Dritter Abschnitt

      Deutschlands Handel als Vermittler zwischen Ausland und heimischer Industrie steht in ihnen an zweiter, teilweise erster Stelle. Die deutschen Schifffahrtslinien sind die bedeutendsten unter den nach Südamerika laufenden Linien. Große deutsche Kolonien bestehen und gedeihen z. B. in Chile und erhalten ihr Deutschtum jetzt schon in der vierten Generation intakt. Es kann keinem fernerliegen als uns, die deutsche Auswanderung steigern zu wollen, aber sie muss eines Tages in erheblichem Maße kommen, und jede der Industrie drohende Krisis kann sie herbeiführen, ohne dass unsere Kolonien fähig wären, sie aufzunehmen und gut unterzubringen. — Unsere Kolonien werden uns hoffentlich niemals streitig gemacht werden. In Südamerika können wir noch unendlich viel gewinnen, was von der Konkurrenz aller Völker schon heute für uns bedroht ist, und diese Konkurrenz wächst mit jedem Tage. Und zwar gewinnen im Interesse des Deutschtums trotz gemischter Kolonisation, die jetzt Prinzip geworden. Der Verfasser wanderte vor fast 20 Jahren aus, nachdem er hier bereits über 1 1/2 Jahrzehnte im Erwerbsleben gestanden. In den vier größeren vorgenannten Staaten war er seitdem unausgesetzt im Bergbau, in der Industrie und der Landwirtschaft tätig, d. h. in Erwerbszweigen, mit welchen sich die deutschen Banken nur wenig beschäftigen und die der Handel nur gelegentlich streift. Jahrelange Vertretung großer deutscher Gesellschaften gestattete ihm, alle Länder auf das eingehendste zu bereisen, und er tat es mit spezieller Berücksichtigung des Studiums der Landeskulturfragen und der Bodenschätze und deren Hebung, der Verkehrsfragen, der Ausnutzung von Wasserkräften und anderen industriellen Möglichkeiten. — Das Resultat dieser teils stabilen, teils mobilen Tätigkeit ist eine genaue Kenntnis von Ländermassen, die fast so groß als Europa sind, Verbindungen fast in jedem Orte von einiger Bedeutung und ein bedeutend weiterer Überblick und tieferer Einblick in die Erwerbsverhältnisse und Möglichkeiten als die Eingeborenen selbst haben oder auch die Mehrzahl der europäischen Geschäftsleute, welche sich mangels eigener Fachkenntnis an das halten, was die Eingeborenen tun und erzielen, obgleich deren Kenntnisse fast durchweg rein empirische, d. h. in diesem Falle unvollkommene sind. Bei den Eingewanderten ist dies häufig keineswegs besser. Die Mendoziner Weinbauern sind zum Teil ehemalige Tagelöhner, Lokomotivführer, Bäcker, Kaufleute usw. Die Tucumanzuckerbarone setzen sich ähnlich zusammen, große Minenbesitzer sind ehemalige Matrosen usw. Einige haben sich Kenntnisse angeeignet, die meisten nicht, und so kommt es denn, dass viele Sachen, welche auf den ersten Anblick sehr imponieren, wie der Mendozaweinbau oder der Tucumanzuckerbau, wenn man ihnen auf den Grund geht, recht kläglich aussehen. Die Gunst der Umstände, Klima, reicher Boden, die Möglichkeit zu bewässern, Kursspekulationen u. a. m. haben die Unternehmungen jahrzehntelang hochrentabel gemacht, trotz einer ganz elenden Bewirtschaftung. Jetzt aber, wo andere Verhältnisse eintreten, stehen sie in vielen Fällen vor der Ertraglosigkeit, dank der begangenen groben Fehler. Diese kurzen Anführungen mögen genügen, um zu zeigen, wie schwer es ist, sich ein Urteil aus der Ferne zu bilden, und wie unzutreffend ein großer Teil der Auskünfte sein wird, wenn man sich nicht direkt an einen kompetenten Praktiker wendet. Es soll in den nachfolgenden Artikeln kein wissenschaftliches Werk gegeben werden, sondern nur Ansichten, die sich auf Grund einer vielseitigen Praxis auf verschiedenen Arbeitsfeldern und bei der Möglichkeit, das Erwerbsleben dieser Länder bis zu einem gewissen Grade überschauen zu können, in zwei Dezennien gebildet haben. Möchte es möglich sein, dadurch Nutzen zu schaffen, im Interesse des deutschen Kapitals und vieler deutscher Familien, welche Gewinn oder eine Existenz in Ländern suchen, die bessere Bedingungen bieten als die Heimat, im Interesse der kommenden Auswanderung, also im Interesse der Zukunft des Deutschtums. Um von vornherein den richtigen Gesichtswinkel für die Beurteilung der Verhältnisse dieser Länder zu gewinnen, sind einige allgemeine Bemerkungen unerlässlich. — So mancher kritische Landsmann sagt zunächst: Wenn diese Länder wirklich so gut wären, wenn sie wirklich so viel guten Boden hätten, so gutes Klima, so reiche Mineralschätze usw., warum hat man sie denn nicht längst aufgesucht, und warum hat man sie nicht längst verteilt? Des Rätsels Lösung liegt in ihrer von Europa entfernten Lage und darin, dass sie bis in das zweite Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts spanische Kolonien waren. Dazu tritt noch einiges andere. Nordamerika ist seit 150 Jahren der große Magnet, der die europäischen Auswanderer an sich zog. Die Leichtigkeit, sich eine gute Existenz zu schaffen in einem Lande, das auch für die schwerfällige Schifffahrt früherer Jahrhunderte erreichbar war, die politische und religiöse Freiheit machten die Vereinigten Staaten zum ersehnten Zufluchtsort für alle Europamüden. Politische, religiöse Bewegungen warfen Auswandererwellen stoßweise nach drüben, aber erst der starke Impuls, den das Zusammentreffen der politischen Bewegung von 1848 und die Auffindung des kalifornischen Goldes gaben, verursachten ein gleichmäßiges starkes Zuströmen, das noch heute andauert und großen Schifffahrtslinien lohnenden Erwerb gibt. Die Bevölkerung stieg in 100 Jahren um mehr als das Zwanzigfache. Die Staaten sind gesättigt, man wird wählerisch und erschwert die Einwanderung, der sich ohnehin nur noch sehr zweifelhafte Perspektiven bieten. Indes, der alte Ruf behält seine Kraft, das Land der Verheißung ist in wenigen Tagen erreichbar, der Sohn, der Bruder, die Freunde sind drüben, und man geht eben auch dorthin, die billige Fahrgelegenheit benutzend.
      Südamerika ist weit, wer kennt es? Wer kann den Fahrpreis erschwingen? Was kann man da machen? Tausend Zweifel steigen in dem Auswanderungslustigen auf, dem wirklich der Gedanke kommt. Kein Sohn, kein Verwandter schickt Reisegeld. Kein Bekannter gibt Auskunft. Das von der Heydtsche Reskript war sicher gut gemeint, aber es hat so nachteilig gewirkt, als es nur irgend möglich war. Hätte man den deutschen Auswandererstrom nach Südamerika lenken können — blühende Länder von der Größe fast ganz Europas wären heute von vielen Millionen Deutscher bevölkert. Die Familiengründung ist leicht und in vielen Kolonien zwölf Kinder der Durchschnitt. Das Versäumte ist nicht einzuholen, aber es mag für die Zukunft beherzigt werden. Denn noch liegt eine große Zukunft offen, und eine gute, wie das Blühen chilenischer und argentinischer deutschsprachiger Kolonien beweist.
      Als spanische Kolonien waren diese Länder von aller Welt abgeschlossen das Opfer der Habgier des Mutterlandes. Das einzig Gute, was die spanische Herrschaft Südamerika unwillkürlich brachte, war die Einführung europäischer Waren und Haustiere, im Übrigen war das System der Ausbeutung und systematischen Plünderung so ausgebildet, dass man ruhig annehmen kann, die Länder wären weiter, wenn sie unter inkaischer Herrschaft geblieben oder anderen Völkern zur Beute geworden wären. Es war durchaus erklärlich, dass die rechtlos gemachte Bevölkerung der Kolonien sich erhob, als Napoleon den bourbonischen Thron in Spanien stürzte und in mehrjährigen Kämpfen sich die Unabhängigkeit errang. Es ist ferner ein ganz natürlicher Vorgang, dass diese politisch unfertigen Bevölkerungen jahrzehntelange innere Kämpfe brauchten, um sich zu konsolidieren und die politische Reife zu erlangen, welche ein geordnetes und ruhiges staatliches Leben erfordert, bis der Ehrgeiz oder die Habsucht einzelner führender Persönlichkeiten oder Familien (caudillos) es gelernt hatte, seine Wünsche auf friedlichem Wege und ohne Blutvergießen zur Geltung zu bringen, bis man eingesehen hatte, dass es nicht geraten ist, dem Auslande derartige Blößen zu geben und Zeichen der Unreife, wie es die Revolutionen sind. Seit fast zwanzig Jahren dürften die genannten Länder auch diese Periode der Kinderkrankheiten hinter sich haben, an der die kleinen zentralamerikanischen Länder noch chronisch leiden. Es ist klar, dass alle diese Länder durch diese unruhige Entwicklung ihrer politischen Verhältnisse in ihrem wirtschaftlichen Vorschreiten nicht nur aufgehalten, sondern direkt zurückgebracht wurden. Die spanische Eroberung zerstörte zum großen Teil die blühende Ackerkultur der Inka. Sie verfiel, denn die ackerbauenden Indianer wurden als Sklaven in die Gold- und Silberbergwerke geschleppt. Die Unabhängigkeitskämpfe gegen Spanien Hessen den Bergbau verfallen. Noch heute mögen Tausende von guten Minen versteckt und verstopft sein, die damals gute Ausbeute ergaben. Die Revolutionen, welche die Schreckensherrschaft einzelner Caudillos mit sich brachten, zerstörten den Wohlstand ganzer Provinzen, die gebrandschatzt und geplündert wurden. Dies ist vorbei. Fast alle Länder sind in einem Grade in den letzten Dezennien vorgeschritten, der in der Tat anerkennenswert, sogar bewundernswert ist. Am meisten fällt dies in Argentinien in die Augen, unter dem Einfluss der jährlich steigenden Einwanderung und des infolge dieser und des guten Absatzes nach Europa in fabelhafter Weise allgemein gestiegenen Wohlstandes. Das Eisenbahnnetz hat sich mit einer Schnelligkeit vermehrt, welche der früheren Entwicklung Nordamerikas nichts nachgibt. Die Währung ist fest, das Eigentum geschützt. Der Ausländer — Argentinien ist heute schon fast international zu nennen — lebt in völliger Sicherheit. Die Regierung ist sich des Wertes guter Beziehungen zum Auslande vollbewusst und wird solche unter allen Umständen aufrechterhalten. Heer und Flotte sind gut organisiert und genügen, um Ordnung im Lande zu erhalten und von den Nachbarn respektiert zu sein. Die Gesetze befördern und schützen jede Art gewerblicher Tätigkeit. Die Abgaben und Steuern sind minimal. Es existiert kein religiöser oder politischer Fanatismus. Nativismus ist selbstredend vorhanden wie wohl in allen Ländern der Erde. Er findet indes keinen weithin sichtbaren Ausdruck und beschränkt sich im Wesentlichen darauf, die Parlamentssitze geborenen Argentiniern zu erhalten und den Ausländern den Staatsdienst zu verleiden — denn was vom Staatsbraten abträufelt oder abgeschnitten werden kann, gehört klarerweise dem Sohn des Landes. Die gleichen Verhältnisse herrschen mit wenig Unterschied in jedem der genannten Länder.
      Dies lässt auch erkennen, warum diese an Naturschätzen überreichen Länder noch so wenig ausgebeutet sind, und dass jetzt, wo die Einwanderung in Argentinien stärker geworden, in den entfernteren Ländern der Westküste aber noch immer nicht einsetzt, noch so unendlich viel zu haben ist.