Der Gottesdienst der Toten - Pommersche Volkssage

Aus: Sundine: Unterhaltungsblatt für Neu-Vorpommern und Rügen, 18. Band 1844
Autor: Redakteur: F. v. Suckow, Erscheinungsjahr: 1844
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Stralsund, Sagen und Märchen, Volkssagen
In Stralsund wurde vor länger denn zwei Jahrhunderten am Weihnachtstage in der St. Johannis-Kirche eine Frühpredigt, um 5 Uhr Morgens gehalten. Eine alte, in der Nähe der Kirche wohnende, fromme Witwe versäumte tiefe Andacht nie. Am Vorabende des Geburtsfestes Jesu legte sie sich eines Jahres zeitig zu Bette, um doch ja die Zeit nicht zu verschlafen; sie schlief unruhig und stand mehrere Male auf, um aus ihrem Fenster nach der Kirche zu sehen, ob diese schon erleuchtet wäre, da sie keine Uhr hatte, die ihr die rechte Zeit anzeigte.

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Endlich schlief sie fest ein; sie glaubte lange geschlafen zu haben, als sie plötzlich erwachte. Schnell sprang sie aus dem Bette und sah die Kirche schon erleuchtet. — Sollte sie doch die Zeit verschlafen haben? Hastig zog sie sich an, nahm den Mantel um und eilte zur Kirche. Die Tür war auf und sie trat hinein; die Kirche war gedrängt voll. Sie kam gerade zur rechten Zeit, denn eben begann der Gesang. Leise eilte sie auf ihren Platz, den sie leer fand, betete und sah auf, um sich den Gesang aufzuschlagen, da, — es schauderte ihr seltsam, — von allen in der Kirche Anwesenden kannte sie Keinen, auch den Küster und Prediger nicht, weiter fremde, leichenhafte Gesichter. Doch sie bezwang sich, öffnete ihr Gesangbuch: Nr. 47. ,,Ein Kinderlein so löblich!“ war aufgesteckt, sie sang mit. Feierlich-schauerlich tönte der Gesang durch die Hallen. — Ihr wurde immer unheimlicher, so kam man bis zur letzten Strophe, da konnte sie es nicht länger aushalten, sie stand auf und eilte aus der Kirche; kaum hatte sie tiefe verlassen, so schlug dir Tür mit fürchterlichem Gekrache hinter ihr zu und klemmte noch den Zipfel ihres Mantels mit ein. Außer sich vor Angst riss sie sich los und stürzte nach Hause, da schlug die Turmglocke Eins!
Sie hatte dem Gottesdienste der Toten beigewohnt; ums Jahr lag sie auf der Bahre.

Stralsund Stadtansicht

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