Das Seebad Heringsdorf 1860

Aus: Balneologische Zeitung. Korrespondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Hydrologie. Band 9
Autor: Posner, Dr. (?) Sanitätsrat, Berlin, Erscheinungsjahr: 1860
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mecklenburg-Vorpommern, Usedom, Heringsdorf, Ostseebad, Badesaison
Unter allen Ostseebädern dürfte sich keines einer für Badezwecke so günstigen und in ästhetischer Beziehung so reizenden Lage erfreuen, wie das liebliche Heringsdorf. An der Westküste der Insel Usedom, etwa 2 Stunden von dem Hafenorte Swinemünde gelegen, erhebt sich der bis dahin flache Strand zu einer nicht unbedeutenden Höhe, von deren mit dichten Buchenwaldungen gekröntem Gipfel in malerischer Gruppierung die Häuser des freundlichen Badeortes herabschauen, einen weiten Blick über die majestätische Bucht gewährend, welche hier die Ostsee zwischen den Inseln Usedom und Wollin bildet. Während nach Norden die unbegrenzte Meeresfläche sich dehnt, gewährt nach Osten hin die Wolliner Küste mit ihren waldbedeckten Höhen und den weissen Häusern und Villen des aufblühenden Misdroy dem Auge einen willkommenen Ruhepunkt, und schließt nach Süden den Hafendamm von Swinemünde und dessen stolz hervorragender Leuchtturm das zauberisch schöne Panorama ab.

Der von der Natur angelegte großartige Park, die prachtvollen Baumgruppen, welche die Häuser Heringsdorfs umgeben, der Blick über wohl angebaute Täler, welche von dem sandigen Dünengürtel gegen das Herandringen des verzehrenden Elementes geschützt sind, die spiegelnden blauen Landseen, welche, einem Schmucke blitzender Edelsteine gleich, das Innere der Insel durchziehen, gewährt einen wechselvollen Reiz, welcher den wenigsten Strandkurorten eigen ist, in denen meistens der Anblick des Meeres allein die Kosten der landschaftlichen Szenerie tragen muss, während man sich hier mit geringem Aufwand von Phantasie in eine Gebirgsgegend versetzt glauben kann, welche mit der ihr eigenen Lieblichkeit den Zauber des ewig mit neuer Schönheit vor uns auftauchenden Meeres verbindet.

Was wir so eben als Elemente der malerischen Schönheit Heringsdorfs anzudeuten versucht haben, macht sich auch gleichzeitig als wertvolle Bedingung geltend, um den Aufenthalt in dem reizenden Badeorte zu einem möglichst gesundheitsgemässen zu gestalten. Dem scharfen und verletzenden Andringen heftiger Luftströmungen stellt sich der nördlich von Heringsdorf gelegene und ziemlich weit in die See hineinragende „lange Berg" entgegen, während noch intensivem Schutz der Umstand verleiht, dass die meisten Wohnhäuser im Walde wie eingebettet liegen, so dass das stärkste Wehen der Seebriese hier kaum als fächelnder Luftzug empfunden wird. Gleichzeitig gewährt diese Lage noch den Vorteil einer ziemlich konstanten Temperatur, ein Vorteil, von dem nur wenige der größeren, auf der Höhe gelegenen Wohnhäuser, bei deren Anlage man mehr den Blick auf das freie Meer zu gewinnen suchte, ausgeschlossen sind. Wir haben bei bedeutend hohem Thermometerstand stets eine erquickende Kühle, bei schnellem Sinken der Temperatur eine eben so behagliche, lauschige Wärme in den vom Walde umschlossenen Wohnhäusern wahrgenommen, dass wir auf diesen Umstand einen für den Aufenthalt in diesem Badeorte und bei der Auswahl der Wohnung nicht geringen Wert legen möchten. Durch diese Schutzkraft aber, mit welcher der Wald sich um Heringsdorf lagert, und es vor den Unbilden der Witterung sicher stellt, ist keineswegs der erfrischenden und belebenden Seeluft der Zugang abgeschlossen, nur wenige Schritte von den Häusern entfernt und wenn auch nicht überall sichtbar, so doch stets dem Ohr vernehmlich, drängen im endlosen Spiele die rauschenden Wogen auf den Strand und erfüllen die Luft mit jenem Grade von Frische und Feuchtigkeit, den wir mit so großem Behaglichkeitsgefühl einatmen und der hier, mit dem duftigen Hauch des Laubholzes, mit den würzigen Exhalationen der Kiefer gemischt, eine Luftkonstitution herstellt, wie sie in derselben Reinheit und Kräftigkeit sich schwerlich anderswo wieder finden dürfte.

Dieselbe Gunst der Natur, welche Heringsdorf mit so reichen Vorzügen ausgestattet, hat auch über der Formation seines Strandes gewaltet. In breitem Gürtel die waldige Höhe umziehend, flacht er sich zum Meere hin in so sanfter und allmählicher Weise ab, dass er an den meisten Stellen in ziemlich grosser Entfernung vom Ufer kaum eine Tiefe von 5' erreicht; in durchsichtiger Klarheit rollen die Wellen über den von feinem Kiessande gebildeten Grund, der, nirgends von wuchernder Vegetation, von schlammigen Alluvien, von scharfen Steinen unwegsam gemacht wird und somit alle für das Seebad erforderlichen Annehmlichkeiten und Postulate besitzt. Die Strömung des Meeres ist den größten Teil der Badezeit hindurch in befriedigendem Grade vorhanden, oft sogar recht beträchtlich, der Salzgehalt des Wassers bei der bedeutenden Entfernung von der Eintrittsstelle der Swine, ziemlich groß, die Gelegenheit zur Strandpromenade mit den obligaten Divertissements des Muschelsuchens etc. zur Hand und bei windigem und zu kühlem Wetter selbst durch eine geschützte Wandelbahn erweitert, welche das dichte Laubdach des Waldes darbietet.

Unter solchen Bedingungen kann es nicht Wunder nehmen, dass Heringsdorf, obschon seit wenigen Dezennien erst für balneologische Zwecke bekannt und früher gewissermaßen nur als Kolonie und Filiale von Swinemünde geltend, den Mutterort längst überflügelt und in Schallen gestellt hat. Bei einem Vergleiche mit diesem letztgenannten Orte kann es nicht schwer lallen, zu beurteilen, nach welcher Seite hin die Entscheidung sich neigt. Swinemünde mit seinen von der Sonne durchglühten, schattenlosen Straßen, in denen der geringste Lufthauch erstickende Staubwirbel auftreibt, mit dem zwar bunten, aber störend geräuschvollen Leben seines Schiffsverkehrs, mit den empfindlichen Eskalationen der Werft, der Maschinenfabriken der Schiffe und des stagnierenden Hafenwassers, mit der halbstündigen Entfernung vom Strand, zu dem man nur ermüdet und mit Zeit- oder Geldopfern gelangen kann, mit dem vom Süsswasser der Swine diluierten Seewasser — und dagegen Heringsdorf mit seinen schattigen Laubgängen, seiner fast heiligen Ruhe, seiner reinen, würzigen Luft, dicht von den Meereswellen umspült — wer könnte da in seiner Wahl zögern, wenn es ihm anders darum zu tun ist, Genesung und Erholung im Badeorte zu finden. An rauschendem Vergnügen, an Gelegenheit zur Entfaltung und zum Anschauen luxuriösen Treibens, an all dem äußeren Beiwerke und Apparate, mit welchem das moderne Badeleben sich umgibt, mag Swinemünde, wir geben das gern zu, reicher sein als Heringsdorf, das von alle dem eben gar nichts besitzt, und darum wird die Badegesellschaft, welche dieses in sich vereinigt, stets eine eigentümlich geartete sein und mit einer gewissen Resignation alle Ansprüche auf gesellige Anregung von Außen her aufgeben und mit stiller und befriedigter Hingebung an die Reize der Natur sich begnügen müssen.

Von diesem Standpunkte aus fällt es nicht schwer, sich die eigentümliche Richtung und Gestaltung zu erklären, welche das Heringsdorfer Badeleben gewonnen hat, das in seiner scharfen Ausprägung sich wesentlich von dem unterscheidet, welches uns an anderen Kurorten entgegentritt, und welches in seiner klösterlichen Stille, in seiner isolierenden Abgeschlossenheit allerdings nicht darauf eingerichtet ist, denjenigen, welche Zerstreuung und Genuss suchen, irgend welche Befriedigung zu bieten. Heringsdorf ist dadurch, und nicht mit Unrecht, in den Ruf gekommen, ein sehr einförmiger Ort zu sein und seinen Gästen keinerlei Schutz vor langweiliger Monotonie zu bieten, ein Ruf, welcher, wir mögen nicht entscheiden, ob die Ursache oder die Folge der sozialen Rangordnung ist, aus welcher sich die dortige Badegesellschaft konstituiert, und welche größtenteils aus einer Anzahl von aristokratischen Elementen besteht, die jeden profanierenden Kontakt mit der Bourgeoisie zu meiden suchen und in deren Umgebung sich der ahnenlose Eindringling unheimlich und verloren vorkommt, wenn er mit der Erwartung hingegangen, sich dort den Anschluss an ein gemeinsames Badeleben ermöglicht zu sehen. Ein solches ist, selbst bei den bescheidensten Ansprüchen, die man an dasselbe stellt, nicht vorhanden, jeder hat eben zu sehen, wo er bleibe und wie er mit sich und seiner Zeit fertig werde, und wem dazu die Ressourcen fehlen, wer es nicht vermag, lediglich mit dem Genuss der reichen Schätze, welche die freigebige Natur hier ausgebreitet, sich zu erfüllen, der wird allerdings einen Fehlgriff tun, wenn er seine Wahl auf Heringsdorf lenkt.

Der abgeschlossene Charakter, den Heringsdorf dadurch gewonnen hat, dass es das Schwert- und Kunkellehen des pommerschen und märkischen Adels geworden, prägt sich entschieden in seiner äussern Erscheinung aus. Die Häuser sind fast nirgends zu geselligen Gruppen vereint, jedes sucht sich vom andern in möglichst stolzer Entfernung zu halten und seine Umfriedigung vor unberufenem Eindrängen zu wahren. Nirgends haben wir so viele und sinnreiche Umschreibungen des altpreussischen „Zaruk" kennen gelernt, als in Heringsdorf, wo eine eigene Akademie des Inskriptions für Anfertigung all' der Täfelchen und Warnungszeichen zu sorgen scheint, welche dem arglosen Wanderer auf Tritt und Schritt entgegen starren. Hier winkt Dir eine einladende Treppe zum Strande herunter, aber der schon gehobene Fuß bebt vor der Inschrift „Verbotener Weg" zurück; der nächste Fußpfad, der Dich von der Höhe ins Dorf zurückleiten könnte, ist als "Privatweg" gekennzeichnet; irgend ein schöner Punkt, eine freundliche Baumgruppe lockt Dich an, aber vor der geöffneten Pforte droht als Wächter des verbotenen Paradieses die Warnungstafel „Kein Eingang". Dieses jungherrliche Behagen an der Ausschließlichkeit des eigenen Besitzes macht sich bis auf die Bänke geltend, welche hier und da am Strande und auf den Dünen aufgestellt sind und welche der uneingeweihte Besucher leicht als Zeichen der Fürsorge betrachtet, welche die Badebehörde für die Gäste hegt. Wehe Dir, wenn Du es, von diesem naiven Glauben missleitet, wagst Deine müden Glieder auf einem dieser Ruheplätze auszustrecken; der eifersüchtige Besitzer wird Dir bald in der unzweideutigsten Weise zu verstehen geben, dass diese Bank für ganz andere (nach dem Volksglauben sogar anders pigmentierte) Partien bestimmt sei. Siehst Du Dir dann den Schauplatz der eben erlebten realen oder symbolischen Exmission genauer an, so wirst Du finden, dass irgend ein historischer Namen oder doch wenigstens die Bezeichnung „Eigentum" auf dem sonst sehr ursprünglich gezimmerten Bau prangt, um ihn vor jeder plebejen Sitz- und Besitzergreifung zu bewahren. Dieses Inschriften-Wesen, das sich bis in die wundersamsten Details erstreckt (und das uns oft an jenes famose Bild aus den Fliegenden Blättern erinnerte, wo jeder Stuhl im kleinstädtischen Wirtshauszimmer, ja selbst der Rücken der Kellnerinnen als „bestellt" bezeichnet war), ist ganz dazu geeignet, ein polizeilich geschultes Gemüt in stete Beängstigung zu versetzen und es mit einer unausgesetzten Furcht vor verbotenen Wegen und Handlungen und der darauf folgenden strafenden Vergeltung zu erfüllen. Von jener großartigen und liberalen Anschauungsweise, welche die Freude am eignen Besitze dadurch zu erhöhen weiß, dass sie ihn dem fremden Mitgenuss öffnet, halten sich die Heringsdorfer Erbgesessenen frei zu erhalten gewusst, es sei denn dass sie für die eine oder andere Saison um einen nicht allzu knapp bemessenen Mietpreis fremden Gästen die Teilnahme an einem bescheidenen Winkel ihres Paradieses gönnen.

Entsprechend dem lokalen Charakter, welchen Heringsdorf an sich trägt, ist der Ton, der hier zur Geltung gekommen und welcher traditionell von Saison auf Saison sich weiter erbt. Wir haben noch selten einen Badeort gefunden, in welchem es so herrnhutisch gesittet, so methodistisch still zuginge, wie hier; von einem freundlichen Anschließen, von einer behaglich heitern Geselligkeit ist hier nirgends die Rede, „hier treibt sich jeder an dem andern stumm und kalt vorüber und fragt nicht nach seinem Schmerz". Eine Badegesellschaft als eine Totalität existiert nicht, dieselbe besteht eben nur aus einer Sammlung von Familien oder Individuen, die mit größter Sorgfalt bemüht sind, sich von einander fern zu halten. Wer das fröhliche und bewegte Strandleben anderer Badeorte kennt, den überläuft es unheimlich, wenn er die Heringsdorfer Kurgäste in stiller Abgeschlossenheit ihre Strandpromenade abarbeiten sieht, die beiden Kulminationspunkte der Heringsdorfer Geselligkeit, das Gesellschaftsbaus, dieses lucus a non lucendo, und die Försterei vereinigen zwar zuweilen eine größere Anzahl von Badegästen in ihren Räumen, die aber dann eben auch nur das Ansehen irgend eines großstädtischen Kaffeegartens haben, in dem Jeder seine Portion Luft und materieller Erfrischung genießt und dabei eifrigst bemüht ist, von dem Dasein anderer Menschen nicht die geringste Notiz zu nehmen. Dunkle Sagen berichten zwar auch von „Réunions", die allwöchentlich im sogenannten Gesellschaftshause stattfinden sollen, und von tollkühnen Menschen, die es gewagt haben, in diese geheiligten Mysterien einzudringen — nähere und historisch begründete Data über diese esoterischen Gesellschaften, zu denen sich die stiftsfähigen Eingebornen der vor- und hinterpommerschen Gauen zusammenfinden, zu ermitteln, war uns unmöglich, da von unseren Heringsdorfer Zeitgenossen keiner die Verwegenheit hatte, als frecher Eindringling sich dieser Artus'schen Tafelrunde zu nahen und sich der langsamen aber sicher wirkenden Marter gerümpfter Nasen, flüsternder Redensarten und siechender Blicke auszusetzen.

Wie kommt es aber, wird man fragen, dass die Badedirektion, oder wie immer die die Angelegenheiten des Bades leitende Behörde heißen mag, nicht bemüht ist, dem Badeleben eine gewisse Konzentration zu geben, ihm durch äußere Veranstaltungen einen geselligen Ausdruck zu verleihen? Auf diese Frage vermögen wir deshalb nicht zu antworten, weil uns während unsers Heringsdorfer Aufenthaltes nichts von einer Badebehörde bekannt geworden ist und dieselbe, wenn sie existiert, es verstehen muss, sich in den Schleier des tiefsten Geheimnisses zu hüllen. Allerdings haben wir eine Verkaufsstelle für die Badebilletts ausfindig gemacht [von dem in fast allen Bädern üblichen Brauche, ärztlichen Gästen die Badeanstalten gratis zur Disposition zu stellen, hat sich das patriarchalische Heringsdorf frei zu erhalten gewusst],*) sonst aber nirgends die Spur irgend welcher offiziellen Einmischung in die Verhältnisse des Badelebens wahrgenommen. Eben so wenig hat die Privatindustrie es unternommen, den Heringsdorfer Badegästen zur Hilfe zu kommen und ihnen einen Sammelpunkt zu geben, an dem sie sich finden und kennen lernen. Allerdings existiert ein sogenanntes Gesellschaftshaus, um dessen Lage auf lieblicher Höhe mit freier Aussicht auf das Meer es von Fürstenschlössern beneidet werden könnte — aber auf dieses Darbieten eines prachtvollen, von der Natur gemalten, Landschaftsbildes beschränkt sich auch Alles, was dieses Gesellschaftshaus, in dem der Wirt und ein menschenscheuer Kellner in wenig gestörter Einsamkeit walten, zu leisten im Stande ist. Wer von der Bezeichnung Gesellschaftshaus sich verleiten lässt, an den Komfort eines Hotels, an freundlich geschmückte Säle, an kulinarische Genüsse etc. zu denken, der wird diesen Leichtsinn, namentlich in letzt erwähnter Beziehung, schwer zu büßen haben. Merkwürdig genug ist es übrigens, dass die überall wache und nach ihrem Vorteil spähende industrielle Spekulalion sich Heringsdorf, wo in dieser Beziehung noch vollkommener Urwald ist, noch nicht für ihre Zwecke ausersehen hat. Es ist dies vielleicht nur dadurch zu erklären, dass das Dorf unter der Herrschaft eines Grundbesitzers steht, über dessen Wiege zwar kein Helmbusch wehte, der sich aber doch schon genug feudale Gesinnung angeeignet hat, um jede Unternehmung, die sich auf seinem Gebiete entfalten will, mit einer nicht geringen Grundsteuer zu belegen; daher kommt es denn, dass in rührender Verbrüderung die verschiedenartigsten Geschäftsbranchen sich in den Händen eines einzigen zur Zahlung der bedeutenden Miete befähigten Kaufmanns finden, der sich an den Badegästen schadlos zu halten sucht und, nicht von der Geißel der Konkurrenz berührt, Zucker und Kaffee, Wein und Zigarren etc. zu Preisen und in Qualitäten verkauft, von denen sich die kühnste merkantilische Spekulation, wie die düsterste Phantasie des Gourmands nichts träumen lässt.

*) Mit besonderer Auszeichnung darf man in dieser Beziehung der böhmischen Bäder gedenken, in welchen nicht bloß Ärzte von der Kurtaxe, den Gebühren für Bäder etc. befreit sind, sondern wo man auch ihren Angehörigen die größte Rücksicht angedeihen lässt. So verweigerte man z. B. in Franzensbad im vergangenen Sommer der Witwe eines Kollegen die Annahme irgend welcher Zahlung für die von ihr genommenen Bäder, ohne dass sie selbst eine derartige Vergünstigung prätendiert hätte.
Die Redaktion der Baln. Ztg., die bisher a. v. O. den Usus über Freibäder für Ärzte mitgeteilt hat, wiederholt hier ihre Bitte um gefällige derartige Mitteilung aus allen Bade- und Kurorten.


— Neben diesem monopolischen Inhaber des Heringsdorfer Loco-Geschäftes findet keine weitere Entfaltung industrieller Tätigkeit statt, man müsste denn eine Reihe von Verkaufsbuden hierher rechnen, eine Art Bazar, welcher den freiesten Platz des Dorfes schmückt; von diesen Buden, drei an der Zahl, ist die eine mit den obligaten Glassachen und Muschelkästchen gefüllt, während in der zweiten ein Schuhflicker sein Handwerk treibt, und die dritte sich nur zuweilen öffnet, um durch die sterblichen Überreste verblichener Hammel die Kauflust des Publikums zu locken.

Wenn, wie wir ausgeführt haben, Heringsdorf in Bezug auf gesellige Anregung, auf den Genuss eines freundlichen und heitern Badelebens auch den bescheidensten Ansprüchen kein Genüge bietet, so ist es eben so wenig im Stande, denjenigen Forderungen zu entsprechen, welche wir in den nächstliegenden Angelegenheiten des materiellen Lebens, wenn wir nicht gerade den Grundsätzen der Stoa oder des Zynismus huldigen, aufzustellen gewohnt sind. Der aus seinen häuslichen Umgebungen und Gewohnheiten entfernte Kurgast darf vom Badeorte verlangen, dass ihm dort für sein gutes Geld eine komfortable Wohnung, eine schmackhafte und nährende Kost geboten werde und wir halten es für eine der wesentlichsten Bedingungen zum Gelingen jeder Bade- und Brunnenkur, dass in dieser Beziehung den Wünschen und Bedürfnissen der Gäste Rechnung getragen werde. Was nutzt ihnen die gesteigerte Esslust, welche die Seeluft und das Bad erregt, wenn sie keine Gelegenheit findet, sich tatsächlich zu bewähren, was nutzt die alle Kräfte anspannende Bewegung, wenn dem Bedürfnisse nach Ruhe ein allen Gesetzen der Bequemlichkeit Hohn sprechendes, alle Rücksichtnahme auf Körper-Dimensionen verleugnendes Lager verkümmernd entgegen tritt. Wäre Heringsdorf eine Erziehungsanstalt für junge Spartaner, deren körperliche und psychische Ausbildung durch Abhärtungen und Entbehrungen aller Art gefördert werden sollte, so könnten wir ihm allerdings das Zeugnis nicht versagen, dass es diesem idealen Ziele in einer Weise nachstrebt, welche die disziplinarischen Hilfsmittel der Waisenhäuser, Besserungsanstalten und ähnlicher menschenfreundlicher Instituten in Schatten stellt. Da uns aber nicht bewusst, dass diese pädagogische Methode eine so unbedingte Anwendung für balneotherapeutische Zwecke gestattet, können wir uns auch mit derselben im Namen derjenigen Kurgäste nicht einverstanden erklären, welchen ein günstiges Geschick den Besitz einer eigenen Villa in Heringsdorf und eines mit den Gesetzen der Kochkunst vertrauten dienenden Individuums versagt hat und die darauf angewiesen sind, ihre Leiber den Prokrustesbetten der Heringsdorfer Eingebornen und ihren Magen der Diskretion jener Tables d'hôte hinzugeben, welche dieses kindliche Vertrauen nur mit der süßen Alternative zwischen Hunger und Indigestion zu lohnen verstehen. — Im Allgemeinen werden die eben berührten Übelstände dadurch weniger fühlbar, dass die zu dem Sommerexil von Heringsdorf verurteilten Familien sich zu dieser Reise mit allem Auswanderungsapparate versehen, welcher für eine Expedition nach den amerikanischen Prärien nicht umfangreicher und schwerfälliger zusammengesetzt sein könnte und, für die Zeit ihrer Verbannung verproviantiert, eine Nomadenwirtschaft etablieren, welche sie vor den kulinarischen Attentaten der Heringsdorfer Gastgeber sicher stellt. Wehe aber dem vereinzelnden Individuum beiderlei Geschlechts, das sich von unberechtigten Analogien mit anderen Badeorten verleiten lässt und als „einzelne Person" nach Heringsdorf geht, in der sichern Erwartung dort einer menschenfreundlichen Hand und gegen angemessenes Äquivalent die Sorge für seine Verpflegung übertragen zu sehen. Armer Sterblicher, resp. Sterbliche! Außer den Beschwerden des unfreiwilligen Trappistentums, zu denen Du leichtsinnig Dich verdammt hast, harren Deiner noch tausend Entbehrungen, auf die Du nicht gefasst sein konntest, und wenn Du nach Ablauf Deiner Strafzeit wieder in die Welt zurückkehrst, ohne dass Deine Zunge das Sprechen, Dein Magen das Vertrauen verlernt hat, so darfst Du mit vollem Rechte die kräftige Wirkung der Seebäder preisen, denen allein Du dies glückliche Resultat verdankst. — Dürften wir der tätigen Akademie des Inscriptions von Heringsdorf einen freundschaftlichen Rat geben, so wäre es der, an irgend einer Eingangsstelle zu diesem Paradiese noch eine Tafel anbringen zu lassen, mit den Worten „Sustine et abstine!" die sich hier passender ausnehmen würden, als auf dem Titelblatt einer österreichischen Kavalierbroschüre, und jedenfalls das Gute hätten, den arglosen Einwanderer auf das Schicksal vorzubereiten, dem er zu verfallen im Begriff steht.

Die ursprünglichen und von der Zivilisation nicht beleckten Verhältnisse Heringsdorfs dürfen jedoch keineswegs den Glauben rege machen, als gehöre dasselbe zu denjenigen Badeorten, welche sich durch ihre patriarchalische Wohlfeilheit auszeichnen und in denen der Kulturmensch für die Entbehrungen, die er zu erdulden hat, wenigstens durch die ökonomischen Vorteile entschädigt wird, die sein Aufenthalt dort mit sich führt. Der der finanziellen Ausbildung sehr zugängliche Sinn der Heringsdorfer Autochthonen hat sie schon längst in dieser Beziehung auf eine Entwicklungsstufe geführt, auf welcher sie die Rivalität mit den prachtvollsten Taunus-Bädern nicht zu scheuen haben. Die Preise der Wohnungen, der Nahrungsmittel etc. bewegen sich auf einer Skala, deren Höhe den Fremdling leicht vergessen lässt, wie Weniges und wie Schlechtes ihm dafür geboten wird, und die wahrscheinlich darauf berechnet ist, ihn in den süßen Wahn einzuwiegen, als sei er wirklich in komfortable Umgebungen geraten. Auch die Hausfrauen, welche an der Spitze der oben erwähnten Wanderwirtschaften stehen, berichten mit Grauen von den exorbitanten Preisen, welche ihnen der biedere Landbewohner für die in ihre Küche gelieferten Rohstoffe berechnet, und lernen bald die ganze Nichtigkeit der oft gehörten Phrase: „Für eine Familie koste der Aufenthalt in einem kleinen Ostseebade nicht mehr als der häusliche" verstehen. — Die an sich schon hohen Wohnungsmieten werden noch durch einen Umstand verteuert, welcher nicht bloß in Heringsdorf obwaltet und welcher in der eigentümlichen Zeitrechnung besteht, mit der die Strandbewohner den Sommer in zwei Hälften teilen, deren Wendepunkt in die ersten Tage des August fällt. Eine Familie, die den Juli und August, die heißesten Monate des Sommers, am kühlen Meeresufer zubringen will, und von dieser Zeitrechnung baltischen Stils nichts weiss, wird zu ihrem Schrecken einsehen, dass sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht hat, denn dieser bestimmt den Ablauf der Mietzeit mit dem der „ersten Saison", mit dem 5. oder 6. August; von da ab beginnt die zweite Saison und mit ihr die schöne Berechtigung, ein zweites, dem ersten ähnliches Mietquantum bezahlen zu dürfen, wenn man sich nicht zum Objekte einer durch den lokalen Usus geschützten Exmission gemacht sehen will. Eine Mietverabredung auf eine bestimmte Anzahl von Wochen findet nicht statt, nur auf je eine Saison werden die Wohnungen überliefert, wobei für die erste der Terminus a quo, für die letzte der Terminus ad quem nicht ins Gewicht fällt. Von der Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit dieses Brauches sind die Heringsdorfer Hausbesitzer, selbst wenn sie ihre eigentliche Wohnstätte in der Bannmeile von Berlin haben, so durchdrungen, dass keine menschliche Beredsamkeit, von den triftigsten logischen und juridischen Gründen unterstützt, sie darin wankend machen könnte.

Die uneigennützige und liebenswürdige Hingebung, mit welcher die Bewohner Heringsdorfs dem Fremden entgegengekommen, macht sich nicht bloß in den eben angedeuteten Beziehungen geltend, sondern durchdringt jede Berührung, in welche sie zu demselben treten. Die alte Theorie des Strandrechtes, an welcher die braven Uferbewohner mit ehrenwerter Zähigkeit hängen, ist auf die Verhältnisse des Badelebens mit vielem Glück und anerkennungswerter Konsequenz übertragen worden, und man tut Unrecht, wenn man sich gegen eine so alte und ehrwürdige Institution anlehnt und den biederen Pommern zu entziehen sucht, worauf sie historisch begründete Ansprüche haben. Ist es ihre Schuld, dass die Meereswogen keine zerschellenden Schiffe an die sandigen Ufer treiben und ihnen Gelegenheit geben, die wertvollen Ladungen zu bergen, und ist es nicht eine kompensatorische Tätigkeit der Natur, welche ihnen erholungs- und genesungsbedürftige Gäste zuführt, und diesen die Aufgabe zuweist, den Strand zu einem „gesegneten" zu machen? Und von diesem Segen wissen die guten, einfachen Insulaner die reichlichste und ergiebigste Nutzanwendung zu ziehen; jede Dienstleistung, die sie Dir erweisen, sei sie auch noch so geringfügig und einer andern bezahlten Leistung selbstverständlich zugehörig, wird Dir in Anrechnung gebracht oder bildet die Basis eines Trinkgeldanspruches.

Uns selbst begegnete die originelle Prätension, neben der teueren Wohnungsmiete, nachdem wir nicht bloß jede kleinste Handreichung mit dem üblichen Bakschisch honoriert halten, auch noch einen Thaler für die monatliche Benutzung eines Institutes auf der Rechnung figurieren zu sehen, welches als Wendepunkt des Stoffwechsels bezeichnet werden kann und dessen Erträgnisse für die Agrikulturbestrebungen der edlen Heringsdorfer ohnedies nicht wertlos sein dürften. Nur der tiefen sittlichen Entrüstung einer Hausgenossin, an welche der gleiche Anspruch gestellt wurde und welche gegen diese Verletzung aller Menschenrechte mit Energie protestierte, hatten wir es zu danken, dass dieser Posten, um dessen Erfindung die spekulativsten Hotelwirte unsere gute Dörflerin beneiden konnten (und der für vier vermietete Wohnungen und eben so viele Monate eine recht ergiebige Einnahmequelle geboten hätte), von unsrer Rechnung schwand.

Ostseebad Heringsdorf, Familienbad

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Ostseebad Heringsdorf, Kurhaus

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Ostseebad Heringsdorf, Strandpromenade und Kurhaus

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Ostseebad Heringsdorf, Seebrücke

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Ostseebad Heringsdorf, Strandleben

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Bademode um 1900 am Ostseestrand

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Badenixe um 1900

Badenixe um 1900

Badefreuden um 1890

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Bademode und Bakarren um 1900

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Sommerzeit ist Badezeit

Sommerzeit ist Badezeit

Badenixe 1930

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Zeit für eine Bootspartie

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Ein Strandburgen-Baumeister

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Strandspaziergang

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In der Saison wird jede Hand gebraucht

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