Das untergegangene Dort Granzendorf bei Tessin

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 3
Autor: Gesammelt und herausgegeben von M. Dr. A. Niederhöffer, Erscheinungsjahr: 1860
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sage, Volkssage, Granzendorf, Tessin, Walkendorf, Glocke, Diebstahl, Feuersbrunst, Kirchturm, Granzendorfer See
Nicht weit von Walkendorf bei Tessin hat früher das große Dorf Granzendorf gelegen. Längst ist dasselbe aber schon untergegangen; keine Spur ist mehr davon vorhanden, und nur die Sage erzählt uns von dem ehemaligen Dorfe und zeigt uns den Ort, wo es gestanden.

Die Bewohner von Granzendorf waren hiernach schlechte, böse Leute, die Alles nahmen und raubten, was ihnen gefiel und was sie nur immer habhaft werden konnten. So war es ihnen denn auch möglich geworden, bei Nacht und Nebel aus der nahen Kirche zu Walkendorf eine Glocke zu stehlen und dieselbe in ihrem Kirchturme aufzuhängen, wo sich bis dahin noch nicht eine solche befunden hatte.

Dieser Kirchenraub sollte ihnen aber teuer zu stehen kommen. Es brach nämlich einmal in der Nacht plötzlich Feuer in Granzendorf aus. Gewaltig stürmte der Wind und fachte das gierige Element auf das Erschreckendste an, so dass bald das ganze Dorf in lichten Flammen stand.

Vergebens zog man die Sturmglocke, um die Bewohner der Umgegend zu Hilfe und Rettung herbeizurufen; aber Niemand hörte sie, denn, oh Wunder, die geraubte Glocke schwieg und wollte, so viel man sich auch anstrengte und abmühte, keinen Ton von sich geben.

Und so blieben denn die entsetzten Bewohner Granzendorfs in ihrer größten Not und Angst ganz allein auf sich angewiesen, und bald war das große, schöne Dorf nur noch ein rauchender Schutt- und Trümmerhaufen. Nichts war von demselben übrig geblieben, als nur der Kirchturm mit der geraubten Glocke.

Die armen Abgebrannten erkannten jetzt diesen sie so schwer getroffenen Schicksalsschlag mit Recht als eine wohlverdiente Strafe des zürnenden Gottes, ob ihres schlechten Lebenswandels, ihres Glockendiebstahls und all ihrer sonstigen vielen Sünden, an. Deshalb wanderten sie auch sämtlich fort von dem Schauplatze ihrer bisherigen Missetaten und siedelten sich in andern Dörfern und Gegenden wieder an.

Ehe sie jedoch gingen, nahmen sie die freventlich geraubte Glocke von dem Turm und versenkten sie in den Granzendorfer See, um dadurch, wie sie meinten, wenigstens in etwas ihr schweres Verbrechen zu sühnen.

Öde und wüst blieb lange Zeit die Dorfstelle; kein Mensch wagte sich ihr zu nahen, geschweige sich dort wieder aufzubauen. Und so verfiel denn auch der vom Feuer allein verschont gebliebene Kirchturm immer mehr, bis er endlich ganz einstürzte. Dorn und wildes Gesträuch überwucherten bald die ganze Gegend, und eine neue Erdschicht bildete sich nach und nach über der alten Brandstätte.

Jetzt durchfurcht der Pflug des Landmannes den Boden und üppige Saatfelder zieren den Ort, wo einst das alte Dorf Granzendorf stand.

Die versenkten Glocken ruhen noch immer in der Tiefe des Granzendorfer Sees. Alle Johannismittage soll man sie läuten hören können, wenn man alsdann nämlich ein weißes Taschentuch in dem See auswäscht.