Das glücklichste Geschöpf auf Erden.

Autor: Börne, Carl Ludwig (1786-1837)
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214. Auf der ganzen großen Erde gibt es keine glücklichern Geschöpfe als die Altertümler. Die gütige Natur schenkte ihnen eine Einbildungskraft, so heiß, so rasch, so kühn, so erfinderisch, daß man diesen hochbegabten Menschen allein die Untersuchung aller demagonischen Umtriebe anvertrauen sollte. Da wurde bei Eitzum, unweit Scheppenstedt, am Elenwalde (gute Geographen wissen, wo diese Orte liegen) ein eiserner Radnagel gefunden. Er lag in einem Steinbruche, acht Fuß unter der Erde. Von diesem „merkwürdigen Funde“ wird im Allgemeinen Anzeiger der Deutschen, auf sieben Spalten, vorläufige Nachricht gegeben. Es wird nicht untersucht, wie der Radnagel unter die Erde, sondern wie die Erde über den Nagel gekommen, und Moses mit den Propheten, Sonne, Mond und Sterne und die uralte Nacht, die Mutter aller Dinge, die gewesen und sind, werden darüber zu Rate gezogen. Dieser Radnagel „aus der Vorwelt“ zeichnet sich merklich von seinesgleichen „in der neuern Welt“ aus. „Er ist im ganzen genommen kleiner als die jetzigen, aber weit zierlicher gearbeitet. Der Kopf ist nicht viereckig, sondern rund und dicker wie jetzt. Er gleicht einer Blume mit vier Blättern, die nicht wie ein Kelch in die Höhe stehen, sondern herabhängen und etwas gekrümmt sind. Im übrigen gleicht er ganz den unsrigen, ist etwa drei Zoll lang und viereckig, auch nach Verhältnis breit; aber etwas schwach.“ Wie und wann haben sich nun die Steine und Erdschichten über diesen Radnagel zusammengelegt? Da liegt der Hase im Pfeffer. Daß eine große Revolution der Erde oder eine Flut den blumigen Radnagel lebendig begraben, versteht sich von selbst; aber welche hat dieses getan? „Die sogenannte Sündflut kann dieses nicht bewirkt haben; denn sie war wahrscheinlich nur partial und dauerte zufolge der Nachrichten darüber nur 120 Tage, konnte also keine beträchtliche neue Oberfläche zu Erde verschaffen ... Vermutlich erstreckte sie sich auch gar nicht einmal bis hierher (nach Scheppenstedt und Eitzum), sondern betraf bloß Mittelasien. Eher könnte man auf die große cimbrische Flut, welche einige hundert Jahre vor Christi Geburt fällt und welche den Norden von Europa betraf, schließen. Allein diese war gleichfalls nur vorübergehend und konnte also keine neue Erdrinde bilden. Wir müssen also (um den Nagel unter die Erde zu bringen) auf frühere Zeiten und auf Fluten zurückgehen, die größer und allgemeiner waren, oder länger anhielten. Oder wir müssen annehmen, daß das Meer in der Urwelt mehr zerteilt war als jetzt u.s.w.“ Das heißt, den Nagel auf den Kopf getroffen! Der Altertümler fährt fort: „Ich halte also die hier gefundenen eisernen Kunstsachen (es wurde nämlich außer dem blumigen Nagel mit hängenden Blättern auch noch eine eiserne Radfelge gefunden, ehrwürdiges Überbleibsel eines Urwagens, welche Radfelge aber ein dummer Bauer „so wenig geachtet hat“, daß er sie an einen Schmied gegen ein paar Nägel vertauschte) für Überreste einer frühern Welt, als die unsere ist ... Waren die Verfertiger dieser Kunstsachen, die Ureinwohner von Deutsch – land, auch keine Zeitgenossen der Mammuts, so muß man ihnen doch wenigstens eine Zeit einräumen, die zwischen beiden, der jetzigen Welt und der Urwelt, mitten inne lag, und wo die Erde auch schon Menschen zu Bewohnern hatte ... Ist es nicht zu bedauern, daß eine so gebildete Welt untergegangen und in den Fluten ihr Grab finden mußte? Wie viele Kunstsachen und Kostbarkeiten mögen mit ihr zugleich zu Grunde gegangen sein. Aber wird es uns einmal besser ergehen? Werden nicht auch unsere Werke und Kunstschätze wieder zur Grundlage dienen, worauf eine neue Welt gegründet wird? stat sua cuique dies“ – – Das ist das Lied vom eisernen Radnagel aus der Urwelt, der bei Eitzum in Deutschland, ohnweit Scheppenstedt, am Elenwalde, acht Fuß unter der Erde gefunden worden ist!

Carl Ludwig Börne

Carl Ludwig Börne