Das zu Röbel auf dem Marktplatze hingerichtete Edelfräulein und deren Nachlass in dortiger St. Nicolai-Kirche.

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 1
Autor: Gesammelt und herausgegeben von M. Dr. A. Niederhöffer, Erscheinungsjahr: 1858
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sage, Volkssage, Röbel, Waren, Malchow, Mirow, Plau und Wittstock
Obgleich es ein Alltag und noch ziemlich früh am Tage ist, obgleich auch der Wind stürmt und tobt und vom Himmel herab dunkle, regenschwangere Wolken jeden Augenblick loszubrechen drohen, so herrscht dennoch ein ungewöhnlich reges Leben und Treiben in den Straßen der sonst so ruhigen und stillen Stadt Röbel. Nicht allein die ganze Einwohnerschaft derselben hat die Wohnungen verlassen und befindet sich draußen, auch vom Lande und aus den nahen Städten: Waren, Malchow, Mirow, Plau und Wittstock, kurz von Nah und Fern sind schon viele Fremde eingetroffen und füllen und beleben zu Fuß, zu Pferde und zu Wagen die Straßen. Alles eilt dem Markte zu, Alles will dort frühzeitig genug eintreffen, um Zeuge eines Gott Lob seltenen, aber grässlichen Aktes zu sein.

Ein in Röbel wohnhaftes, junges adliges Fräulein, die beschuldigt war, ein Kind umgebracht zu haben, — ob nun mit Vorsatz oder aus Unvorsichtigkeit, wusste man nicht genau, — sollte nämlich heute öffentlich durch das Schwert hingerichtet werden, und um dies nun mit anzusehen, war man von allen Gegenden herbei geströmt.

Trotzdem auch von den verschiedensten Seiten alles Mögliche aufgeboten worden, eine Milderung oder Aufhebung des harten Urteilspruches zu erwirken, wenngleich auch selbst von der Stadtbehörde ein Gnadengesuch für die Verurteilte höchsten Ortes eingereicht, und nichts von deren Angehörigen und Freunden unversucht geblieben, so waren doch alle Bemühungen erfolglos gewesen; das einmal gesprochene Erkenntnis, so lautete der allerhöchste Bescheid, solle und müsse vollzogen werden! Die zuletzt vom wohlwollenden Magistrate dem Bruder des Edelfräuleins, einem jungen Ritter, nochmals bewilligte Frist von fünf Tagen war schon seit einer Woche abgelaufen, derselbe war nicht wiedergekehrt; man konnte also gewiss annehmen, dass auch seine wiederholten Bemühungen ebenso erfolglos wie die früheren geblieben und daher auch keine weitere Hoffnung auf Rettung der Unglücklichen vorhanden sei. Länger durfte nun nicht mehr gezögert werden, den allerhöchst bestätigten Ausspruch des obersten mecklenburgischen Gerichtshofes zu vollziehen, da der Magistrat in seiner Milde fast schon die äußerste Grenze seiner Befugnis, die Vollstreckung des Urteils hinauszuschieben, überschritten hatte.

Auf dem Marktplatze wogte und drängte es schon lange auf und nieder. Eine ungeheure Menschenmasse ist dort versammelt; sämtliche Fenster und Türen der umliegenden Häuser sind mit Schaulustigen dicht besetzt und selbst auf einigen Dächern erblickt man einzelne Wagehälse. In der Mitte des Marktes aber hat man einen großen Haufen Sand zusammengefahren und auf demselben steht bereits der schwarz verhangene Block, mit einer Öffnung, gerade groß genug, um bei der fürchterlichen Operation den Hals der Deliquentin aufzunehmen. — Immer näher und näher rückt die Zeit des peinlichen Gerichts; bald werden auch die letzten Minuten verstrichen sein. —

Endlich ist er da, der mit gespannter Ängstlichkeit erwartete Augenblick, und hernieder schallt vom nahen Neustädter St. Nicolai Kirchturme die neunte Stunde des Tages. Eine atemlose Stille tritt alsbald ein; aller Augen richten sich nach dem Rathause. Schon öffnen sich die schweren Pforten desselben; schauerlich ertönt das Geläute der Sterbeglocke; der düstre Zug erscheint. — Schweigend und willig macht das Volk Platz, ohne erst von den vorausschreitenden Polizeidienern hierzu aufgefordert zu werden. Diesen folgt das verurteilte Edelfräulein. Ein schönes, bleiches Dulderingesicht, geht sie daher, gesenkten Blickes, aber gefasst und ergeben. Ein weites, weißes Gewand mit schwarzen Schleifen umschließt ihren schlanken, zarten Leib; das aufgelöste, üppige Haar flattert ungezügelt und vom Winde leicht gehoben in langen, blonden Locken um Stirn und Nacken; in der Rechten hält sie ein kleines Kruzifix, welches sie oft und innig an die wogende Brust drückt; die Linke, stützt sich auf ihren, ihr zur Seite wandelnden ehrwürdigen Beichtvater, den Prior des Röbeler Dominikaner-Mönchsklosters*). Einige Mönche und Geistliche folgen dann mit Weihwedel und Rauchfass, endlich den Zug beschließend, den Bürgermeister an der Spitze, die Mitglieder des Magistrats; alles würdige Männer und Greise.

*) Vor 1552, dem Jahre der öffentlichen Annahme der lutherischen Konfession in Mecklenburg, wo also Röbel und ganz Mecklenburg noch katholisch war. Erst einige Jahre später soll dies Kloster säkularisiert worden sein.

Auf dem Richtplatze angekommen, den kurz zuvor schon der finster blickende Scharfrichter mit seinen beiden Knechten, von einer andern Seite kommend, bestiegen hatte, tritt zuerst der Bürgermeister hervor, — ein wegen seiner Rechtlichkeit, Güte und Milde allgemein geliebter und geachteter Greis, — und verliest hier, nach gesetzlicher Bestimmung, nochmals das vom Landesfürsten bestätigte Todesurteil. Hörbar zitterte die Stimme des alten Herrn bei dieser Publikation, man sah es demselben an, zu deutlich stand es auf seinem Gesichte geschrieben, wie schwer es ihm wurde, als Mensch Das zu vollziehen, wozu ihn sein saures Amt als Justizbeamter zwang. — Als hierauf noch das übliche Zerbrechen eines schwarzen Stabes über dem Haupte der Verurteilten stattgefunden, kniet sie mit ihren geistlichen Begleitern noch einmal zum Gebet nieder, Gott um Stärke und Kraft in dieser schweren Stunde anflehend.

Und Gott der Herr hatte das Gebet erhört, das fühlt und sieht Jedermann. Denn plötzlich zerteilt ein heller Lichtstrahl das dunkle Gewölk; die Sonne zeigt sich mit einem Male in ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit der staunenden Menge, und beleuchtet lieblich und mild die kniende Gruppe.
Fromm lächelnd wie eine Heilige erhebt sich die dem Tode Geweihte jetzt wieder, gleich einer schon Verklärten leuchtet ihr schönes, bleiches Gesicht, himmlischer Friede ist über ihre ganze Gestalt ausgebreitet; — sie hatte bereits das Bittere des Todes überwunden. — Alles ist gerührt und bewegt, kein Auge bleibt trocken; selbst das des Harten und Unempfindlichen füllt eine Träne. Alles ist von tiefstem Mitleiden erfüllt; Alles beklagt und bedauert das Geschick des Edelfräuleins. Und oh, wen hätte auch ein solcher Anblick nicht rühren, wen hätte er nicht ergreifen müssen? — Ach, die Unglückliche war ja so jung und schön, so reuevoll und inbrünstig hatte sie gebetet, so sanft und geduldig litt sie Alles, so ruhig und gottergeben ging sie, gleich einem zur Schlachtbank geführten Lamme, in den Tod! —

Nachdem nach altem Brauch und Sitte der Scharfrichter vor der Verurteilten ein Knie gebeugt und um Verzeihung desjenigen, wozu ihm sein trübes Amt zwinge, gebeten hatte, treten dessen Knechte herzu und schneiden ihr mit scharfer Schere das schöne, volle Lockenhaar hinweg. Als darauf aber einer derselben ihr auch noch die Augen verbinden will, da tritt wehrend der ehrwürdige Prior dazwischen und entnimmt die Binde seiner Hand, denn er selbst will diesen letzten Liebesdienst verrichten.

Noch einmal küsst das Edelfräulein demütig das ihr dargereichte Kruzifix, dann geleitet sie, sanft tröstend und ihr Mut zusprechend, der Seelenhirte an den verhängnisvollen Block. — Gefasst kniet sie vor demselben nieder, umfasst ihn mit gefaltenen Händen, legt willig den schlanken Hals in die Öffnung und erwartet so in frommer Ergebung den Todesstreich. Während der Prior segnend das Zeichen des Kreuzes über die Kniende macht und ihr mit lauter, feierlicher Stimme Gottes Gnade und Verzeihung verkündet, wirft der Scharfrichter schnell seinen Mantel ab, entblößt das bis dahin verborgen gehaltene Schwert und naht sich leise seinem Schlachtopfer. — Grausig schwingt er das blanke Mordwerkzeug, mit kräftig gewandtem Arme, einige Male über seinem Kopfe, dass es funkelnd, zischend und schwirrend die Lüfte durchschneidet; dann aber senkt er es mit Blitzesschnelle plötzlich hernieder und auf zum Himmel spritzt auch schon ein hoher, roter Blutstrahl. Ein jäher allgemeiner Schrei des Volkes, und hin rollt in den Sand das entstellte Haupt der Vollendeten. —

Aber horch! in demselben Augenblicke ertönt von der einen Seite des Marktes, von den Dächern und Fenstern, aus Hunderten von Kehlen, der laute Ruf: „Halt! Gnade, Gnade, Pardon!" Und zugleich sprengt auch schon, herunter aus der „hohen Straße" kommend, hoch zu Ross, mit Schaum und Staub bedeckt, im rasendsten Karriere, ein Ritter auf den Platz; unablässig mit der Rechten ein flatterndes weißes Tuch schwenkend und mit fast schon erstickter Stimme „Pardon! Pardon!" rufend. — Es war der Bruder der eben Hingerichteten. Er hatte endlich Gnade des Fürsten für die geliebte Schwester erwirkt und brachte den Befehl, dieselbe sofort auf freien Fuß zu setzen. Doch er kam zu spät, — nur eine Minute eher und die Schwester wäre gerettet gewesen, denn gerade bog er um die Ecke des Marktes, als das Haupt derselben fiel. —

Totenbleich und bis ins Innerste vernichtet, hält er einen Augenblick an. Verzweifelt betrachtet er den blutigen, noch zuckenden, verstümmelten Leichnam der Teuren; dann wendet er sein Pferd und verschwindet eben so schnell wieder, wie er gekommen. —

Sämtliche Sachen der Hingerichteten wurden darauf von ihren hinterbliebenen Verwandten in einen Koffer verpackt und derselbe dann in der Neustädter oder St. Nicolai Kirche aufgestellt, um dort zur steten Sühne und zum ewigen Angedenken zu verbleiben.

Dieser Koffer, — über dessen Ursprung die Volkssage das eben Mitgeteilte erzählt, — aus starkem eichenen Holze gefertigt und über und über mit Eisen beschlagen, befindet sich bis auf den heutigen Tag noch in genannter Kirche; derselbe ist jedoch schon lange leer, da wohl der Zahn der Zeit den Inhalt zernagt und vernichtet haben mag.

Mecklenburgs Volkssagen - Band 1

Mecklenburgs Volkssagen - Band 1