Der Gottesdienst der Toten in der St. Nicolai-Kirche zu Röbel.

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 3
Autor: Gesammelt und herausgegeben von M. Dr. A. Niederhöffer, Erscheinungsjahr: 1860
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sagen, Volkssagen, Röbel, St. Nicolai, Geisterstimme
Mutter Schulzen war eine alte fromme, gottesfürchtige Frau; sie lebte vor vielen Jahren in Röbel und wohnte dort auf der Neustadt, am Markte, in einem noch jetzt stehenden Hause. Selten und nur im höchsten Notfalle versäumte sie an Sonn- und Festtagen die Kirche, besonders gern und regelmäßig pflegte sie aber in der Fasten- und Adventszeit den Frühgottesdienst in der Neustädter St. Nikolaikirche zu besuchen.

Wenn die Glocken in dieser Zeit des Morgens vom hohen Kirchturme herniederschallten und die Gläubigen zum Dienste des Herrn riefen, dann war die alte Frau schon immer munter und in den Beinen; schnell warf sie dann ihren mit Pelz besetzten Mantel um und eilte, das Gesangbuch unterm Arm, in das nahe Gotteshaus.

Wieder war es in der Adventszeit. Die alte Frau Schulzen lag noch sanft schlummernd im Bette, als sie plötzlich durch das Geläute der Glocken geweckt wurde. Wie, sollte sie diesmal die Zeit verschlafen haben? es war ihr das ja noch nie passiert. Zwar schien es ihr noch viel zu früh zur Kirche zu sein; aber dennoch, sie irrte sich gewiss, es musste doch seine Richtigkeit haben; sie hörte ja deutlich die Glocken zur Frühpredigt einläuten, wenngleich sie heute auch so eigen, so dumpf und so ganz anders als sonst klangen. Ohne also erst weiter viel nachzudenken, denn dazu war jetzt keine Zeit mehr, erhob sich die fromme Alte von ihrem Lager, kleidete sich schnell an und eilte in die erleuchtete St. Nikolaikirche.

Viel mehr Leute waren hier diesmal versammelt, als es sonst der Fall zu sein pflegte; noch mehr aber fiel es Mutter Schulzen auf, dass heute so viele fremde, ihr unbekannte Gesichter unter den Versammelten waren. Was aber das Allermerkwürdigste war, es schien der Alten, dass viele ihr sehr bekannte Personen von ehemals, die aber sämtlich schon längere oder kürzere Zeit tot waren, hier anwesend seien. Doch sie irrte sich gewiss auch hierin, es war wohl nur Täuschung und Blendwerk ihrer altersschwachen Augen; deshalb setzte sie sich ruhig auf ihren gewöhnlichen Platz, nahm ihr Gesangbuch, schlug das angegebene Lied auf und begann mit zu singen.

Aber es war und blieb heute Alles so ganz anders, so sonderbar und schauerlich in der Kirche; der Gesang der Anwesenden klang so geisterhaft, die Orgel tönte so dumpf und eigentümlich; und dabei nun die vielen unbekannten Gesichter, und darunter wieder die bekannten Züge so mancher ihrer längst heimgegangenen Bekannten und Verwandten etc. Kurz, die alte Frau wusste selbst nicht recht, was sie sah und hörte, was mit ihr geschah und was sie eigentlich von diesem Allen denken und halten sollte. Da fühlte sich Frau Schulzen plötzlich leise von der bei ihr sitzenden Person angestoßen; sie neigte sich zu ihr hin und erkannte nun in ihr das Bild ihrer vor einigen Jahren verstorbenen Nachbarin. Mit hohler Geisterstimme aber flüsterte diese ihr die Worte zu: „Nawersch, nu ißt Tiet; nu mak, dat Du weg kümmst!"*)

*) „Nachbarin, nun ist's Zeit; nun mache, dass Du fort kommst!"

Grauen und Entsetzen erfassten jetzt die alte Mutter Schulzen, schnell erhob sie sich und eilte aus der unheimlichen Versammlung. Als sie kaum die Kirchentür geöffnet und hinausgetreten war, flog dieselbe auch schon wieder mit großem Geräusche zu und erfasste dabei einen Zipfel des Mantels der Davoneilenden, dass er abriss und in der Türspalte sitzen blieb.

Kaum mochte die alte Frau drei Schritte die Kirche hinter sich haben, als es vom Kirchturme mit dumpfem Klange Eins schlug.

Jetzt wurde Mutter Schulzen Alles klar, sie war in der Mitternachtsstunde zum Gottesdienste der Toten gewesen.

Schon oft vor und auch noch nach dieser Zeit haben verschiedene Leute versichert, dass sie des Nachts die Neuröbel’sche Kirche erleuchtet gesehen und die Orgel spielen gehört hätten. Besonders aber wollte dies der alte verstorbene Nachtwächter Kröger häufig beobachtet und erlebt haben, und hat er solches Vielen bei seinen Lebzeiten erzählt.