Der Spuk von Insulinde.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: Dr. H. Selenka, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Koboldmaki, Malaie, Gespensteräffchen, Katzenart, Sundainsel
Wenn der Malaie ein Gespensteräffchen sieht, ergreift ihn Furcht und jäher Schreck, denn dieses Wesen gilt ihm als Bote allen Unglücks. Und man muss zugeben, sein Äußeres ist so beschaffen, dass man solchen Aberglauben verständlich finden kann. Seine großen Brillenaugen wirken in der Nacht unheimlich, wenn sie oft geradezu blendend aufleuchten und unverwandt den Störenfried anglotzen, ja ihn verfolgen, wenn er es umkreist.

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Gleich unseren Eulen kann sich nämlich der kurze, dicke Hals des Tieres bis zum Nacken kehren, so dass die grellen Lichter wie eine Blendlaterne wirken, die sich auf einem Kugellager dreht. Auch am Tag machen die dunkel umrandeten gelben Augen einen seltsamen Eindruck; sie stehen in keinem Verhältnis zu dem kleinen, runden Kopf, dessen rötliches Antlitz mit dem breiten Maul, den wulstigen Lippen und der mopsartigen Schnauze an sich schon kurios genug ist. Die langen, spindeldürren Glieder mit den Laubfroschfingern und der struppige Quastenschwanz verstärken den spukhaften Eindruck dieses rattengroßen Tierchens. Was den Eingeborenen der Sundainseln oder Insulindes mit Abscheu und mit Furcht erfüllt, erscheint dem Tierkenner als wunderbare Anpassung an die Lebensweise des Gespensteräffchens, das sich nächtlicherweile im dichten Bambuswald umhertreibt; dazu bedarf es solcher Eulenaugen. Die Saugballen der Finger und der Zehen erlauben ihm, sich an den glatten Stämmen festzuhalten, an denen selbst die schärfsten Krallen abgleiten müssten. Mit den langen Hinterbeinen schnellt sich der kleine Kobold in weiten Sätzen durch die Büsche, wobei der Schwanz, der in der Ruhe ihm als Stütze dient, als Steuer wirkt und das Gleichgewicht bewahrt. Das einzige Junge des Gespensteräffchens sucht es den Eltern früh gleichzutun und klettert schon am zweiten Tage im Geäst umher, doch klammert es sich gern auch an die Beine seiner Mutter, die es noch lange mit sich schleppt oder nach Katzenart im Maule trägt. Die Ohren, die noch besondere, schallverstärkende Taschen besitzen, verraten aus der Ferne schon das leise Summen der Insekten, die dem Gespensteräffchen als Hauptnahrung dienen. Im Sprung erhascht es sein Opfer, worauf es im Fallen mit den Saugscheiben Halt gewinnt. Wie unser Eichhörnchen hält es die Beute zwischen den Pfoten, um sie gemächlich zu verzehren; dann geht die Jagd lautlos weiter. Der Europäer hält den Koboldmaki, wie er auch heißt, in jenen fernen Landen gern als Hausgenossen, um sich an dem eigenartigen Treiben des kleinen Spukgeistes zu erfreuen. Das Gespensteräffchen wird bald zahm und zutraulich. Lebend kam dieses Geschöpf wohl noch nie in unsere Tiergärten.

Wildtiere, Das Gespensteräffchen

Wildtiere, Das Gespensteräffchen