Das Wiederauffinden der Burg Stargard und der Jungfernbrunnen daselbst.

Aus: Mecklenburgs Volkssagen. Band 3
Autor: Gesammelt und herausgegeben von M. Dr. A. Niederhöffer, Erscheinungsjahr: 1860
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Sage, Volkssage, Stargard, Wenden, Güstrow
Eine kurze westlich von der kleinen Stadt Stargard liegen, auf der bedeutendsten der sie umgebenden steilen Anhöhen, die Überreste der altehrwürdigen Feste gleichen Namens.

Schon im grauesten Altertum stand hier, an Stelle der jetzigen, eine wendische Burg, auf der auch, unter anderen heidnischen Herrschern, etwa um das Jahr 322 vor Christi Geburt, Anthyrius oder Anthur I. König der Wandalen und wahrscheinlicher Ahnherr der jetzigen Großherzöge von Mecklenburg, residiert haben soll.

Uralt, wie die Burg Stargard, ist auch ihr Name. Derselbe ist nämlich ebenfalls wendischen Ursprungs und heißt auf Deutsch soviel als Altenburg oder alte Burg.

Nach Ausrottung des heidnischen Wendentums und Einführung der Christenlehre soll nach langem, langem Vergessen die alte Burg Stargard zuerst wieder durch einen Jäger aufgefunden worden sein. Dieser verfolgte, wie die Sage erzählt, durch die damals ganz mit Wald und Gebüsch bedeckte, fast undurchdringliche Gegend einen Hirsch mit goldenem Halsbande, der sich endlich in die Ruinen genannter Burg flüchtete und so zu ihrer Wiederentdeckung führte.

Bald nach Wiederauffindung der alten wendischen Burg Stargard erhob sich auf ihren Trümmern eine neue christliche Feste, welche vom Jahre 1258 — wo die Markgrafen von Brandenburg ihre Länder teilten und der jüngere Markgraf Otto III. die Herrschaft Stargard*) erhielt — bald bleibend, bald vorübergehend Residenz der verschiedenen Beherrscher des Landes Stargard wurde und dies im Ganzen auch bis 1475, dem Jahre des gänzlichen Aussterbens der Mecklenburg-Stargardi’schen Linie **), blieb.

*) Durch eine unglückliche Schlacht verloren 1182 die Herzöge von Pommern das Land Stargard an die Markgrafen von Brandenburg, in deren Besitz es bis zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts blieb. 1302, nach dem Tode des letzten Markgrafen von Brandenburg-Stargard, Albrecht, dessen Tochter Beatrix seit 1290 mit Fürst Heinrich II. oder dem Löwen von Mecklenburg — siehe Anmerkung S. 164 zweiten Bandes — vermählt war, kam die schon in grauer Vorzeit einmal den Vorfahren des mecklenburgischen Fürstenhauses gehört habende Herrschaft Stargard wieder in dessen Besitz.

**) Ulrich II. war der letzte Herzog von Mecklenburg- Stargard. 1466 zur Regierung gelangt, starb er schon 1471 ohne Hinterlassung männlicher Erben und mit den Worten: „Um vier Bretter und ein Leichentuch also hab' ich gekämpft und gerungen!" — Sein Besitztum ging nun auch an das herzogliche Haus Mecklenburg-Schwerin über, das hierdurch, da alle sonst blühenden mecklenburgischen Fürstenlinien zu dieser Zeit ausgestorben waren, in alleinigen Besitz sämtlicher mecklenburgischen Stammlande gelangte und sie also auf kurze Zeit wieder einmal vereinigte.


Ulrichs Gemahlin, Katharina, Fürsten Wilhelms von Mecklenburg-Wenden oder Werle Tochter — derselbe starb 1486 und war mit ihm ebenfalls das alte Mecklenburg-Werle’sche Fürstengeschlecht erloschen — wohnte aber noch bis zu ihrem 1475 erfolgten Tode auf Burg Stargard, nach welcher Zeit denn letztere aufgehört hat fürstliche Residenz zu sein.

Nach dieser Zeit verfiel die Feste Stargard immer mehr und mehr, bis denn endlich auch im Jahre 1807 der obere Teil des allen Warteturms wegen Baufälligkeit abgetragen werden musste. Aus rühmlicher Pietät aber für seine glorreichen Vorfahren und zu ihrer — und damit zugleich auch zu seiner eigenen — Ehre und Verherrlichung ließ der jetzt regierende, kunstsinnige Großherzog Georg von Mecklenburg-Strelitz*) im Jahre 1823 den alten Warteturm oder Bergfried in seiner vollen Höhe und ursprünglichen Form wiederherstellen. Und so erhebt denn auch heute noch, wie schon vor Jahrhunderten, die berühmte alte Burg Stargard stolz ihr Haupt und ragt hoch hinaus über die Herrschaft Stargard, bis weit nach Pommern hinein, uns an längst vergangene Zeiten und Geschlechter erinnernd.

*) Georg I., fünfter Regent und zweiter Großherzog von Mecklenburg-Strelitz — siehe Anm. 2, S. 210 zweiten Bandes, über die Entstehung des Herzogtums Mecklenburg-Strelitz — wurde am 12. August 1779 geboren und trat nach dem Tode seines Vaters, Karl II., am 6. November 1816 die Regierung genannten Großherzogtums an.

Am Fuße des Schlossberges, auf dessen Spitze die alte ehemalige Fürstenresidenz thront, lag vor diesem, zwischen ihm und dem Städtchen Stargard der sogenannte Jungfernbrunnen, dessen Stelle jetzt nur noch eine Linde bezeichnet, die aber auch noch heute, wegen der sich daran knüpfenden schönen Sage, vielfach von Fremden besucht wird.

Diese Sage berichtet uns, dass vor uralten Zeiten die junge, bildschöne Tochter des damals auf der Burg Stargard regierenden wendischen Königs oder Fürsten ein Liebesverhältnis mit einem ebenfalls sehr schönen, jungen Rittersmann hatte. Da nun der Liebhaber der Prinzessin nicht ebenbürtig war und deshalb auch keinen freien Zutritt zu ihr hatte, so konnten sie sich nur heimlich sehen und sprechen. Ihre heimlichen Zusammenkünfte fanden gewöhnlich in der Stille der Nacht statt, und zwar an einem am Fuße des Schlossberges liegenden, von duftenden Linden umschatteten Born — dem später so berühmt gewordenen sogenannten Jungfernbrunnen — wo sie sich dann, unbeobachtet und unbelauscht, wieder und wiederum ihre reine Liebe gestanden und einander Trost und Mut zusprachen.

Wahrscheinlich erfuhren die fürstlichen Eltern der jungen Prinzessin etwas von ihren nächtlichen Entfernungen aus dem Schlosse, genug, der Turmwächter wurde befehligt, Niemanden mehr nach Toresschluss aus der Feste zu lassen, es sei auch, wer es wolle. Doch die schöne Prinzessin bat den alten Wächter so rührend und flehentlich, dass er ihr's nicht abschlagen konnte, sie, trotz des Befehls seines strengen Gebieters, mitunter nach Toresschluss aus der Burg schlüpfen zu lassen.

Wieder sollte einmal eine nächtliche Zusammenkunft beider Liebenden an dem bewussten Orte stattfinden. Die Prinzessin war diesmal eher zur Stelle und erwartete mit hochpochender Brust die Ankunft des geliebten Jünglings. Da stürzte plötzlich statt dessen ein wildes Getier aus dem Gebüsch hervor. Erschreckt floh die Prinzessin und sah nicht, wie sie in ihrer Hast ihren Mantel bei dem Brunnen zurückgelassen. Das wilde, von Schmerzen gepeinigte Tier aber bemächtigte sich des Mantels, warf sich darauf und eilte dann mit seinen Jungen davon.

Gleich hiernach erschien auch der junge Ritter auf dem Platze; statt der Geliebten fand er hier aber nur ihren Mantel, mit Blut befleckt und in den Boden getreten. Wilde Verzweiflung und Entsetzen ergriff den Armen, und in dem Wahn, die so innig und wahr von ihm Geliebte und Angebetete sei von einem wilden Tiere zerrissen und das Blut auf dem am Boden liegenden Mantel sei das ihrige, riss er sein Schwert aus der Scheide und bohrte es sich tief ins treue Herz.

Während dies Schreckliche geschah, eilte die vor dem wilden Tiere fliehende Prinzessin immer tiefer in das Dickicht hinein. Ihre Sehnsucht und unbegrenzte Liebe zu dem schonen Jüngling ließen sie jedoch schnell wieder alle Furcht vergessen, und bald war sie auf dem Rückwege zum Born, wo jetzt vielleicht schon der Geliebte auch ihrer mit Sehnsucht harrte.

Doch welch fürchterliches Schauspiel bot sich hier ihren Blicken; der so Heißgeliebte lag auf ihrem zurückgelassenen Mantel, tot, mit durchbohrtem Herzen, das blutige Schwert an seiner Seite. Der Unglücklichen wollte fast die Brust zerspringen vor übergroßem Schmerz, Wild sich die Haare zerraufend und laut schreiend warf sie sich über die blutige Leiche; dann raffte sie sich wieder empor, ergriff schnell des Geliebten Schwert und stieß es auch sich tief, tief in die Brust. —

Am nächsten Tage, als alles das Grässliche dieser Nacht bekannt wurde, da ließ der hierdurch in tiefste Betrübnis und größten Zorn versetzte Fürst den alten Turmvogt ergreifen und ihn zur Strafe seines Ungehorsams, die Prinzessin gegen sein Verbot bei Nacht aus der Burg entlassen zu haben, bei lebendigem Leibe schinden, ihm, wie ein sehr altes hierüber vorhandenes Lied besagt, etzliche Riemen aus der Haut schneiden, ihn gleich einem Fisch zerkerben und also jämmerlich richten.

Die beiden unglücklichen Liebenden aber wurden unter den Linden beim Brunnen begraben — der von dieser Zeit den Namen „der Jungfernbrunnen" führte —, und der ganze Platz mit einer Mauer umgeben. Aus dem Schwerte des so früh verblichenen Ritters bog man eine Trinkkelle und befestigte sie mittelst eines Kettchens an den Brunnen. Den Armen aber wurde der Schlüssel zur Eingangspforte dieses Ortes gegeben und ihnen gleichzeitig erlaubt, von den Fremden, welche häufig die merkwürdige Stätte zu besehen kamen, alldort ein Almosen sammeln und ihnen aus der Kelle einen frischen Trunk Wassers anbieten zu dürfen.

Als unter der Regierung Herzogs Ulrich III. von Mecklenburg-Güstrow*) — zu dessen Gebiete auch die Herrschaft Stargard gehörte— der Jungfernbrunnen und die ihn umgebende Mauer arg verfallen war, da ließ seine Gemahlin, Elisabeths), ersteren wieder neu ausmauern und eine neue Mauer an Stelle der alten setzen und diese auch noch mit ihrem fürstlichen Wappen zieren.

*) Herzog Ulrich III. wurde am 22. April 1527 geboren, regierte vom 17. Februar 1555 und starb am 14. März 1603.
**) Herzogin Elisabeth, eine Tochter des Königs Friedrich I. von Dänemark, wurde am 14. Oktober 1524 geboren und starb am 15. Oktober 1586, Seit dem 26. August 1543 war sie zuerst mit dem Prinzen Magnus von Mecklenburg-Schwerin — geboren am 4. Juli 1509, gestorben am 28. Januar 1550 — vermählt, nach dessen Tode vermählte sie sich aber zum zweiten Male mit Herzog Ulrich III. von Mecklenburg-Güstrow im Jahre 1556.


Leider hat dies gute Beispiel der edlen Herzogin Elisabeth später keine Nachahmung wieder gefunden; und so ist denn im Laufe der Jahre Brunnen und Mauer nach und nach wiederum gänzlich verfallen, weshalb man in neuerer Zeit auch die letzten Rudera davon ganz entfernt und den Platz geebnet hat. Wie schon zu Anfang erwähnt, bezeichnet somit also jetzt nur noch eine Linde den weit über Mecklenburgs Grenzen hinaus bekannten Ort und erinnert den Vorüberziehenden an die uralte Sage vom Stargarder Jungfernbrunnen, die trotzdem bis zur Stunde noch lebhaft und frisch, namentlich im Gedächtnisse des Volkes der mecklenburgischen Herrschaft Stargard, fortlebt und dem Fremden von Alt und Jung ausführlich erzählt wird.

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Nach ein Paar alten, diese ganze Begebenheit behandelnden Aufzeichnungen von Latomus und Schedius, sowie nach dem bereits schon erwähnten sehr alten Gedichte und dem, was das Volk noch heute hierüber erzählt, ist Vorstehendes, einige kleine Abweichungen und Verschiedenheiten abgerechnet, der Hauptinhalt der schönen Sage vom Stargardschen Jungfernbrunnen. Diese kleinen Abweichungen und Verschiedenheiten bestehen namentlich darin, dass von einer Seite erzählt wird, die junge Prinzessin sei durch eine Löwin zur Flucht getrieben worden — auch Latomus behauptet dies —, was indessen aus nahe liegenden Gründen wohl sehr zu bezweifeln ist; während nach einer anderen Erzählungsweise — sowie auch nach Schedius' Aufzeichnung — die Prinzessin, durch ein Gespenst, einen Geist, oder graues Männlein erschreckt, mit Hinterlassung ihres Schleiers oder Obergewandes floh, das durch die rasche Flucht mit Blute befleckt worden war, welches der Prinzessin aus ihrer in dem dornigen Gebüsche verwundeten Nase entquollen. etc

Schedius gibt endlich auch bestimmte Namen der betreffenden handelnden Personen, sowie noch einige nähere Nebenumstände an. Nach ihm hat die Prinzessin Theodora geheißen und ist eine Tochter des Königs Alberich II.*), Herrn der Herulen und Obotriten, und dessen Gemahlin Syrista gewesen. Ihr Anbeter aber war ein britischer Ritter, Graf Turturell mit Namen, der mit seinem Herrn, König Arthur von Britannien, nach Stargard gekommen war.

König Alberich II. soll nämlich König Arthur gegen die Schweden, um aus ihren Händen Dänemark zu befreien, Beistand geleistet haben und dafür aus Dankbarkeit von Letzterem — in dessen Gefolge sich eben Graf Turturell befand — besucht worden sein. Der Graf, der sich heftig in die schöne Theodora verliebt hatte und dessen Liebe ebenso von ihr erwidert wurde, hatte sich gleichzeitig auch das Vertrauen und die Freundschaft des Prinzen Johann, Bruders der Theodora, zu erwerben gewusst, und so blieb er denn auch noch nach dem Abzuge seines Gebieters auf einige Zeit am stargardschen Hoflager. Da aber bald die Königin Syrista etwas von der Neigung ihrer Tochter zu dem schönen britischen Ritter, sowie auch von ihren heimlichen Zusammenkünften mit demselben erfahren, sie aber Theodora schon lange dem Prinzen Zinkovit, ihres Bruders, des Königs von Polen Sohn, als Gattin bestimmt hatte, so suchte sie den Grafen Turturell sobald als möglich wieder von ihrem Hofe zu entfernen. Es gelang ihr dies auch vollkommen; nach wenigen Tagen schon verabschiedete sich der fremde Rittersmann bei König Alberich und seiner Gemahlin, unter dem Vorgeben, nun wieder nach seiner Heimat zurückziehen zu müssen. Vorher hatte er aber eine heimliche Unterredung mit seiner heißgeliebten Theodora gehabt und von ihr die Zusage erhalten, in dieser Nacht nach dem Brunnen am Fuße des Schlossberges zu kommen, um alsdann mit ihm nach Britannien zu entfliehen. Bei dieser also verabredeten heimlichen Zusammenkunft ereignete sich nun das schon bekannte Unglück und führte das tragische Ende beider Liebenden herbei.

*) König Alberich II. regierte etwa um 514 und starb wahrscheinlich im Jahre 527.