dieser Entwicklung an Ort und Stelle Nutzen zu ziehen, soweit ihr Kapital und Menschen dafür zur Verfügung stehen. Haben die Landleute wirklich Schaden durch die argentinische Landwirtschaft, was schließlich Frage der Zollgesetzgebung ist, so mögen sie dafür sorgen, dass ihre Söhne und Töchter den Nutzen daraus ziehen. Im Übrigen geht aus der Beschreibung dieser Länder hervor, dass man in Chile, Bolivien, Peru reiche Gewinne machen kann, ohne mit unserer Landwirtschaft in Konkurrenz zu treten. Nur die argentinische Produktion kommt nach Deutschland. — Die drüben Reichgewordenen werden hier Herrschafts-, Schloss- und Villenbesitzer. Die Landwirte täten klug daran, ihnen zu folgen und drüben das Geld zu verdienen, um hier die Situation mit Gemütsruhe und nicht, wie oft der Fall, mit Sorgen ansehen zu müssen, bis ihre Güter der Andersgläubige kauft. Die Heimat in Ehren. Sie wird unsere Heimat bleiben, wenn wir sie behaupten können. Ein Weg, die Mittel zu schaffen, liegt klar für jeden, der die Dinge kennt, er führt über Südamerika, nur muss er die nötigen Kenntnisse haben, um sein Unternehmen so zu leiten, wie es sachgemäß ist. In höherem Grade aber kann Großkapital verdienen oder Gesellschaften, und gerade diese können den Boden vorbereiten für die überschüssigen Volkskräfte, welche nicht dem Deutschtum verloren gehen, sondern ihm erhalten bleiben sollen.